AutorInnen jenseits des Dazwischen – Trends der jungen türkisch-deutschen Literatur

Drei Bücher die an Stahlseilen vor einer Wand hängen

von Karin E. Yeşilada

Transatlantische Verbindungen

Die Amtseinführung des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika am 20. Januar 2009 wurde zu einem Symbol für Hoffnung und Erneuerung. Barack Hussein Obama, Sohn einer weißen Amerikanerin und eines Kenianers, ist der erste afro-amerikanische Präsident der USA. Seine Person steht für den Erfolg von Minderheiten in einer multikulturellen Gesellschaft. Auch hierzulande gilt Obama als Vorbild für eine neue Einwanderergeneration, und manche wagen den Vergleich zu profilierten Politikern aus den Reihen der Migranten, zu jemandem wie Cem Özdemir etwa, einem Deutschen türkischer Herkunft, einem Einwanderer der zweiten Generation.

"Wann kommt der deutsche Obama?" heißt es nun allenthalben. Doch noch vor anderthalb Jahrzehnten war das völlig undenkbar (nur wenige Türken besaßen den deutschen Pass und damit aktives und passives Wahlrecht), weswegen der "Putsch in Bonn" mit einem türkischem Kanzler der Bundesrepublik ein Szenario des türkisch-deutschen Kabaretts blieb. Mittlerweile aber sind die Kinder der eingewanderten Gastarbeiter, die Deutsch-Türken zweiter Generation, in die Mitte der deutschen Gesellschaft aufgerückt. Fatih Akın holt für Deutschland Filmpreise und (beinahe) Oscar-Nominierungen, Feridun Zaimoğlu steht auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, Zafer Şenocak tourt als deutscher Autor durch deutsch-amerikanische Think Tanks, und Cem Özdemir wird nicht allein wegen seiner Bartkoteletten á la Elvis Presley als möglicher zukünftiger Anwärter auf das Kanzleramt gehandelt.

Die türkische Migration steht in Deutschland damit einmal mehr im Fokus des öffentlichen Interesses. Grund genug, sich der Literatur zuzuwenden: Gibt es hier womöglich auch neue und vielversprechende Trends und Tendenzen? Oder stecken die jungen SchriftstellerInnen immer noch dort fest, wohin sie traditionell verortet werden, nämlich "zwischen Tradition und Moderne"?

Dazwischen oder nicht? Und wohin sonst?

Dass diese Literaturströmung einer besonderen kulturellen Zuschreibung unterliegt, hatte ich an ähnlicher Stelle bereits diskutiert.1 Die Versuchung, türkisch-deutsche AutorInnen innerhalb einer bipolaren Konstruktion aus zwei disparaten, kulturellen Blöcken weder hierhin noch dorthin, sondern genau "dazwischen" anzusiedeln, scheint besonders groß. Die Formulierung vom "Dazwischen" ist zu einem Topos der Medien geworden – am beliebtesten in der Formulierung "zwischen Tradition und Moderne", häufig auch in der Variante "Kopftuch" statt "Tradition", meist jedoch in Kongruenz zu Samuel Huntingtons Konzeption von der Dominanz westlicher Kultur über den Osten/Orient.

Dieses Konzept blieb bis zuletzt sehr umstritten – gerade erst hat der neue Präsident der Vereinigten Staaten mit solchen "falschen Überzeugungen" aufgeräumt –, und auch in der Literaturwissenschaft werden solche Denkmuster im Zuge postkolonialer Debatten hinterfragt.2 Dass die Literatur türkisch-deutscher AutorInnen aufgrund dieser ästhetischen Disposition und der Vielfalt neuer Themen eine differenzierende Lesart jenseits monolithischer Kulturparameter erforderlich macht, hat Leslie A. Adelson in einem theoretischen "Manifest gegen das Dazwischen" postuliert.3 Wie aber reagieren die Literaten selbst auf solche Zuschreibungen?

"Dazwischen bin ich nicht", bekundet Zafer Şenocak in einem seiner Gedichtessays: Dort verortet sich das lyrische Ich außerhalb der bekannten Lager und Häuser in ein poetisches chiffriertes Gebiet, das sich "Jenseits der Landessprache" nennt (so der Titel des gleichnamigen Gedichtessays aus dem Band "Zungenentfernung"). Şenocaks Essaybände, in denen es nicht nur, aber auch um Literatur geht, tragen die nicht festzulegende, verstörende  Topographie stets als Programm im Titel.4 "Atlas des tropischen Deutschland" (1992) etwa bezeichnet (in Anspielung auf Elias Canetti) das unter dem Einfluss interkultureller Berührung sich verändernde Land. Die Essays sind eine Zuwortmeldung des türkisch-deutschen Autors im seinerzeit frisch wiedervereinigten neuen Deutschland, wo die Debatte darum, was und wer deutsch sei (bzw. wer nicht), gerade neu entflammte.

"Zungenentfernung" (2001), der dritte Essayband,  versteht sich als "Bericht aus der Quarantänestation", wobei offen bleibt, welche Sprache/Zunge5 hier entfernt werden muss, um den "Erkrankten" aus der interkulturellen Quarantänestation zu entlassen. In seinen literarischen Essays entwickelt Şenocak  eine "negative Hermeneutik" und stellt sich skeptisch gegen die Gewissheiten öffentlicher Zuschreibung.

Und auch mit den jüngsten Essays bezieht Şenocak Stellung gegen die eng am Koran-Wort ausgerichtete islamische Orthodoxie: Vornehmlich um das Thema Islam und Literatur kreisend, begeben sie sich qua Titel in "das land hinter den buchstaben". Mit der topographischen Subversion verbindet sich das ästhetische Programm des Third Space, des Dritten Raumes nach Homi K. Bhabha, der eine intensive Auseinandersetzung mit der poetischen Wirkungskraft von Sprache erforderlich macht.

Poetische Wandlungen und Irreführung als ästhetisches Programm

Dabei haben sich Dichter gerade der zweiten türkischen Einwanderergeneration, zu denen auch der 1961 geborene Şenocak zählt, in ihren frühen Texten durchaus mit ihrer Situation "zwischen den Stühlen" einer deutschen Einwanderungs- und einer türkischen Heimatkultur auseinandergesetzt. Nevfel Cumart etwa, 1964 als Kind türkischer Gastarbeiter in Lingenfeld geboren, schrieb in den 1980er Jahren Gedichte, in denen die "Bürde zweier Welten" zur Bürde des literarischen Schreibens, des eigenen Standorts wird, wie etwa im Gedicht "zweite generation" von 1986:6
zweite generation

auf unseren
 schultern
  die bürde
   zweier welten

unser geist
 ein schmelztiegel
  im flammenmeer
   tausendjähriger kulturen

sind wir
 freunde der sonne
  und der nacht  

      

Das Bekenntnis zur zweifachen Identität umspannt dabei einerseits zwar (nur) zwei Welten, andererseits implizieren die "tausendjährigen Kulturen" jedoch eine Diversität jenseits bipolarer Dimensionen: Der "Schmelztiegel" steht für die hybride Vermischung kultureller Verschiedenartigkeit. Das zeigt sich nicht zuletzt auf der strukturellen Ebene des Gedichts, das an Nâzım Hikmets berühmten Treppenversen geschult ist (zu denen Hikmet selbst wiederum aus seiner Berührung mit dem russischen Dichter Majakowski inspiriert worden ist).

Knapp ein Jahrzehnt später führt Cumart seine LeserInnen spielerisch in die Irre: Sein 1995 entstandenes Gedicht heißt dem Titel nach zwar "Dazwischen", doch es eröffnet nicht die gewohnten zwei, sondern gleich eine Vielzahl kultureller bzw. nationaler Bezüge: "meine frau griechin / mein trauzeuge amerikaner / meine mutter türkin / mein freund yemenit / meine patentochter deutsche / mein nachbar algerier / mein professor österreicher / mein arzt iraker" (Vers 1-8). Die eigene Verortung, "und / irgendwo / dazwischen / ich" (V. 9-12), unterläuft die dichotomische Struktur des deutsch-türkischen Dazwischens, indem die primäre lokale Komponente des Adverbs ("da") als eine Vielzahl unterschiedlicher, sich über drei Kontinente erstreckende Topographien aufschlüsselt. Die eigentliche Pointe folgt aber mit den beiden Schlussversen (V. 13-14): "auf diesem staubkorn / genannt erde" – der Zoom aus der universalen Perspektive führt jegliche Opposition monolithischer Blöcke ad absurdum.7  

Irreführung scheint konstitutiver Bestandteil im ästhetischen Programm der zweiten Generation türkisch-deutscher AutorInnen zu sein. "Mein Schreibtisch ist der kleinste Irrgarten der Welt", schreibt etwa Zafer Şenocak in einer der lyrischen Miniaturen, die er den Kapiteln seiner Erzählung "Die Prärie" (1997) voranstellt. Darin geht es um eine Figur namens Sascha, einen Deutsch-Türken, der aus dem wiedervereinigten Deutschland und seinen Zuschreibungen (sein Chefredakteur verpflichtet ihn ausschließlich auf Türkei-Themen) in die amerikanische Prärie flüchtet. Aus diesem literarischen Rückzug wird ein gänzliches Verschwinden der Hauptfigur ganz postmodern nach Pirandello'scher Manier8, und zum Schluss erst taucht Sascha als vermeintlicher Übersetzer eines amerikanischen Dichters in doppelter Spiegelung wieder auf. Hier wie auch in seinen literarischen Essays lautet die Botschaft, dass die Dichtung das eigentliche Territorium ist, auf dem sich der Autor bewegt.9 

Die 1960 geborene Zehra Çırak wiederum entwirft in ihrem Gedicht "Lustspiel" in ähnlicher Weise das Bild der "Dramatürkin", die sich ganz anders inszeniert, als es der Regisseur von ihr erwartet: "Manchmal bin ich / meine eigene Dramatürkin / und sitz mir angestellt im Nacken / mein Vorhang sich öffnet / und ich springe / auf den Boden der Schubladenkraft (...)" (V. 1-6). Hier unterläuft ein weibliches lyrisches Ich die üblichen Zuschreibungen, jenes stereotypisierende Schubladendenken, dessen machtvolle Wirkung im Neologismus "Schubladenkraft" zum Ausdruck gebracht wird, ebenso selbstbewusst wie nachdenklich: "ich verbeuge mich / und hatte gut Lachen / im Halse versteckt".

Literarische Diskurse türkisch-deutscher AutorInnen, so zeigt sich, unterlaufen die bestehenden gesellschaftlichen und medialen Diskurse über Türken mit Ironie und Kreativität.

Identitätsthematik als Verkaufsstrategie?

Zehra Çırak wurde für ihren Gedichtband "Leibesübungen" (2000), aus dem das oben zitierte Gedicht "Lustspiel" stammt (S. 36), mit dem renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Dennoch konnte diese Würdigung nicht verhindern, dass ihr Verlag sich kurze Zeit später seiner Lyrik-Reihe entledigte und damit auch seiner preisgekrönten Autorin.10 Statt dessen setzte Kiepenheuer & Witsch in Köln bald auf eine ganz andere Sparte türkisch-deutscher bzw. orientalischer Frauenliteratur. Diese beschäftigt sich hauptsächlich mit Zwangsverheiratung und Ehrenmord, mit jenem Teil türkischer Lebenswelten, die regelmäßig in die Schlagzeilen deutscher Medien geraten.

Frontfrau für dieses literarische (oder eher trivialliterarische, populärwissenschaftliche, oder nach Meinung einiger Kritiker auch nur pseudowissenschaftliche) Genre ist Necla Keleks "Fremde Braut", ein Buch, das stets zuoberst auf Büchertischen zu finden ist, auf denen sich ansonsten zahlreiche Publikationen unterdrückter türkischer, arabischer, mithin muslimischer Mädchen und Frauen finden, die, häufig unter Mithilfe journalistischer Ghostwriterinnen, ihre haarsträubenden Erlebnisse aufarbeiten.11 Diese Bücher sind Bestseller; Çıraks ironische Subversionen fallen da regelrecht unter den Tisch.

Die Strategien des Marktes zielen auf den mainstream des Lesergeschmacks, der offensichtlich nach dramatischen Geschichten aus der Parallelwelt lechzt – bedient oder prägt der Markt da eigentlich sein Publikum? Und wer entscheidet eigentlich, den neuen Gedichtband von Çırak, Cumart oder Şenocak nicht zu rezensieren, wohl aber die nächste Geschichte einer weiteren unterdrückten Frau? Die vermeintlich "gesellschaftliche Relevanz" (nicht-)literarischer Texte entscheidet sich oft genug am Redaktionstisch.

Die Bilder im Kopf über "türkische Migranten" sind dabei scheinbar bereits vorgegeben.12 Ironische Brechungen oder poetische Sprachspiele schaffen es daher nur selten bis in die Medien. Diskurse werden zur Zeit, so macht es den Anschein, eher laut als leise, eher apodiktisch als skeptisch geführt. Şenocaks Essays zur Islam-Thematik sind dagegen ein einziger Appell für mehr Nachdenklichkeit. Eine solche Botschaft ließ sich übrigens auch aus der Antrittsrede des frisch vereidigten amerikanischen Präsidenten heraushören.
 
Neue Räume: Weiblichkeitsentwürfe am Esstisch

Weniger nachdenklich, dafür mit selbstbewusster Verve inszeniert sich die neue Chick-Lit alla turca, jene Literatur, in der türkisch-deutsche Journalistinnen über sich und ihr türkisch-deutsches Leben jenseits von Zwangsverheiratung und Islam erzählen, sozusagen als Gegenentwurf zur oben erwähnten Ehrenmord-Literatur. Stil und Genre dieses seit einigen Jahren vorherrschenden und verkaufstechnisch sehr erfolgreichen Trends legen die Nähe zum amerikanischen Vorbild der Chick-Lit nahe: Autorinnen wie Hatice Akyün ("Einmal Hans mit scharfer Soße", 2005) oder Sibel Susann Teoman ("Türkischer Mokka mit Schuss", 2007)13 arbeiten bewusst mit den Insignien der modernen urbanen Frau: Sexy Outfit, eine selbstbestimmte, weil auf eigenem Einkommen gegründete Single-Existenz, ein reges Sozialleben, freie Partnerwahl.

Diese jungen Deutsch-Türkinnen-Figuren mitsamt ihren Verfasserinnen stehen ganz dezidiert gegen Projektionen aus der anderen Ecke des Buchmarkts, der türkische Frauen mit abgekürztem Nachnamen stets als geschundene Opfer patriarchalischer Strukturen präsentiert. Die neuen Chicks müssen ihre weibliche Integrität zwar ebenfalls gegenüber ihrer türkisch-muslimischen Herkunftsfamilie verteidigen, vor allem dann, wenn sie sich für den christlichen Deutschen als Ehepartner entscheiden (was alle Chicks tun). Solche Konflikte enden in ihren Romanen jedoch stets im Happy End, d. h. mit der von beiden Familien abgesegneten Hochzeit.14   

In Bezug auf den weiblichen Raum15 haben beide Genres der neuen türkisch-deutschen Frauenliteratur allerdings eines gemeinsam: Sie verorten die Türkin jeweils in den häuslichen Bereich, d.h. der häusliche Raum wird zum zentralen Ort der Erzählung, und zwar sowohl bei den von der eigenen Familie und besonders den männlichen Familienmitgliedern unterdrückten "fremden Bräuten" (die mit aller Macht ans Haus gebunden werden), als auch bei ihren Gegenfiguren, den türkischen "Chicks". Diese inszenieren sich zwar selbst als neue Vorzeige-Türkinnen mit Kuschelfaktor, wählen dafür aber ausgerechnet wieder den häuslichen Bereich. Da geht es dann ums Börekmachen und Heiraten, da werden Augenbrauen gezupft und Stöckelschuhe  im Regal sortiert.

Nahezu alle Buchtitel haben etwas mit dem Essen zu tun, Mokka mit Schuss, scharfer Soße und Döner locken die LeserInnen, Sinne werden gereizt, Rezepte präsentiert – mithin wird eine Weiblichkeit inszeniert, die den Minirock, nicht mit dem Kopftuch, dafür mit der Küchenschürze verbindet. Der private Raum wird dabei zum Hauptaktionsbereich, und häufig wird dies bereits im Einleitungskapitel durch die Einladung in die eigene narrative gute Stube ausgedrückt ("Hereinspaziert").

So betritt die deutsche Leserschaft also erstmals die bis dahin hermetisch abgeriegelte türkische Parallelwelt, wo sich dann türkisch-deutscher Biedermeier entfaltet. Wenn Iris Alanyali die großmütterliche Wohnung, in der sie als Kind gespielt hat, zum "Serail von Maichingen" erhebt, wenn Hatice Akyün die LeserInnen zum Baden mit Milch und Honig und in den "Hamam" mit nimmt, dann bekommt der häusliche Raum zusätzlich noch einen Touch orientalischer Exotik. Vor dem Hintergrund Jahrhunderte alter Orient-Phantasien über das Innere des Harems und die ver(oder ent-)schleierte Orientalin entfalten solche Bilder einen ganz anderen Subtext: Vermischt sich hier der amerikanische Diskurs mit dem orientalistischen? Werden hier Klischees unterlaufen oder reproduziert?

So nahe die Chick-Lit am inszenierten Glamour von "Sex and the City" dran sein mag, so weit ist sie jedoch von der intellektuellen Tiefe, wie sie etwa bei Marica Bodrožić, bei Andrea Karimé oder bei Sudabeh Mohafez zu finden ist – um nur einige Autorinnen der gleichen Generation zu nennen, die weibliche Identität und Migrationsgeschichte(n) ebenso unterhaltsam, literarisch jedoch weitaus anspruchsvoller gestalten.16 Macht bei der Chick-Lit alla turca womöglich die Ethnizität den entscheidenden Unterschied in den Gender-Erzählungen? Manifestiert sich (türkische) Ethnizität hier in spezifischen Diskursen über die "Orientalin", gegen die türkische Chicks anschreiben? Wäre die türkisch-deutsche Chic-Lit somit als literarische Subversion gesellschaftlicher Diskurse zu werten? Die Diskussion dazu steht noch aus.17 

Neue (alte) Figuren: "Ausländer mit deutschem Pass"

In Hatice Akyüns Erfolgsroman stellt sich die gleichnamige Ich-Erzählerin zu Beginn als "Türkin mit deutschem Pass" vor – handelt es sich hierbei um eine neue Spezies der Migrationsliteratur? Semantisch betrachtet ist die Besitzerin eines deutschen Passes als Deutsche zu bezeichnen, allenfalls noch als "Deutsche türkischer Herkunft". Obgleich selten von einer "Schwedin mit deutschem Pass" die Rede ist, so geistert die von Akyün verwendete absurde Formulierung der "Türkin mit deutschem Pass" doch mit unschöner Regelmäßigkeit durch die Medien. Diskussionen um Einbürgerung und Doppelstaatigkeit betreffen die türkische Minderheit in Deutschland in besonderer Weise, denn Unterschriften-Aktionen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wie seinerzeit im hessischen Wahlkampf 2004 richten sich ja nicht etwa gegen dänisch-deutsche, sondern ganz explizit gegen türkisch-deutsche Passinhaber.18

Entsprechend ist dieses Thema in der kulturellen Produktion sehr präsent. Schon in den 1980er Jahren spielten Şinasi Dikmen und Muhsin Omurca in ihrem Stück "Putsch in Bonn" eine komplette Einbürgerungsprozedur eines türkischen Gastarbeiters durch, der es bis durch den Sprachtest schaffte, dann aber vor lauter Freude über die Einbürgerungsbewilligung vergisst, eine Busfahrkarte zu lösen, erwischt wird, und wegen Schwarzfahrens den deutschen Pass verliert.19 Was klingt wie die türkische Variante des Hauptmanns von Köpenick spiegelt die realen Verhältnisse, d. h. den besonderen Ausländerstatus als Nicht-EU-Bürger der Türken in Deutschland wieder. Schon allein deswegen weist die türkisch-deutsche Migrationsliteratur andere Spannungsmomente auf als womöglich die schwedisch-deutsche Migrationsliteratur.

Der ultimative Roman zum Thema wurde daher nicht zufällig von einem türkisch-deutschen Satiriker, nämlich dem 1960 geborenen Osman Engin, geschrieben. In "Kanaken-Ghandi" erlebt der auktoriale deutschlandtürkische Ich-Erzähler Osman seinen eigenen Albtraum, als er eines Tages aufgrund einer Verwechslung ins Ausländeramt zitiert wird, wo man ihm mitteilt, dass sein Antrag auf Asyl abgelehnt wurde und er demnächst in sein vermeintliches Heimatland Indien abgeschoben werden soll.20 Die nachfolgenden turbulenten Verwicklungen bewegen sich zwischen (oftmals plattem) Slapstick und hintersinnigen Anspielungen, in denen sich die Kritik deutscher Zustände verbirgt. Immer wieder geht es um den Problembereich Integration und Ausländerrecht in der türkisch-deutschen Satire, wo Figuren wie der "Integrationsexperte" oder der "Sperrmüll-Efendi", der "oberintegrierte Türke" und der "Kanaken-Ghandi" auftreten.21 

Türkisch-deutsche Satire gibt es seit den 1980er Jahren, als Şinasi Dikmen aus der ersten und Osman Engin aus der zweiten Generation deutsche und türkische Satiretradition zu einem neuen Genre der deutschsprachigen Literatur schmiedeten. Im Zuge der türkischen Ethno-Comedy im Fernsehen erleben Satire und Kabarett derzeit wieder einen neuen Boom, allerdings geht damit auch die Verflachung der politischen Satire zur seichteren Comedy einher.

Während man mit Kaya Yanar oder Fatih Cevikkolu über deutsch-türkische und andere Stereotypen lachen kann, bleibt einem beim politischen Kabarett von Django Asül oder Serdar Somuncu das Lachen eher im Halse stecken. Interessant ist, dass Osman Engin mit seinem neuesten Band "Lieber Onkel Ömer. Briefe aus Alamanya" (München, dtv 2008) wieder zurück zu den Anfängen geht: Der Brief des türkischen Gastarbeiters an seine Daheimgebliebenen in der Türkei ist ein eigenes literarisches Genre der ersten Stunde türkisch-deutscher Literatur.22 Möglicherweise ist Engins epistemologischer Rekurs als erneute Bilanz nach fast einem halben Jahrhundert türkischer Einwanderung zu verstehen.

Neue Kultur- und Raumkonzepte in der jungen türkisch-deutschen Literatur

Fatih Akıns Filme spielen regelmäßig in Deutschland und der Türkei: Das Hin- und Herwechseln zwischen Hamburg und Istanbul gehört zur kosmopolitischen Identität seiner Figuren wie selbstverständlich dazu. Auch die literarischen Figuren der türkisch-deutschen Literatur repräsentieren diesen kosmopolitischen Lebensentwurf. Zafer Şenocaks Figur Sascha Muhteschem ist in Berlin, den USA und Istanbul unterwegs, Selim Özdoğan erhebt den Roadroman zum narrativen Prinzip seiner frühen Prosa; Yadé Kara schickt ihren Ich-Erzähler Hasan von Berlin nach Istanbul und neuerdings nach London. Dass hier häufig Metropolen zum Ort der Erzählung werden, scheint dabei kein Zufall zu sein.

Gerade deshalb fallen die Romane junger deutsch-türkischer Autorinnen der Chick-Lit in besonderer Weise aus dem Rahmen, wird hier doch der private Raum zur kulturellen Topographie weiblicher Identitätsentwürfe. Neben solchen Raumkonstellationen wäre es auch interessant, einen Blick auf die Zeitkonstellationen zu werfen, besonders im Hinblick auf die literarische Gestaltung historischer Zeitläufte wie etwa der türkischen Migration oder der deutschen Wiedervereinigung – ein ganz eigenes Kapitel.

Fest steht, dass die türkisch-deutsche Literatur nach fast einem halben Jahrhundert ihres Bestehens gerade in der zweiten schreibenden Generation einige bemerkenswerte Tendenzen ausgebildet hat. Tom Cheesman weist in dem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass nicht jeder literarische Trend unbedingt eine generationstypische Errungenschaft zu sein braucht, was mit Blick auf Osman Engins neu(aufgelegt)e Gastarbeiterbriefe aus Alamanya durchaus plausibel erscheint. Andererseits sind literarische Phänomene wie das der Chick-Lit alla turca oder (die hier unerwähnt gebliebene) Kanak-Literatur nicht nur entstehungs-, sondern vor allem auch rezeptionsspezifisch literarische Trends der zweiten schreibenden Generation.

Zu denken wäre darüber hinaus auch an online communities und Blogs. Türkisch-deutsche Literatur hat damit einen in Adelsons Sinne zu verstehenden "Turkish Turn" in der deutschen Literatur hervorgebracht, der neue Lese- und Interpretationsmodelle erforderlich macht.23 Für Tom Cheesman bedeutet die nunmehr fast fünfzigjährige Geschichte der türkisch-deutschen Literatur eine zunehmende Etablierung dieser Literatur in Deutschland, die nicht als Migrationsliteratur, sondern als eine kosmopolitische Fiktion der Sesshaftigkeit, des Niederlassens zu begreifen ist.

Unabhängig von Trends und Strömungen steht der literarische Text als solcher letztendlich für sich. Wie etwa das folgende aus dem neuen Gedichtband "Landstimmung" von Berkan Karpat und Zafer Şenocak: 24 

"der globus rollt in die kinderstube
  länder ohne milch".

 

 

Endnoten

1 Siehe meinen Beitrag: Deutsch? Türkisch? Deutsch-türkisch? Wie türkisch ist die deutsch-türkische Literatur? für die Themenwebsite Migration – Integration – Diversity der Heinrich Böll Stiftung anlässlich der Frankfurt Buchmesse 2008. 

2 Zuletzt etwa Tom Cheesmann: Novels of Turkish Settlement. Cosmopolite Fictions. Rochester, NY (Camden House) 2007; Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward A New Critical Grammar of Migration. New York (Palgrave Macmillan) 2005; Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Von der Gastarbeit zur Identitätsarbeit. Integritätsverhandlungen in türkisch-deutschen Texten von Şenocak, Özdamar, Ağaoğlu und der Online-Community vaybee! Göttingen (Universitätsdrucke) 2005.

3 Vgl. dazu Leslie A. Adelson: Against Between: A Manifesto. In: Dadi, Iftikhar / Hassan, Salah (Hrsg.): Unpacking Europe. Towards a Critical Reading. Rotterdam 2001, S. 244-255. Deutsche gekürzte Fassung in: Heinz-Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik, Heft IX/06 (Literatur und Migration), S. 36-47.

4 Die hier genannten Essaybände von Zafer Şenocak  erschienen alle beim Babel Verlag (bis 1994 Berlin, danach München).

5 Auf  Türkisch bedeutet "dil" Sprache und Zunge zugleich. In Emine Sevgi Özdamars berühmter Erzählung "Mutterzunge" (aus dem gleichnamigen Erzählband, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1993), die um das Thema Sprach- und Identitätsverlust kreist, heißt es zu Beginn der Erzählung: "In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin." (S. 7)

6 Das Gedicht stammt aus dem Band "Ein Schmelztiegel im Flammenmeer" (Dağyeli Verlgag 1988), S. 7. Nevfel Cumarts Gedichte erscheinen seit 1990 regelmäßig im Grupello Verlag; sowie auf Cumarts Website.

7 Das Gedicht erschien erstmals im Band "Zwei Welten" (sic!), Düsseldorf 1996, S. 19, später auch in nachfolgenden Gedichtbänden.

8 Im weltbekannten Drama des italienischen Nobelpreisträgers Luigi Pirandello (1867-1936) verläuft die Suche jedoch umgekehrt, wie der Titel verrät, Sechs Personen suchen einen Autor.

9 James Jordan spricht in Bezug auf Şenocaks frühe Prosa, zu der auch "Die Prärie" zu zählen wäre, von "fragmentierten kulturellen Identitäten". James Jordan: Zafer Şenocak's Essays and Early Prose Fiction: from Collective Multiculturalism to Fragmented Cultural Identities. In: Cheesman, Tom / Yeşilada, Karin (Hrsg.):  Zafer Şenocak. Cardiff 2003, S. 91-105.

10 Zehra Çırak wechselte daraufhin zum Berliner Verlag Hans Schiler, wo 2008 ihr jüngster Band "In Bewegung" herauskam. Zusammen mit ihrem Mann, dem bildenden Künstler Jürgen Walter, macht Çırak audiovisuelle Performances und Slideshows, zu denen sie ihre Gedichte liest.

11 Siehe dazu meinen vorangegangenen Artikel (bes. Abschnitt 5), wie in Anmerkung 1 zitiert.

12  Siehe dazu auch Hilal Sezgins kritische Einschätzung der Rolle von Migranten in den Medien in einem Schwerpunkt-Dossier in Die Zeit Nr. 45 vom 31. Oktober 2007 (S. 55-56): Normal ist das nicht. Im deutschen Fernsehen kommen Migranten nur als Problemfälle oder Witzfiguren vor. Jetzt bemühen sich die TV-Sender um ein realistischeres Bild der Gesellschaft. 

13 Hatice Akyün: "Einmal Hans mit scharfer Soße. Leben in zwei Welten". München (Goldmann) 2005. Der Fortsetzungsroman "Ali zum Dessert. Leben in einer neuen Welt" erschien 2008. Sibel Susann Teoman: "Türkischer Mokka mit Schuss". Roman. München / Zürich (Piper) 2007. Die Fortsetzungserzählung "Flitterwochen auf Türkisch" erschien ein Jahr später.

14 Aslı Sevindims heitere Milieugeschichte "Candlelight Döner" (Berlin, Ullstein 2005) ist ein gutes Beispiel dafür. Siehe in dem Kontext auch Dayıoğlu-Yücels Studie zu Identitätsarbeit und Integritätsverhandlung (Anm. 2) sowie ihren Beitrag in diesem Dossier.

15 Siehe hierfür Claire Horst: Der weibliche Raum in der Migrationsliteratur. Irena Breźna – Emine Sevgi Özdamar – Libuše Moníková. Berlin (Schiler) 2007. Siehe auch den Beitrag von Claire Horst in diesem Dossier.

16 Vgl. Marica Bodrožić: Tito ist tot. Erzählungen. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2002; Der Windsammler. Erzählungen, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007; Andrea Karimé: Alamat. Wegzeichen. Arabisch-deutsche Erzählungen. Tübingen 2006;  Sudabeh Mohafez: Wüstenhimmel Sternenland. Erzählungen. Zürich (Arche) 2004; Gespräch in Meeresnähe. Roman. Zürich (Arche) 2005. Diese Liste könnte ohne Weiteres erweitert werden, zu denken wäre dabei an Lena Gorelik, Zsuzsa Bánk oder Yoko Tawada.

17 Ein erster Beitrag zur türkisch-deutschen "Chick-Lit alla turca" findet sich in der demnächst erscheinenden Publikation von Helmut Schmitz (Hrsg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam / New York (Rodopi) vorauss. 2009 unter dem Titel “Nette Türkinnen von nebenan” – Die neue deutsch-türkische Harmlosigkeit als literarischer Trend.

18 Siehe dazu die downloadbare Dokumentation der Konferenz "Einwanderungsland Deutschland – Interkulturelle Demokratie und Citizenship" (2002) der Heinrich Böll Stiftung.

19 Zu Şinasi Dikmen siehe den Werkartikel im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (87. Nlg. 10/07, S. 1-8, A-F). 

20 Osman Engin: Kanaken-Ghandi. Satirischer Roman. Berlin (Elefantenpress) 1998. Siehe auch die Website des Autors. Siehe außerdem Tom Cheesmans Interpretation des Romans vor dem Hintergrund historischer Tatsachen in T. Cheesman: Novels of Turkish Settlement, 2007 (siehe Anm. 2), S. 139-144. Für Osman Engins zahlreiche Publikationen siehe seine Website und die Titel im Deutschen Taschenbuch Verlag. Zu nennen wäre hier auch der marokkanisch-deutsche Autor Fawzi Boubia, der  in seinem Roman "Heidelberg – Marrakesch einfach" (Mainz, Verlag Donata Kinzelbach 1996) die Geschichte einer abgelehnten Einbürgerung andersherum aufzieht: Just am Tag, als der marokkanische Ich-Erzähler seinen deutschen Pass erhält, ereignet sich der Brandanschlag in Solingen, woraufhin der Ich-Erzähler beschließt, den Pass zurückzugeben und nach Marrakesch zurückzugehen.

21 Vgl. Şinasi Dikmen: Hurra, ich lebe in Deutschland! Mit e. Vorwort v. Dieter Hildebrandt. München / Zürich (Piper) 1995. Seit der Auflösung des Knobi-Bonbon-Kabaretts treten Dikmen und Omurca jeweils mit Soloprogrammen auf (dort auch einiges zum Knobi-Bonbon Kabarett). Zur Entwicklung des türkisch-deutschen Kabaretts siehe Mark Terkessidis: Kabarett und Satire deutsch-türkischer Autoren. In: Chiellino, Carmine (Hrsg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart (Metzler) 2000, S. 294-301. Zu neueren Entwicklungen türkischer Comedy siehe den Abschnitt 2. 'Turkish light' – A New Genre  in meinem Aufsatz  Turkish-German Screen Power – The Impact of Young Turkish Immigrants on German TV and Film  in gfl-journal No. 1/2008, S. 73-99. Dort weitere Links und Literaturhinweise.

22 Siehe dazu meinen Beitrag Türkischdeutsche Literatur. In: Tayfun Demir (Hrsg.): Türkischdeutsche Literatur. Chronik literarischer Wanderungen. Duisburg (Dialog Edition) 2008, S. 11-15.

23 Adelson wie in Anm. 2. Siehe dazu auch die Beiträge von Carmine Chiellino und Immacolata Amedeo in diesem Dossier.

24 Berkan Karpat / Zafer Şenocak: Landstimmung. Neue Gedichte. München (Babel Verlag) 2008, S. 12.

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Karin E. Yeşilada promovierte über die deutsch-türkische Migrationslyrik und ist zur Zeit Lehrbeauftragte an der Universität München sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn. Publikationen zur Migrationsliteratur.