Zahnloser Tiger: Der Jugendintegrationsgipfel im Bundeskanzleramt

von Anne Köhler

Eine kleine Frau betritt den Raum, strebt zielsicher auf eine junge Frau mit Kopftuch zu, schüttelt ihr die Hände. Ein paar Tische weiter erblickt sie einen jungen Mann. Sie ruft ihn beim Vornamen, strahlt: „Schön, Sie wiederzusehen!“ und begrüßt ihn dabei so herzlich, als wäre der Anlass der Zusammenkunft ein Klassentreffen. Ist es aber nicht. Bei der kleinen, freundlichen Frau handelt es sich um die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer.

Etwa 80 Jugendliche hat die Staatsministerin ins Bundeskanzleramt eingeladen, um auf einem eintägigen Gipfel über die Weiterentwicklung des Nationalen Integrationsplans (NIP) zu sprechen. Wenig später stößt auch die Kanzlerin dazu. Fast unbemerkt geht sie durch die Reihen – wäre da nicht das Blitzlichtgewitter der Fotografen, die für ein paar Minuten die Vertrautheit des Jugendintegrationsgipfels stören dürfen. Auch Angela Merkel schüttelt ein paar Hände, nimmt dann aber schnell Platz und kommt zur Sache. Fast scheint es, als würde sie mit ihrem Interesse für die Sachfragen vom Rummel um ihre Person ablenken wollen.

Der bisherige Prozess
Schon vor einem Jahr hatten Angela Merkel und Maria Böhmer 80 Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet zum 1. Jugendintegrationsgipfel nach Berlin eingeladen. Schülerinnen und Schüler, Auszubildende und Studierende diskutierten am 7. und 8. Mai 2007 zunächst in drei Workshops und später mit der Kanzlerin und der Integrationsbeauftragten verschiedene Aspekte der Integrationspolitik, über die zehn Arbeitsgruppen bereits seit dem ersten Nationalen Integrationsgipfel im Juli 2006 Vorschläge erarbeiteten.

MigrantInnengruppen, Wirtschaft und Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Wohlfahrtsverbände, WissenschaftlerInnen, Kulturschaffende und MedienvertreterInnen hatten unter der Leitung der zuständigen Bundesministerien, von Staatsminister Bernd Neumann und Staatsministerin Maria Böhmer Vorschläge erarbeitet, auf deren Basis schließlich der NIP erstellt wurde. Ein Jahr nach diesem Gipfel wurde im Juli 2007das Produkt der Beratungen, der Nationale Integrationsplan (NIP), von der Bundesregierung veröffentlicht.

Wer war beteiligt?
Jugendliche gelten als eine der Kernzielgruppen der integrationspolitischen Maßnahmen. Dafür erscheint der Zeitpunkt, zu dem sie erstmals um ihre Meinung gebeten wurden, recht spät. Um so bedachter war die Auswahl der jungen Leute, die ihre Ideen zum NIP äußern durften: Kaum jemand wurde eingeladen, der oder die nicht in einem Verein, einer Jugendredaktion oder einer Schülervertretung aktiv ist. Interessierte und engagierte Jugendliche trafen da aufeinander, etwa die Hälfte von ihnen mit Migrationshintergrund.

Ähnlich war die Besetzung der Jugendlichen auf dem 2. Jugendintegrationsgipfel am 5. Mai 2008. Ein großer Teil der jungen Leute war bereits 2007 dabei gewesen, etwa ein Drittel neu hinzugekommen. Die meisten von ihnen sahen das Bundeskanzleramt nicht zum ersten Mal von innen, hatten beispielsweise schon an der Diskussionsveranstaltung

 Bild entfernt.
Gruppenphoto vom Jugendintegratiosngipfel
mit der Bundeskanzlerin.


mit der Kanzlerin und dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan oder anderen Treffen zu migrations- und integrationspolitischen Fragen teilgenommen. Und so bemühten sich auch viele, den Stolz auf ihre Teilnahme am 2. Jugendintegrationsgipfel hinter einer gewissen Routine zu verstecken. Aufgeregt zeigten sich nur wenige der jungen Frauen und Männer. Die staatstragende Aura des Ortes schien sie erfasst zu haben.

Ungeachtet der Vertrautheit im persönlichen Umgang, die aus der Begrüßung der beiden Gastgeberinnen sprach, formulierten die jungen Leute ihre Botschaften an die „sehr geehrte Frau Professorin Maria Böhmer“ und die „sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin“ auffällig förmlich. Da klang erstmals an, dass hier keine „jungen Wilden“ saßen, keine Visionäre oder Rebellen, sondern Jugendliche, die ihre Rolle als politische BotschafterInnen der Jugend so verstanden, dass sie sich wie Erwachsene gaben. Was die Rhetorik angeht, hätten einige von ihnen ohne Schaden eine Rede vor dem Deutschen Bundestag überstanden. Aber eben nur in dieser Hinsicht – inhaltlich kamen die Forderungen eher blass daher. Die jungen Leute übertrugen das in der Politik der Bundesregierung allseits vorherrschende Prinzip des Förderns und Forderns auf sich und ihre Positionen.

Nach dem Motto „Wir wollen etwas – und dafür sind wir bereit, etwas zu geben“ hatten sie am Vormittag in den drei Arbeitsgruppen „Integration und Schule“, „Integration und Ausbildung“ sowie „Integration und Freizeit“ zunächst Problemfelder ausgemacht und dann Lösungsstrategien entwickelt.

Die Arbeitsgruppen wurden von den erwachsenen Expertinnen und Experten Dr. Ludwig Eckinger, Angela Kritter und Dr. Heiner Brandi sowie den Moderatorinnen und Moderatoren Sibel Balta, Dr. Cem Dalaman und Christian Stahl in den Konferenzräumen des Auswärtigen Amtes am Werderschen Markt betreut. Außerdem gab es in jeder Arbeitsgruppe Patinnen und Paten – Jugendliche, die die Diskussion aktiv begleiteten und später die Vorstellung der Arbeitsergebnisse im Kanzleramt übernahmen. In allen Gruppen sollte fair, aber frei gesprochen werden. Auch „unrealistische“ Forderungen waren ausdrücklich erwünscht.

Arbeitsgruppe „Integration und Schule“
Sehr real war dafür immerhin die Feststellung der Arbeitsgruppe „Integration und Schule“, dass von einer Chancengleichheit für schulpflichtige Jugendliche mit Migrationshintergrund nach wie vor keine Rede sein kann. Binnen fünf Jahren – so das Ziel der Arbeitsgruppe – soll sich das ändern. Nicht die Politik, sondern in erster Linie die Schülerinnen und Schüler, Eltern und das Lehrpersonal sollen dafür die Verantwortung tragen.

Erstaunt und fast ein wenig erleichtert wirkten Maria Böhmer und Angela Merkel ob dieser Aufgabenverteilung. Beide bemerkten zwar, wie wichtig die Bildungsqualität im schulischen Bereich für die Integration von Migrantinnen und Migranten sei, verwiesen jedoch auch sofort auf die Zuständigkeit der Länder. Immerhin versprachen sie, einige der Vorschläge in andere Gremien, etwa in die Kultusministerkonferenz, zu tragen und dort für deren Umsetzung zu werben.

So soll nach den Vorstellungen der Jugendlichen die Qualität an den Schulen durch Evaluationen, bei denen die Schülerinnen und Schüler die schulischen und außerschulischen Angebote bewerten, gesteigert werden. Auf diese Weise entstünde eine Art Wettbewerb zwischen den Schulen. Das käme nicht nur den zugewanderten Schülerinnen und Schülern, sondern allen zugute.

Die Arbeitsgruppe forderte außerdem eine Verbesserung der interkulturellen Kompetenz an Schulen. Lehrerinnen und Lehrer sollten bereits während ihrer Ausbildung mit migrations- und integrationspolitischen Fragen befasst werden. Als wünschenswert sah die Gruppe auch die gezielte Einstellung von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund an, die dann verstärkt die Funktion als Vertrauenslehrer übernehmen könnten. Die Herkunft der Schülerinnen und Schüler soll nicht länger als Problem, sondern als Chance für kulturelle Vielfalt angesehen und beispielsweise innerhalb von Projekttagen positiv thematisiert werden.

Der individuellen Förderung von Schülerinnen, Schülern und Eltern käme eine herausragende Bedeutung zu. Dreh- und Angelpunkt bleibe das Erlernen und Beherrschen der deutschen Sprache – und zwar zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Deshalb solle entweder bundesweit eine „Kindergartenpflicht“ oder ein letztes kostenloses Kita-Jahr eingeführt werden. Zweisprachigkeit ab der Grundschule müsse gefördert werden.

Wem das alles bekannt vorkam, hatte im letzten Jahr gut aufgepasst. Fast exakt die gleichen Forderungen standen auch schon im Ergebnis des 1. Jugendintegrationsgipfels, zum Teil sogar noch detaillierter und schärfer formuliert. Sowohl von zweisprachigen Schulen als auch von interkulturell kompetenten Lehrerinnen und Lehrern, von kostenloser Bildung in Kindergärten und Kinderkrippen, einer Kita-Pflicht und der These „Eltern haften für ihre Kinder“ war die Rede gewesen. Damit hatten die Jugendlichen gemeint, dass auch Eltern Deutsch lernen müssten und die Pflicht hätten, die Ausbildung ihrer Kinder aktiv zu begleiten.

Elternlotsen
Aber es gab in diesem Jahr auch Überlegungen, die den Stand von 2007 erweiterten. Über die Unterstützung beim Spracherwerb hinaus ging beispielsweise die Forderung nach der Einführung von sogenannten Elternlotsen, also Personen, die die zugewanderten Eltern besuchen oder in einer zentralen Anlaufstelle über das deutsche Schulsystem aufklären. Das sei dringend nötig, denn oft scheitere die Förderung der Kinder am Unwissen in den Familien, wussten die Jugendlichen zu berichten. So sei es kein Einzelfall, dass beispielsweise ein türkischer Vater seinen Sohn auf die Hauptschule schickt und gleichzeitig erwartet, dieser würde später Zahnarzt werden.

Die Idee der „Elternlotsen“ mag gut sein. Allerdings ist sie nicht auf dem Jugendintegrationsgipfel entstanden, sondern geht auf den Berliner Verein „Die DeuKische Generation“ zurück, der das Projekt nach eigenen Angaben sogar schon umsetzt. Die Lotsen sind in Deutschland geborene Jugendliche mit türkischen Wurzeln, die ehrenamtlich und eigenverantwortlich arbeiten. Dass das Konzept nun aber als Ergebnis des Jugendintegrationsgipfels öffentlich Verbreitung findet, ist so verwunderlich nicht, denn erstens ist Maria Böhmer Schirmherrin der „DeuKischen Generation“ und zweitens war die 19-jährige Vereinsvorsitzende Aylin Selcuk Teilnehmerin am Gipfel und sogar Patin der Arbeitsgruppe.

Mit der Einführung dieser Elternlotsen nimmt der Verein der Bundesregierung genau genommen eine Aufgabe ab, die im letzten Jahr von den Jugendlichen als Forderung formuliert worden war: Damals hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Idee, bundesweit eine Hotline oder Internetseite für ausländische Eltern einzurichten, um beispielsweise über die verschiedenen Schultypen zu informieren.

Sprache im Mittelpunkt
Trotzdem ist es nicht so, dass die Bundesregierung den Sprach- und Wissenserwerb der Migrantinnen und Migranten vernachlässigt. Zwar betonen Angela Merkel und Maria Böhmer, dass Integration nicht verordnet werden kann. Bei der Sprache machen sie jedoch eine Ausnahme:

- - Seit Anfang 2005 werden Integrationskurse mit einem 600-stündigen Deutschkurs angeboten. Für zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer ohne Deutschkenntnisse ist die Teilnahme verpflichtend.
- - Der Orientierungskurs, in dem Grundzüge der deutschen Rechtsordnung, Kultur und Geschichte vermittelt werden, ist im Zuge des Gipfelprozesses von 30 auf 45 Stunden erhöht worden.
- - Auch die Notwendigkeit einer frühkindlichen Sprachförderung wird anerkannt. Die Bundesregierung hatte sich im NIP nicht nur dazu verpflichtet, die Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren auszubauen, sondern auch Mittel für eine qualifizierte Kinderbetreuung im Rahmen der Integrationskurse ab 2008 zur Verfügung zu stellen.
- - Darüber hinaus sollte das ESF-Programm für sozial benachteiligte Familien mit 18 Millionen Euro ausgestattet werden. In den Bundesprogrammen „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“, „Lokale Bündnisse für Familien“ und „Mehrgenerationenhäuser“ sollte die Integration und Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund zum Handlungsschwerpunkt gemacht werden.

Junge Vorbilder
Die Arbeitsgruppe „Integration und Schule“ stellte als weiteres Gruppenergebnis den Wunsch nach mehr Vorbildern vor, um gegen die Perspektivlosigkeit der jungen Migrantinnen und Migranten anzutreten. Ehemalige Schülerinnen und Schüler sollten Patenschaften übernehmen und Jugendliche motivieren: „Sehr her, ich habe es geschafft – du kannst das auch!“ Generell sollten Mentoring-Programme an den Schulen eingeführt werden, mithilfe derer die Jugendlichen mit Migrationshintergrund Zukunftschancen kennenlernen und persönliche Orientierungshilfen bekommen. All diese Vorschläge setzen wiederum auf die Eigeninitiative der Migrantinnen und Migranten.

Demokratisierung der Schule durch mehr Mitspracherechte
Auch zur Forderung, dass die Schule nicht länger nur Ort des Lernens und der Leistung, sondern Lebensraum sein soll, werden Angela Merkel und Maria Böhmer wenig beitragen können. Denn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wünschen sich in diesem Zusammenhang mehr Mitspracherechte, Raum für Erfolgserlebnisse und Kommunikation, beispielsweise in AGs. Angesprochen sind hier wiederum die unteren Ebenen und Gremien, die es eigentlich längst gibt: Schulen, Schülervertretungen, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler.

Arbeitsgruppe „Integration und Ausbildung“
Die zweite Arbeitsgruppe „Integration und Ausbildung“ hatte sich unter anderem mit dem Themenbereich „Übergang von Schule in den Beruf“ befasst. Die jungen Leute betonten vorweg, dass sie sich in ihrer Arbeit nicht nur an den Bedürfnissen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund orientiert, sondern Ideen erarbeitet hätten, von denen alle Jugendlichen profitieren würden. Dazu zählen:

  • Die Einführung eines Wahlpflichtfaches „Berufsorientierung“ sowie verpflichtende Praktika ab der 8. Klassenstufe. 
  • Berufs- und Ausbildungsorientierung sollte außerdem in das Angebot der Integrationskurse aufgenommen werden, um wiederum die Eltern mit in die Pflicht zu nehmen. 
  • Der Kanzlerin boten die Jugendlichen ein Netzwerk unter ihrer Schirmherrschaft an, in dem Unternehmen und Betriebe intensiv mit den Schulen zusammenarbeiten sollen. Zusätzlich solle die Kanzlerin ein „Zukunftssiegel“ als Auszeichnung an diejenigen Firmen vergeben, die besonders gute Praktika zur Verfügung stellten.

Vor allem der Betreuung der Arbeitsgruppe durch eine Deutsche-Bank-Mitarbeiterin ist es zu verdanken, dass die Kanzlerin auch gleich mit konkreten Finanzierungsideen konfrontiert wurde. Ein Prozent der Tabaksteuer forderten die Jugendlichen zur Gründung ihres Netzwerkes ein. Das Konzept „Rauchen für die Bildung“ sorgte zwar für Belustigung, wird aber wohl auf wenig Gegenliebe bei Peer Steinbrück stoßen.

Solche Netzwerke gibt es bereits vielerorts: Vereine und Projekte setzen sich seit langer Zeit dafür ein, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund frühzeitig Gelegenheit bekommen, in die Berufswelt hineinzuschnuppern. Auch Auszeichnungen für faire Praktikabedingungen werden vergeben, beispielsweise vom gemeinnützigen Verein „fairwork“. Sollte ein neues Netzwerk unter der Schirmherrschaft der Kanzlerin entstehen, dürfte dies nicht dazu führen, dass die existierenden Bemühungen abgewertet werden. Angela Merkel selbst konnte sich spontan nicht vorstellen, dass die Wirtschaft „besonders glücklich“ über Zertifikate der Bundesregierung sei. Allerdings kenne sie die konkreten Anforderungen an das „Zukunftssiegel“ nicht – für die Ausarbeitung von konkreten Maßstäben und Kriterien blieb auf diesem Gipfel nicht die Zeit.

Die Zeitnot hinderte jedoch auch die zweite Arbeitsgruppe nicht daran, sich selbst in die Verantwortung zu nehmen. Von den jungen Migrantinnen und Migranten, die ihre Schullaufbahn bereits erfolgreich abgeschlossen haben, erwarten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr soziales Engagement. Auch hier sollen Netzwerke und „BildungspatInnen“ helfen, schulpflichtige Jugendliche mit Migrationshintergrund zu beraten, sie zu motivieren und ihnen Impulse für ihre berufliche Entwicklung zu geben. Für Jugendliche aus sozial schwachen Familien soll das Ausbildungssystem künftig Coaching- und Ausbildungspatenschaften anbieten. Lehrpersonal soll für die spezifischen Bedürfnisse der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sensibilisiert werden.

Arbeitsgruppe „Jugend und Freizeit“
Die dritte Arbeitsgruppe befasste sich mit dem Bereich „Jugend und Freizeit“ und stellte gleich eingangs fest, dass Sport und kulturelle Jugendarbeit wichtige und erfolgreiche Integrationsfelder seien. Sie verwiesen jedoch gleichzeitig auf eine geschlechterspezifische Schieflage: zu wenig Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund würden solche Angebote wahrnehmen. Das läge einerseits an mangelnden Vorbildern beziehungsweise der (Medien)Präsenz weiblicher Vorbilder: Vor allem im Leistungssport, in den Fernseh- und Radioübertragungen dominierten „Männersportarten“. Neben Fußballnationalspielern, Formel-1-Rennfahrern oder Skispringern gäbe es keine vergleichbar prominente weibliche Spitzensportlerin, schon gar keine mit Migrationshintergrund. Der zweite Grund dafür, dass weniger Mädchen als Jungen organisierte Sportangebote wahrnehmen, läge darin, dass es zu wenig weibliche Trainerinnen gäbe, weshalb viele Eltern ihre Töchter nicht in die Sportvereine schickten.

Die größtenteils unausgeschöpften Potenziale des Sports für die Integration sind deshalb auch Bestandteil des NIP. Die Kampagne der Bundesregierung „Integration durch Sport“ hat mit dem Deutschen Olympischen Sportbund einen Partner gefunden, der das Ziel, mehr Migrantinnen und Migranten für Sportvereine zu gewinnen, direkt an die Sportverbände herantragen kann. Angekommen ist die Botschaft längst noch nicht überall. Und selbst, wenn der Wille da ist, scheitert das Anliegen letztlich oft daran, dass vor Ort weniger Ausbilderinnen und Trainerinnen zur Verfügung stehen.

Mit dem Problem der kaum repräsentierten Migrantinnen (und Migranten) in den Medien war im Übrigen sogar eine eigene Arbeitsgruppe während der Erarbeitung des NIP betraut. Die AG hat festgestellt, dass die Medien Migrantinnen und Migranten nicht nur im Bereich des Sports, sondern generell in ihren Redaktionen sowie in ihrem Programm und Berichterstattung vernachlässigen. Besonders in diesem Bereich kann die Bundesregierung aber kaum eingreifen oder gar steuern. Die Medien sind unabhängig, die medienpolitische Zuständigkeit liegt bei den Ländern. Trotzdem verpflichtete sich die Bundesregierung im NIP, die Förderung einer Zusammenarbeit deutscher und türkischer Medien zu prüfen und die Entwicklung integrativer und innovativer Programmformate durch Ideenwerkstätten mit ProduzentInnen und ProgrammplanerInnen zu unterstützen.

Sport auf Rezept
Eine wirklich innovative Idee hatte die Arbeitsgruppe mit dem Vorschlag „Sport auf Rezept“. Sie zielte damit auf den oftmals vernachlässigten Gesundheitsbereich bei jungen Migrantinnen und Migranten, der sich beispielsweise im Übergewicht der Jugendlichen abzeichnet. Hier forderte die Arbeitsgruppe eine bessere Vernetzung zwischen Ärzten und Sportangeboten.

Dass jedoch Sport- und Freizeitangebote nicht per se die Integration fördern, wussten auch die Jugendlichen dieser Arbeitsgruppe. Sie forderten deshalb ergänzende niedrigschwellige soziale und beratende Angebote. Um auf die Migrantinnen und Migranten zuzugehen, soll die interkulturelle Kompetenz der Tainerinnen, Trainer und Gruppenleiter gestärkt werden. Ein weiteres Mal setzen die Jugendlichen zuerst auf die Eigeninitiative der Migrantinnen und Migranten, die bereits aktiv sind – erst an zweiter Stelle kam die Forderung nach finanzieller Unterstützung von interkulturellen Trainingsmaßnahmen.

Kritische Forderungen?
Auffällig ist, dass sich viele Forderungen des 1. Jugendintegrationsgipfels in den Ergebnissen der Arbeitsgruppen des 2. Jugendintegrationsgipfels wiederfanden. Das lag gar nicht unbedingt daran, dass innerhalb eines Jahres kaum Vorschläge umgesetzt worden sind, die nun erneut eingefordert werden mussten, sondern vielmehr daran, dass die Tagesordnung wenig andere Inhalte zuließ. Neue Ideen wurden gar nicht erwartet. Der Fahrplan sah vor, die Ergebnisse des letzten Gipfels aufzugreifen und zu vertiefen. Statt an zwei Tagen wie im Vorjahr hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer 2008 nur einen Tag – genau genommen den Vormittag – Zeit, ihre Positionen zu erarbeiten. Aber wenn sich die Jugendlichen überhaupt beklagten, dann nur über diese Kürzung.

Es mag also durchaus den Vorgaben und der Kürze der Zeit geschuldet sein, dass sich viele Aussagen wiederholten. Und insofern ist es sogar erstaunlich, dass innovative Ansätze wie „Sport auf Rezept“ oder Finanzierungsmodelle mithilfe der Tabaksteuer überhaupt zur Sprache kamen.

Trotzdem drängt sich der Eindruck auf, dass die Jugendlichen ihre Chance, die Gastgeberinnen von dringenden Anliegen zu überzeugen, nicht ausgenutzt haben. Integration ist ein Prozess, ein schwieriger noch zudem. Niemand erwartet, dass in einem Land, in dem lange Zeit wenig integrationspolitische Maßnahmen ergriffen wurden, plötzlich mit Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten wird. Große Sprünge haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Jugendintegrationsgipfels jedoch selbst verweigert.

Hatten die Forderungen, die sie auf ihrem ersten Gipfel formuliert hatten, noch Biss, wirkten die Ergebnisse des 2. Gipfels fast zahnlos. Und zwar vor allem deshalb, weil die Forderungen oftmals gar keine an die Bundespolitik, sondern an die Migrantinnen und Migranten selbst gerichtet sind. Zweifellos ist Integration eine beidseitige Angelegenheit – aber bei der Verteilung der Lasten, wie sie sich die Jugendlichen vorstellen, wird die Bundesregierung im nächsten Jahr, wenn der Stand auf einem 3. Jugendintegrationsgipfel überprüft werden wird, eine gute Figur machen.

Zwiespältige Bilanz
Daher dürfte die Bilanz der Intervention der Jugendlichen eher durchwachsen ausfallen: Der NIP enthält mehr als 400 konkrete Maßnahmen und Selbstverpflichtungen der Bundesregierung und der beteiligten nichtstaatlichen AkteurInnen.

  • -Binnen eines Jahres wurde das BAFöG novelliert und somit ausländischen Jugendlichen ein besserer Zugang zur staatlichen Ausbildungsförderung ermöglicht.
  • Vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung außerdem eine Qualifizierungsinitiative auf den Weg gebracht. Damit sollen ArbeitgeberInnen, die benachteiligte Jugendliche als Auszubildende einstellen, einen Bonus erhalten. 
  • In der geschlechtsspezifischen Förderung von jungen Frauen mit Migrationshintergrund gibt es jedoch kaum Erfolge – hier war ein Mentoringprogramm zur Berufsorientierung geplant. Auch die Zahl der Schulabbrecher konnte nicht wie geplant „signifikant“ gesenkt werden. 
  • Über die angestrebte Erhöhung der Zahl von Auszubildenden in Einrichtungen des Bundes liegen (noch) keine Statistiken vor. In einigen Bundesländern gibt es entsprechende Anstrengungen, beispielsweise in Berlin die Kampagne „Berlin braucht dich“, mit der seit dem Jahr 2006 Jugendliche mit Migrationshintergrund gezielt dazu ermuntert werden, sich für einen Ausbildungsplatz im öffentlichen Dienst zu bewerben.

Vielleicht ist der Rückzug der Jugendlichen auf ihre eigene Verantwortung auch nur ein Spiegel der Ansage von Maria Böhmer, dass Integration nicht verordnet werden kann – oder dass vielmehr sie es nicht kann. Sie kann nur werben, aber eben kein Gesetz á la „Migranten werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt“ durchboxen. Migrantinnen und Migranten sind selten Hauptzielgruppe der Programme der Bundesregierung. Das kann auch die Berufung der Staatsministerin und ihre Ansiedlung im Bundeskanzleramt nicht verschleiern. Zugewanderte sind oftmals nur Nutznießer der Angebote, die genauso und vielleicht sogar in erster Linie von den Schmidts und Müllers in Anspruch genommen werden, auf dem Dorf ebenso wie in der Großstadt.

Das gilt für die allgemeine Sprachförderung in den Kindertagesstätten genauso wie für das Modellprogramm „die 2. Chance“, das Schulverweigerinnen und Schulverweigerer behutsam an die Schulbank zurückführen soll. Dass Zuwandererfamilien profitieren, wenn sie die Angebote in Anspruch nehmen, ist ein positiver Nebeneffekt, aber mehr nicht. Problematisch daran ist, dass der Zugang zu solchen Programmen, wenn sie nicht auf Migrantenfamilien ausgerichtet sind, eine große Schwelle darstellt. Und genau hier wird Integrationspolitik halbherzig.

Halbherzig sind aber auch die Forderungen der Jugendlichen. Sie fordern nämlich nicht die Herabsetzung solcher Schwellen, sondern fordern von sich selbst, diese Schwellen zu umgehen. Erst später, fast zaghaft formulieren sie Forderungen an die Bundesregierung. Auf dem letzten, dem 1. Jugendintegrationsgipfel traten sie ein Stück selbstbewusster und mutiger auf. Da thematisierten sie die „Gettoisierung an Schulen und Kitas“, forderten ethnisch und sozial gemischte Bildungseinrichtungen. Sie hatten sich getraut, die Mehrheitsgesellschaft anzusprechen, von der sie ihren Platz und Raum für freie Entfaltung eingefordert hatten. „Wir wollen eine Gesellschaft, (...) die auf der Basis des Grundgesetzes aufbaut und die Vielfalt als Potenzial und nicht als Problem wahrnimmt.“

Im Mai 2008 waren dann fast nur noch die Migrantinnen und Migranten in der Pflicht, die „es geschafft“ haben. Sie sollen es richten: als Vorbild und AnimateurIn, BerufsberaterIn und Perspektivencoache. Zugewanderte Eltern tragen nach dem Willen der Jugendlichen auch weiterhin Verantwortung für sich und ihre Kinder – das ist auch richtig so. Aber sie stehen mit dieser Verantwortung quasi allein da. Die Mehrheitsgesellschaft wurde mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht die Verantwortung der Kanzlerin. Dabei hatte die Türkische Gemeinde in Deutschland gerade im März eine Umfrage veröffentlicht, nach der sich jedeR 2. türkische MigrantIn in der Bundesrepublik nicht willkommen und seine bzw. ihre Interessen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nur unzureichend vertreten sieht.

Schlussbemerkungen
Der RBB-Redakteur, Dr. Cem Dalaman, hatte den Jugendintegrationsgipfel mit der Bitte eröffnet, doch bitte keinen „Schönwettergipfel“ zu veranstalten. Vielleicht haben die Jugendlichen das überhört, bewusst oder unbewusst. In ihrem Wunsch, ernst genommen zu werden, haben sie gewissenhaft gearbeitet – aber als Adressaten ihrer Forderungen viel zu oft sich selbst und viel zu selten die Bundesregierung gesetzt.

Der 2. Jugendintegrationsgipfel hat gezeigt, dass junge Leute, unabhängig, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, an der Debatte um integrationspolitische Maßnahmen teilhaben wollen. Er hat aber auch gezeigt, dass solche Zusammenkünfte, wenn sie unter Federführung der Bundesregierung stattfinden, zu einer Schere im Kopf der Jugendlichen führen.

Hier ist die Zivilgesellschaft gefordert: Es muss auch in Zukunft, vielleicht sogar öfter als einmal im Jahr, ein Forum für junge Menschen geben, die sich in größeren Verbänden nicht wiederfinden – aber dennoch aufgrund ihrer persönlichen Betroffenheit oder eines anderen Interesses zu solchen Themen Stellung beziehen können. Dieses Forum müsste finanziell so ausgestattet sein, dass ernsthafte Probleme und ernst gemeinte Lösungsstrategien ohne Zeit- oder Gefallensdruck erarbeitet werden können. Die Forderungen, die während so einer Veranstaltung entstünden, hätten mit denen des Jugendintegrationsgipfels im Kanzleramt sicher wenig gemein. Um so ernster müssten sie von der Politik genommen werden.

Auf der „Schönwetter“-Veranstaltung im Kanzleramt ist schließlich nur eines passiert: Weil kaum Diskussionen aufkamen, fiel es der Kanzlerin und ihrer Staatsministerin nicht schwer, die Forderungen und Wünsche der jungen Leute zu begrüßen und zu unterstützen. Und damit haben sie erreicht, was vielleicht das wichtigste Ziel vor dem Wahlkampfjahr 2009 gewesen ist: Das Gefühl an 80 junge Multiplikatorinnen und Multiplikatoren vermittelt zu haben, „starke Verbündete“ zu sein.  

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Anne Köhler (30) ist Journalistin sowie Projektleiterin für Kultur und Politik und lebt in Berlin.