von Anastasia Triantafillaki und Daniel Grinsted
Dort, wo die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland verläuft, ist das Haupteinfallstor für illegale Immigranten in die EU. Doch wer interessiert sich für das Drama, das sich hier abspielt?
Hier entscheiden sich Schicksale. Ob Menschen leben, sterben oder in einem ausweglosen Zwischenzustand gefangen bleiben. Für zahlreiche Flüchtlinge aus Afrika und Asien ist die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei das Hindernis, das es zu überwinden gilt. Das sie von der Chance auf eine bessere Zukunft trennt. Für diesen Traum setzen sie ihr Leben aufs Spiel, nehmen jahrelange Odysseen auf sich und zahlen Menschenschmugglern ein Vermögen. Doch anstelle eines Lebens in Frieden und Sicherheit erwartet die meisten ein Albtraum.
Wir befinden uns in Thrakien, im äußersten Nordosten von Griechenland. Von der holprigen Europastraße nahe der Stadt Soufli ist die Türkei nur hundert Meter entfernt. Dazwischen liegen Eisenbahnschienen und ein Fluss, der auf dieser Seite Evros heißt und auf der anderen Meriç. Aus Bulgarien kommend, schlängelt er sich vorbei an der türkischen Großstadt Edirne, bis er zweihundert Kilometer weiter südlich bei Alexandroupoli ins Ägäische Meer mündet. Felder mit Baumwolle, Weizen und Zuckerrüben erstrecken sich hinter den dicht bewachsenen, sumpfigen Ufern.
Foto: Daniel Grinsted
Menschenverachtende Zustände: In Fylakio sind etwa 600 Menschen zusammengepfercht
Der Evros trennt nicht nur zwei Staaten voneinander, sondern auch die Festung Europa vom Rest der Welt. Allein im vergangenen Jahr überquerten mehr als 47.000 Menschen diese Grenze - neunzig Prozent aller Flüchtlinge, die in die EU kamen. Viele schaffen es gar nicht, sie ertrinken in den gefährlichen Strömungen des Evros oder erfrieren in den feuchtkalten Winternächten. An einem kurzen Abschnitt zwischen Nea Vyssa und Kastanies wird die Grenze nicht vom Fluss gebildet, sondern verläuft über Land. Um die Migrationsströme einzudämmen, soll hier in den nächsten Wochen ein gesicherter Sperrzaun errichtet werden.
Von der alten Seidenstadt Soufli fahren wir auf einer einsamen Landstraße Richtung Westen, hinauf ins Rhodopen-Gebirge. Nach zwanzig Kilometern taucht die weiße Moschee von Sidiro auf, ihr Minarett glänzt in der Sonne. Der Imam des Dorfes begrüßt uns auf Griechisch und ruft dann durch die Lautsprecher zum Gebet. Seine Stimme verhallt in den Bergen, die den Ort wie ein grüner Tellerrand umschließen. Zwölf Kilometer weiter beginnt bereits Bulgarien. In Sichtweite der Moschee, auf einem Hügel tausend Meter außerhalb, befindet sich ein eingezäuntes Areal mit einem großen Tor. Hier werden die Flüchtlinge begraben, die tot aus den Fluten des Evros gezogen werden. Seit zehn Jahren bestattet der Mufti von Didymoticho, Mehmet Serif Damatoglu, die Unbekannten hier nach islamischem Ritual, in Leinentüchern, mit dem Gesicht nach Mekka. 150 Menschen liegen hier inzwischen. Die Gräber sind schlichte Erdhaufen, in langer Reihe aufgeschüttet. Ihr Ziel Europa haben diese Menschen nicht lebend erreicht.
Das Gebiet liegt näher an Bagdad als an Brüssel
Gut sechzig Kilometer entfernt, Richtung Nordosten, befindet sich Orestiada. Wie ein langgezogenes Schachbrett liegt die nördlichste und jüngste Stadt Griechenlands zwischen Mais- und Kartoffelfeldern. Die Geschichte von Orestiada ist eng mit Flüchtlingsbewegungen verknüpft. Die meisten Einwohner sind Nachkommen von neunhundert christlichen Familien, die nach dem Griechisch-Türkischen Krieg im Sommer 1923 ihre Heimat verlassen mussten: Karaagaç, einen Vorort der seit jeher heiß umkämpften Stadt Edirne, die von den Griechen bis heute Adrianoupoli genannt wird. Im Friedensvertrag von Lausanne war der Türkei ein Landstrich südwestlich von Edirne als eine Art Brückenkopf zugestanden worden, damit die Grenze zum Königreich Griechenland nicht unmittelbar am Stadtrand verlief. Das hatte einen wirtschaftlichen Vorteil: Karaagaç und sein prächtiger Bahnhof, an dem der Orientexpress hielt, lagen nun auf türkischem Staatsgebiet. Durch den Exodus aber wurde aus der weltoffenen, lebendigen Stadt ein Vierhundert-Seelen-Dorf. Und dort verlaufen jene zwölfeinhalb Kilometer Grenze, die nicht vom Evros gebildet werden.
Täglich nutzen hier bis zu 350 Flüchtlinge die Möglichkeit, trockenen Fußes in die Europäische Union zu gelangen. „Pérasma“ nennen die Bewohner der Region dieses Nadelöhr, zu Deutsch: Durchgang. Alle zwei Kilometer stehen Wachtürme auf beiden Seiten. Manchmal liegen zwischen griechischen und türkischen Posten nur hundert Meter. Seitdem es nahezu unmöglich geworden ist, über Spanien, Italien oder die Ägäis in die EU zu kommen, haben Schleuserbanden im vergangenen Jahr verstärkt diese Landroute ins Visier genommen. Der Rest des Kontinents kriegt von dieser Entwicklung wenig mit: Die Problematik ist aufgrund der geographischen Position - das Gebiet liegt näher an Bagdad als an Brüssel - auch im Bewusstsein vieler Europäer bloß eine Randerscheinung.
Je höher die Zäune, desto größer die Profite
Gegenwärtig ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex mit 173 Polizisten und elf Dolmetschern hier im Einsatz. Koordiniert wird die „Operation Poseidon Land“ aus einer Zentrale im ersten Stock der Polizeidirektion von Orestiada, wo die Agenten mit Laptops um zusammengerückte Tische sitzen. Viereinhalb Kilometer südlich der Stelle, wo der neue Sperrzaun errichtet werden soll, liegt das Kaffeehaus des Dorfes Nea Vyssa. Die Bewohner haben sich an den Anblick der Flüchtlinge längst gewöhnt. Jeden Tag sehe man sie, meint die Inhaberin, vor allem junge Männer. In den Wintermonaten kämen sie herein und wärmten sich am Holzofen, der zwischen den Tischen steht. Es ist nicht zuletzt die Erinnerung an das eigene Schicksal, das die Bewohner Mitleid mit den Migranten haben lässt: Auch Nea Vyssa wurde vor nicht einmal neunzig Jahren von Flüchtlingen gegründet.
Das Dorfleben geht derweil seinen gewohnten Gang: Ein kaputter Wasserhahn sorgt an diesem Abend für Gesprächsstoff unter den Rentnern, im Fernsehen läuft eine Sendung über den Eurovision Song Contest. Die Gäste trinken Tee und griechischen Kaffee, spielen Karten oder Tavli. Touristen verirren sich nur selten in diese Gegend - der nächste internationale Flughafen des Landes ist in Thessaloniki, fünf Autostunden entfernt. Die Menschen leben vom Spargelanbau oder arbeiten beim Militär. Traktoren, Pick-ups und Armeefahrzeuge prägen das Straßenbild. Auf den hölzernen Strommasten nisten Störche, streunende Hunde laufen kläffend den Autos hinterher. Die meisten der Bewohner seien gegen den geplanten Zaun, so die Besitzerin des Kaffeehauses, er bringe sowieso nichts. Die einzigen Profiteure seien die Menschenschmuggler: je höher die Zäune, desto größer die Profite. Und desto mehr Banden, die sich am Leid der Flüchtlinge bereichern wollen.
Das EU-finanzierte Fylakio gilt als Vorzeigeobjekt
Wir nehmen den umgekehrten Weg, gehen zu Fuß von Nea Vyssa Richtung Norden und versuchen, so nah wie möglich an die Grenze heranzukommen. Aus der Eisenbahnstrecke, die bis in die siebziger Jahre von hier in die Türkei führte, ist ein staubiger Feldweg geworden. Es herrscht vollständige Stille, nur unterbrochen von einem Jeep mit Soldaten, die zu den Wachtürmen unterwegs sind und uns misstrauisch mustern. Etwa zweitausend Meter sind es noch bis zu der Stelle, wo der Zaun errichtet werden soll. Von einer Anhöhe aus hat man einen weiten Blick über das Sperrgebiet. Näher heran dürfen nur Militärs und Bauern, die hier ihre Felder bestellen. Zehn Kilometer Richtung Norden erheben sich die Minarette der prachtvollen Selimiye-Moschee von Edirne, der alten Hauptstadt des Osmanischen Reiches.
Für die Flüchtlinge, die es über die Grenze nach Griechenland schaffen, heißt die nächste Station Fylakio. Es ist das größte der vier Auffanglager und liegt fünfzehn Kilometer südlich des Dreiländerecks Bulgarien, Griechenland und Türkei. Während die Lager in den Orten Tychero, Feres und Soufli behelfsmäßig in Polizeistationen eingerichtet sind, gilt das EU-finanzierte Fylakio als Vorzeigeobjekt. Von Nea Vyssa führt eine Landstraße dorthin, vorbei an verschlafenen Dörfern und großflächigen Kasernen, auf deren Gelände Panzer und Kettentraktoren stehen. Vereinzelt liegen Matratzen am Straßenrand.
Das Gelände wirkt wie eine Haftanstalt
Zwischen den Ortschaften Neochori und Valtos begegnet uns eine Gruppe von Flüchtlingen, die kurz zuvor aus dem Auffanglager in Fylakio entlassen wurden: eine junge Frau aus Eritrea und vier afghanische Männer, die sich zu Fuß und per Bus von ihrer Heimat bis an die griechisch-türkische Grenze durchgeschlagen haben. Im Schutz der Nacht hatten sie die Brücke zwischen Edirne und Karaagaç überquert. Die türkischen Grenzpolizisten würden gerade schlafen, haben ihnen die Schleuser gesagt. Drei Tage lang wurden sie in Fylakio festgehalten, sie berichten von katastrophalen Verhältnissen. Wie für die meisten Flüchtlinge stellt das hochverschuldete Griechenland auch für sie nur ein Transitland dar - ihre Ziele sind Großbritannien und Norwegen, wo sie auf Arbeit hoffen. Doch zunächst wartet auf sie ein viereinhalbstündiger Fußmarsch bis zum Bahnhof von Orestiada. Von dort wollen sie mit dem Zug ins knapp tausend Kilometer entfernte Athen.
Das im Mai 2007 eröffnete Lager befindet sich hinter einer Hügelkette, direkt an einem Bewässerungskanal. Am Horizont sind im Dunst die Berge Bulgariens zu erkennen. Das Gelände ist etwas größer als ein Fußballplatz und wirkt wie eine Haftanstalt: doppelter Stacheldrahtzaun, vergitterte Fenster, Wachtürme mit Scheinwerfern, ramponierte Basketballkörbe. Außerdem drei Lastwagen mit den unregistrierten Habseligkeiten der Migranten sowie ein Zelt und ein Containergebäude von Frontex. Unmittelbar daneben hat sich eine grünliche Kloake gebildet, die bei diesen Temperaturen zugefroren ist.
Im Lager herrscht nackte Verzweiflung
Es herrscht angespannte Wartestimmung. Die meisten Flüchtlinge schliefen noch, erklärt uns ein griechischer Grenzpolizist, der mit sieben weiteren Beamten Wache hält. „Der geplante Zaun ist keine Lösung“, sagt er, „doch schaden wird er auch nicht.“ Wie Deutschland wohl angesichts solch eines Migrationsdrucks reagieren würde, möchte er von uns wissen. Der Zutritt zum Lager ist für Journalisten streng verboten. Als Insassen uns bemerken, winken sie durch die Gitterstäbe, an denen T-Shirts und Schuhe hängen. Einer hält ein Pappschild heraus, mit einer griechischen Handynummer. Knapp sechshundert Menschen werden derzeit in Fylakio festgehalten, zuweilen waren es noch mehr. Die maximale Aufnahmekapazität liegt bei zweihundert.
Das hellgelbe Gebäude mit dem rotem Ziegeldach, in dem manche Insassen bis zu sechs Monate verbringen müssen, hat eine Grundfläche von 1500 Quadratmetern inklusive Verwaltungsräumen. Hofgang ist aus Sicherheitsgründen nicht gestattet. Laut Augenzeugenberichten von Pro Asyl und Ärzte ohne Grenzen herrscht im Lager nackte Verzweiflung. Achtzig Menschen sind pausenlos in einer Zelle zusammengepfercht - Männer, Frauen und Kinder. Viele der Minderjährigen sind ohne Begleitung und sich selbst überlassen. Ein Großteil muss im Sitzen oder auf dem Boden schlafen, über den manchmal das Abwasser aus den Toiletten läuft. Die Heizung funktioniert nur selten, warmes Wasser gibt es nicht. Da für die Minderjährigen erst Plätze in Kinderheimen gefunden werden müssen, sind diese gezwungen, am längsten im Lager zu bleiben.
Viele werden Opfer von Zwangsprostitution und Ausbeutung
Über ihre Rechte werden die Immigranten nicht informiert. Einen Asylantrag zu stellen ist so gut wie unmöglich. Und selbst wenn es gelingt: In den Behörden der Hauptstadt haben sich inzwischen 46 000 unbearbeitete Anträge angesammelt. Wieder in Freiheit, werden die Flüchtlinge ein Papier in Händen halten, das sie auffordert, Griechenland binnen dreißig Tagen zu verlassen. Aber wohin sollen sie gehen? Sie können weder vor noch zurück. Viele erwartet stattdessen ein Leben auf den Straßen von Athen, wo sie Opfer von Zwangsprostitution, Ausbeutung und rechtsradikalen Schlägertrupps werden. Was sagt es über Europa aus, wenn es solch eine humanitäre Katastrophe auf seinem Gebiet toleriert?
In Fylakio liegt die Temperatur knapp unterhalb des Gefrierpunkts, doch hier auf dem flachen Land fühlt es sich noch viel kälter an. Im Hof warten zehn junge Männer schon seit mehr als einer Stunde auf ihre Entlassung. Sie kommen aus Afghanistan, Bangladesch, Mauretanien, dem Sudan. Die wenigsten tragen Socken, viele haben ihre Pullover um die nackten Füße gewickelt. Das Schiebetor steht offen, ein Frontex-Mitarbeiter möchte mit seinem Wagen aufs Gelände. In der Mitte der Einfahrt steht ein Leitkegel. Der zuständige Grenzpolizist telefoniert im nahen Wachhäuschen mit seinem Kollegen. Der Mann im Auto wartet. Einer der Flüchtlinge geht ein paar Schritte vor und nimmt den Leitkegel zur Seite, so dass der Grenzbeamte hineinfahren kann. Dieser bedankt sich mit einer Geste, der Flüchtling erwidert die Handbewegung. Anschließend stellt er den Kegel wieder an seinen Platz. Für einen kurzen Augenblick war der junge Mann kein Flüchtling mehr.
Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht in der F.A.Z.
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Anastasia Triantafillaki arbeitet als Literaturwissenschaftlerin, freie Autorin und Dozentin in Berlin. Daniel Grinsted ist Kulturwissenschaftler und Anglist/Amerikanist und arbeitet als freier Journalist in Berlin.