von Gunilla Fincke
Deutschland ist Migrationsland. Zu- und Abwanderung halten sich die Waage. Während Faktizität und normative Wünschbarkeit von Einwanderung in Deutschland nach vielen Jahren der aufgeregten Diskussion langsam akzeptiert sind, gerät darüber die Abwanderung aus Deutschland aus dem Blick.
Migrationsland Deutschland: Auf dem Weg zur Nettonullzuwanderung
Seit vielen Jahren schon übertrifft die Abwanderung von Deutschen – ausgenommen der (Spät-) Aussiedler - die Zahl der Rückwanderer. Diese negative Wanderungsbilanz konnte durch positive Wanderungssalden bei ausländischen Staatsangehörigen ausgeglichen werden, allerdings in immer geringerem Umfang. Deutschland befindet sich auf dem Weg zur Nettonullzuwanderung. Bei aller Vorsicht in der Interpretation der Daten für das Jahr 2008, die erstmals ein negatives Wanderungssaldo für Deutschland zeigten, ist klar, dass Fort- und Zuzüge nach Deutschland sich ungefähr die Waage halten. Damit ist die Bundesrepublik weit entfernt von den immer noch geltenden Annahmen einer Netto-Zuwanderung in der Größenordnung von 100.000 Personen pro Jahr. (s. demografische Prognose des Statistischen Bundesamts 2009).
Während sich durch Zuwanderung nie der demografische Wandel in Deutschland abwenden ließ, kann sie bei dieser ‚Nullnummer‘ auch keinen moderierender Einfluss mehr entfalten.
Zu- und Fortzüge deutscher Staatsangehöriger (ohne Spät-/ Aussiedler) 1994-2008
Quelle: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen
Zu- und Fortzüge von Ausländern 1994-2008
Quelle: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen
Qualifikationsstruktur der Zuwandererbevölkerung
Zu dem quantitativen Problem tritt ein Qualitatives: Während abwandernde deutsche Staatsangehörige mehrheitlich überdurchschnittlich qualifiziert sind, sind die ausländischen Zuwanderer noch immer schlechter als der deutsche Durchschnitt qualifiziert. Dies wirkt sich auf die in Deutschland lebende Bevölkerung mit Migrationshintergrund aus. Die OECD hat festgestellt, dass nur in wenigen Ländern im Ausland geborene Personen über ein schlechteres Qualifikationsniveau verfügen als in Deutschland: Lediglich in Österreich und in Italien ist der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner mit tertiärer Ausbildung geringer.
Ausbildungslevel der im Ausland geborenen Bevölkerung
Quelle: OECD: A Profile of Immigrant Populations in the 21st Century: Data von OECD-Countries, 2008
Migrationssteuerung in Deutschland
Diese im OECD Vergleich schlechte Qualifikationsstruktur der Zuwandererbevölkerung ist auf die Geschichte der Gastarbeiteranwerbung zurückzuführen und den nach dem Anwerbestopp 1973 dominanten Familiennachzug. Durch den Anwerbestopp kam der Zuzug ausländischer Arbeitskräfte weitestgehend zum Erliegen und ein restriktives Regime der Arbeitsmigration begann. Mit dem Zuwanderungsgesetz unter Rot-Grün erfolgte eine konzeptuelle Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für hochqualifizierte Zuwanderer mit einem Jahresbruttogehalt von zurzeit 64.800 Euro und für ausländische Unternehmer, die eine Investition von mindestens 250.000 Euro tätigen und fünf neue Arbeitsplätze schaffen (§19 und §21 AufenthG). Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit wurden in Deutschland zudem durch eine Reihe von Verordnungen - zuletzt zum Januar 2009 - Löcher in das restriktive Migrationsregime gebohrt.
So können heute Akademiker aus den neuen Mitgliedsstaaten der EU in Deutschland arbeiten, ausländische Absolventen deutscher Hochschulen haben ein Jahr Zeit, um eine angemessene Tätigkeit in Deutschland zu finden und Akademiker aus Drittstaaten, d.h. Nicht-EU-Staaten, können nach Vorrangprüfung zur Arbeitsaufnahme kommen. Insgesamt umfasste der vielfältige Zuzug unter § 18 AufenthG knapp 30.000 Personen im Jahr 2008. Das deutsche Zuwanderungsrecht stellt sich damit insgesamt als komplexes Gefüge von Verordnungen, Ausnahmeregelungen, Erweiterungen und Ausführungsbestimmungen dar.
Standortfaktor Deutschland und die Adjustierung der Migrationssteuerung
Neben der Unübersichtlichkeit und der über lange Jahre restriktiven und unterschiedlichen Handhabung dieser einheitlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern und Kommunen hängt der geringe Zuzug aber auch mit Standortfaktoren zusammen. Während das Gesundheits- und Sozialsystem, individuelle Freiheitsrechte und die öffentliche Sicherheit als positiv erlebt werden, zählen zu den Nachteilen die immer noch nur beginnende interkulturelle Öffnung der Gesellschaft, ein starrer deutscher Arbeitsmarkt, der für Ehe- und Lebenspartner eine Arbeitsaufnahme erschwert, fehlende Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, aber auch die v.a. im Ausland wahrgenommene mangelnde Dynamik der deutschen Gesellschaft sowie geringere Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten.
Zudem ist Deutsch im Vergleich zu Englisch eine zusätzliche Hürde für die meisten Angehörigen einer global mobilen Elite. Im Ergebnis führt dies dazu, dass Hochqualifizierte nicht selten einen Bogen um Deutschland machen wie eine Studie (Cohen/Haberfeld/Kogan 2008) für die Gruppe russischer Juden zeigte: Jüngere und Hochqualifizierte wanderten eher in die USA als nach Deutschland und Israel aus, ältere und damit Transferabhängigere eher nach Deutschland.
Neben einer Verbesserung der Standortfaktoren sollte die Bundesrepublik auch bei der Steuerung nachjustieren. Hier müssen neben einem langfristig wirkenden Punktesystem mit einer ‚Arbeitsmarkterdung‘ durch eine Engpassdiagnose auch Formen der Akutsteuerung beispielsweise durch die vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen vorgeschlagene Migrationsabgabe gefunden werden. Bei der Migrationsabgabe können Arbeitgeber ausländische Arbeitskräfte sofort zum branchenüblichen Tarif einstellen, wenn sie im Gegenzug eine Abgabe von ca. 20% des Jahresbruttolohns an einen Fonds zur Qualifizierung von in Deutschland lebenden Arbeitskräften entrichten.
Politische Notwendigkeiten und die Hoffnung auf zirkuläre Migration
Während also Deutschland mehr qualifizierte Zuwanderung benötigt, die öffentliche Unterstützung für eine vergrößerte Zuwanderung jedoch gering ausfällt, können die meisten Entwicklungsländer nicht allen qualifizierten Arbeitskräften eine Beschäftigung bieten. Der Traum von einem besseren Leben veranlasst z.B. junge Afrikaner dazu, gefährliche Überfahrten nach Europa inklusive der Kanarischen Inseln zu riskieren. Ungefähr 450 Personen kamen dabei allein im Mittelmeerraum in der ersten Jahreshälfte 2009 ums Leben.
Aus einer solch geteilten Interessenlage heraus und mit Blick auf das aus demografischen Gründen schwindende Zuwanderungspotenzial aus Osteuropa gewinnt das Konzept zirkulärer Migration seit einigen Jahren an Bedeutung. Unter zirkulärer Migration ist jede Form temporärer Wanderung aus einem Herkunfts- in ein Aufnahmeland meist zu Arbeits- oder Ausbildungszwecken zu verstehen, die von vornherein die Rückkehr ins Herkunftsland einplant. Der zeitliche Rahmen der Wanderung kann zwischen mehreren Wochen und Jahren liegen. Auch kann zirkuläre Migration ein wiederholtes Hin- und Herwandern zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland umfassen.
Aus deutscher Sicht ist zirkuläre Migration attraktiv, da man sich erhofft, Zuwanderer unterschiedlicher Qualifikationsniveaus rekrutieren zu können, um damit in allen Segmenten des Arbeitsmarkts einen eventuellen Arbeitskräftebedarf abzudecken. Zirkuläre Migration gilt mithin als Instrument, mit dem flexibel und kurzfristig auf Änderungen am Arbeitsmarkt eingegangen werden kann. Auch sollen der temporäre Charakter der Migration und die mittelfristige Rückkehr der ZuwandererInnen die Akzeptanz solcher Maßnahmen bei der Mehrheitsgesellschaft erhöhen.
Auf der anderen Seite werden mit dem Konzept zirkuläre Migration entwicklungspolitische Ziele verbunden. Es kann durch die Eröffnung einer legalen Migrationsoption genutzt werden, um die Abschottung der europäischen Außengrenzen gegenüber niedrig- und mittelqualifizierter Zuwanderern moralisch zu rechtfertigen. Gemäß dieser Argumentation sind risikoreiche illegale Grenzübertritte gegenüber einer legalen Zuzugsmöglichkeit unnötig. Wer dennoch illegal einzureisen versucht, hält sich nicht an die Spielregeln und müsste der Fairness halber den Anderen gegenüber am Grenzübertritt gehindert werden.
Europäische Initiativen zu zirkulärer Migration noch in Kinderschuhen
Auf europäischer Ebene wurde der Begriff ‚zirkuläre Migration‘ erstmals 2005 in einer Mitteilung der EU-Kommission zu Migration und Entwicklung verwandt. Angedacht wird die mehrfache Hin- und Rückwanderung von Personen aus Entwicklungsländern sowie von dauerhaft in der EU lebenden Drittstaatsangehörigen, die zeitlich befristet in ihr Herkunftsland zurückkehren würden. Durch Mehrfachwanderungen soll der Wissenstransfer gestärkt werden.
Der Europäische Rat bestätigt im Dezember 2005 in seinem „Global Approach to Migration“ die Richtung dieses Vorschlags und ein Jahr später legten der deutsche und der französische Innenminister eine Initiative vor, welche zirkuläre Migration v.a. als neues Instrument zur Bekämpfung irregulärer Zuwanderung betrachtet. Mit der Mitteilung „Zirkuläre Migration und Mobilitätspartnerschaften zwischen der Europäischen Union und Drittstaaten“ vom Juni 2007 versucht die Kommission, das Konzept zu konkretisieren und den Mitgliedsstaaten verschiedene Möglichkeiten, mit Hilfe konkreter Pilotprojekte, vorzuschlagen:
So soll Personen aus Drittstaaten die Möglichkeit gegeben werden, zu Arbeits- oder Ausbildungszwecken oder einer Kombination aus Beidem in die EU einzureisen und sich für einen befristeten Zeitraum in ihr aufzuhalten. Bedingung dafür ist, dass sie anschließend in ihr Herkunftsland zurückkehren. Die EU-Kommission empfiehlt, diesen Personen bevorzugt erneute Zuwanderungsmöglichkeiten zu gewähren (z.B. durch Verfahren für Mehrfacheinreise), so dass sich ein häufigeres Hin- und Herwandern entwickeln kann.
Als zweites Standbein sieht die EU-Kommission Erleichterungen für in der EU ansässige Drittstaatsangehörige vor, um während eines befristeten Zeitraums in das jeweilige Herkunftsland zurückzukehren (z.B. zum Zwecke der Unternehmensgründung, zum Freiwilligendienst). Hierfür müssten die bestehenden Regelungen so geändert werden, dass nicht länger, wie bisher, die Aufenthaltsgenehmigungen dieser Personen nach Abwesenheiten von über 12 Monaten ablaufen.
Seitdem haben u.a. Spanien und Italien Programme der zirkulären Migration eingeführt und die EU hat Mobilitätspartnerschaften mit Moldawien und den Kapverdischen Inseln (2008) sowie Georgien (2009) abgeschlossen, konkrete Erfahrungen liegen hierzu noch nicht vor. Das Stockholmer Programm vom Dezember 2009 bringt keine signifikanten Neuerungen. Der Rat beauftragte jedoch die Kommission, bis 2012 Vorschläge vorzulegen, wie die Diaspora in Europa besser in entwicklungspolitische Ziele eingebunden und unter welchen Bedingungen die Rückkehrbereitschaft von zirkulären Migranten erhöht werden kann.
Gemischte Bilanz
Die Vorschläge zur zirkulären Migration fassen derzeit sehr unterschiedliche Zielgruppen von Zuwanderern gleichberechtigt ins Auge. Während für Saisonarbeiter eine reibungslose Pendelmigration zu erwarten ist und für mittlere Qualifikationsgruppen ebenfalls sinnvolle Programme möglich sind, werden Programme für Hochqualifizierte nur in wenigen Fällen für alle drei Seiten (Herkunfts- und Aufnahmeland sowie individueller Zuwanderer) gewinnbringend zu gestalten sein. Für Hochqualifizierte ist wegen der hohen Investitionskosten des Arbeitgebers zirkuläre Migration dagegen v.a. dann interessant, wenn die Arbeitstätigkeit eine Trainingskomponente enthält.
Sehr unterschiedliche Ideen und Handhabungen kursieren zur Länge des Aufenthalts, von wenigen Monaten bis zu fünf Jahren gehen die Vorschläge. Von allen betont wird hingegen, dass eine frühzeitig zugesicherte Möglichkeit von Mehrfachaufenthalten im Aufnahmeland die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr nach jedem einzelnen Aufenthalt erhöht. Zudem soll die Rückkehrwahrscheinlichkeit durch Abkommen mit den Herkunftsländern gesichert werden sowie durch das Zurücklassen von Familienangehörigen im Herkunftsland.
Dennoch: Rückkehr aus demokratischen Staaten gegen den Willen der betreffenden Person kann kaum oder nur zu hohen (politischen) Kosten erzwungen werden. Zumal sich in den letzten Jahren das Migrationsrecht in den europäischen Staaten subjektiviert und menschenrechtlichen Belangen Einzelner bei der staatlichen Entscheidung über Ein- und Ausreise ein größerer Raum gegeben wird. Ein längerer Aufenthalt führt dementsprechend schnell zu einer Verwurzelung und damit zum Ausweisungsschutz.
Auch entwicklungspolitisch fällt die Bewertung eher gemischt aus: Zwar kann durch zirkuläre Migration der Umfang der Rücküberweisungen erhöht werden und die (temporäre) Abwanderung von Fachkräften ist in den Fällen unproblematisch, in denen diese Kräfte gar nicht qualifikationsadäquat eingesetzt worden wären. Dann gilt: „Better a brain drain than a brain in the drain“. Auf der anderen Seite fällt aber auch der mögliche Gewinn durch Innovationstransfers beschränkt aus, wenn die Programme der zirkulären Migration v.a. zur Deckung des niedrig- und mittelqualifizierten Arbeitskräftebedarfs in den europäischen Staaten angelegt sind.
Was ist also zu tun?
Zirkuläre Migration wird nicht selten als migrationspolitisches Allheilmittel dargestellt. Das ist sie nicht. Denn die Vorstellungen über ihren Zweck sind zu inkompatibel: Werden die entwicklungspolitischen Ziele ernst genommen, müsste der Wissenstransfer durch Trainings befördert werden. Steht hingegen die Deckung des Arbeitskräftebedarfs in Deutschland im Vordergrund, führt umfangreiche Fortbildung nur zu unnötigen Kosten und es werden möglichst lange Aufenthalte gewünscht. Nach fünf Jahren Aufenthalt aber stellt sich die Frage der Rückkehrbereitschaft umso dringlicher. Was, wenn diese fehlt? Werden die eben noch willkommenen Arbeitskräfte dann als unerwünscht abgeschoben?
Doch einige Rahmenbedingungen können schon geändert werden, um das Funktionieren von zirkulärer Migration wahrscheinlicher zu machen:
- Mehrfachwanderung von vornherein zusichern: Je näher Herkunfts- und Aufnahmeland liegen, je kürzer die Aufenthalte und je häufiger hin- und hergewandert wird, umso wahrscheinlicher lässt sich Pendeln über längere Zeiträume aufrecht erhalten.
- Widersprüchliche Anforderungen in unterschiedlichen Programmtypen aufgreifen: Neben einer Migrationsschiene, die vornehmlich der Erwerbstätigkeit im Aufnahmeland dient, sollte eine andere mit dem Schwerpunkt auf Training entwickelt werden. Bei beiden jedoch muss der Erwerb von Deutschkenntnissen verpflichtend und der Kontakt mit der Mehrheitsbevölkerung gewünscht sein, um die Fehler der Gastarbeiteranwerbung zu vermeiden.
- Dauerhafte Zuwanderung von vornherein einrechnen: Ein Teil der Zuwanderer in einem Regime zirkulärer Migration wird immer in Deutschland bleiben. Statt dies als Problem zu begreifen, sollte diese Möglichkeit von Anfang an eingerechnet und als Migrationssteuerung mit ins Aufnahmeland verlagerter Selektion gestaltet werden. In einem solchen Fall könnten besonders benötigte Fachkräfte, die schon in Deutschland sind und ihre Passfähigkeit am deutschen Arbeitsmarkt bewiesen haben, die Berechtigung zum Daueraufenthalt erwerben.
Zusätzlich bleiben die oben angesprochenen Maßnahmen gegen Standort- und Steuerungsprobleme relevant: Zirkuläre Migration darf nicht gegen eine verbesserte und v.a. transparentere Steuerung ausgespielt werden noch gegen nötige Reformen in Deutschland, um das Land für hochqualifizierte Zuwanderer attraktiv zu machen (z.B. interkulturelle Öffnung).
Dennoch bleibt zirkuläre Migration v.a. mit Blick auf die ebenfalls nicht perfekten Alternativen eine große Chance. Migration ist an sich ein risikobehaftetes Unterfangen, das insbesondere für die Migranten mit vielen individuellen Härten verbunden ist. Zirkuläre Migration ist der Versuch, Win-Win-Situationen für alle zu schaffen, bis es soweit kommt, muss noch viel passieren.
Dr. Gunilla Fincke ist Geschäftsführerin beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Dieser Text gibt ihre persönliche Meinung wieder.