von Agnes Krol
Thilo Sarrazins umstrittenes Interview in der Zeitschrift „Lettre International“ brachte den Diskurs um Integration und Migration kürzlich zurück in den Fokus der Öffentlichkeit. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit wird so von Teilen in der deutschen Öffentlichkeit als mutiger Tabubruch gefeiert.
Auch in diesem im Oktober 2009 erschienenen Interview ist der ehemalige Berliner Finanzsenator sehr bemüht, den Eindruck eines gut informierten und sachlich argumentierenden Freidenkers zu erwecken. Auf welche Zahlen er sich bezieht, wenn er von siebzig Prozent der türkischen, respektive neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin spricht, die den deutschen Staat angeblich ablehnen, steht zwar in den Sternen. Doch wer im Anschluss die ständige Produktion „neuer kleiner Kopftuchmädchen“ brandmarkt, muss so viel Präzision wohl nicht leisten, da er ja ausspricht, „was alle denken“. Das Interview, das auch die Bild unerlaubt abdruckte, sorgte für beträchtliche Furore. Viele Kritiken, aber auch Verteidigungen zierten die Tagespresse. Die Neonazi-Homepage „politically incorrect“ ruft mittlerweile zur Unterzeichnung einer „Support Sarrazin“-Petition auf, und auch in durch mehr Kontroverse gekennzeichneten Diskussionsforen bewundert gut die Hälfte aller User „den Mut“, den „Tabubruch“ Sarrazins, den „entlarvenden“ Charakter seiner Äußerungen oder findet seinen Standpunkt zumindest „interessant“.
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Der Qualifizierung von Sarrazins Aussagen als „mutig“ muss eine ziemlich sonderbare Vermutung zugrunde liegen: die Mehrheit in Deutschland ohne Migrationshintergrund kann über die Minderheit mit Migrationshintergrund bestimmte „Wahrheiten“ nicht sagen, sie bekommt von der Minderheit Tabus auferlegt und Regeln der öffentlichen Auseinandersetzung diktiert.
Deutsch oder nicht deutsch
Dabei handelt es sich bei dem Begriff, der hier zur Projektionsfläche wird, um eine recht junge Erfindung des statistischen Bundesamtes. Erst seit 2005 werden in der amtlichen Statistik Personen in der Kategorie „Menschen mit Migrationshintergrund“ erfasst, „die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.“ Seit dem ist dieser Begriff aus öffentlichen Debatten kaum mehr wegzudenken und bildet neben „AusländerInnen“ und „MigrantInnen“ eine weitere, umfassendere Schlüsselkategorie zur Unterscheidung der in Deutschland lebenden Menschen.
Mit einer deutschen Mutter und einem polnischen Vater falle auch ich unter die offizielle Definition und bin eine „Person mit Migrationshintergrund“. Gemeint bin ich trotzdem nicht, das weiß ich schon seit der Grundschule: Im dritten Schuljahr sollten wir uns einmal nach Nationalitäten geordnet in der Klasse aufstellen, auf der einen Seite des Raumes die deutschen, auf der anderen Seite die nicht-deutschen Kinder. Als ich, mit keiner der Optionen zufrieden, mich in die Mitte stellen wollte, hielt mich meine Lehrerin jedoch davon ab und meinte wohlwollend zu mir, ich gehöre natürlich auf die deutsche Seite. Gedankenexperiment: Wo hätte ich gestanden, wäre eines meiner Elternteile türkischer oder äthiopischer Herkunft?
„Neutralität“ der Kategorien
Wie jedes Konzept zur Unterscheidung von Menschen, die dazu gehören, und anderen, die es nicht tun, ist auch die statistische Kategorie „Menschen mit Migrationshintergrund“ nur vermeintlich wertneutral. Spätestens seit sie Eingang in die Alltagssprache gefunden hat, sind damit nur ganz bestimmte Gruppen von ImmigrantInnen und deren Nachfahren gemeint. Thilo Sarrazin verdeutlicht das in einem doppelzüngigen Versuch, sich politisch korrekt zu geben: Er beharrt in seinem Interview darauf, nicht pauschal von „den Migranten“ sprechen zu wollen. Integrationsprobleme haben seiner Auffassung zufolge insbesondere Menschen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund.
Auch eine Podiumsdiskussion, zu der kürzlich die Frankfurter SPD-Fraktion einlud, schließt sich an diese Form der Problematisierung an. Bis auf die Moderatorin, deren Herkunft wohl nicht als erläuterungsbedürftig empfunden wurde, stammten die Podiumsgäste als Kinder ehemaliger Gastarbeiter ausnahmslos aus Ländern, die ans Mittelmeer grenzen. Unter dem Motto „Frankfurt in 20 Jahren – Wie sehen Migranten unsere Stadt?“ diskutierten eine Sängerin, eine Radiomoderatorin, ein Stadtverordneter und ein Modedesigner – Menschen, die „es geschafft haben“.
Diese „Vorführung“ erfolgreicher MigrantInnen, denen durch die Veranstalter ihr Vorbildcharakter attestiert wurde, erinnerte mich stark an den „American Dream“ und seine Legitimationsfunktion für den amerikanischen Kapitalismus sozialdarwinistischer Prägung. Auch andere Facetten der mehrheitsgesellschaftlichen Inszenierung von Migration in Deutschland kamen in der Veranstaltung deutlich zum Vorschein. Da ist etwa eine ältere Dame aus dem Publikum, die sich mehr ältere MigrantInnen in der Oper wünscht und sich sehr missverstanden fühlt, als sie für ihre Äußerungen kritisiert wird. „Die müssen doch mal an unseren gesellschaftlichen Aktivitäten Interesse zeigen, ich geh doch auch zu solchen Veranstaltungen.“ Oder ein Mädchen, das sich bemüht, ihre Vorrednerin in Schutz zu nehmen und ihr darin zustimmt, dass die MigrantInnen mehr auf die Deutschen zukommen sollten. Das gleiche Mädchen erzählte kurz vorher, wie ausgeschlossen sie sich vor ihrem Schulwechsel als einzige Türkin in ihrer alten Klasse fühlte.
Zwar werden Beispiele für Diskriminierungen im Alltag genannt. Das deutsche Schulsystem wird kritisiert, dass in seiner Selektivität überproportional vielen SchülerInnen mit Migrationshintergrund den Weg zu höherer Bildung versperrt. Von Rassismus ist in der gesamten Veranstaltung jedoch nicht die Rede, bis auf einen Podiumsgast, der findet, dass auch Nazis ihre Meinung frei äußern dürfen sollten.
Auch in der Einladungspolitik der Frankfurter SPD zu ihrer Veranstaltung, dem wohlmeinenden Kommentar meiner Lehrerin oder der Gegenüberstellung von europäischer und fremder Kultur, deutschen Kindern, „Kopftuchmädchen“ und Sarrazins männlichem Pendant dazu, „türkischen Jungen“, die „nicht auf weibliche LehrerInnen hören, weil ihre Kultur so ist“ sind jedoch bereits Rassismen am Werk. Zwar wird auch Menschen mit osteuropäischem Migrationshintergrund dieser medial vorgeführt, wenn sie arbeitslos oder kriminell werden: So etwa im Fall des "Russlanddeutschen Alex W.", dessen Herkunft in den Medien stets eifrig hervorgehoben wurde, vermutlich, um den Rassismusvorwurf zu entschärfen, der im Kontext des Mordes an der jungen Ägypterin Marwa el-Sherbini gegenüber der deutschen Öffentlichkeit erhoben wurde. Doch fügen diese Menschen sich aufgrund ihrer meist weißen Hautfarbe sonst gut in das Bild ein, das sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft offenbar gerne von sich selbst macht. Anders bei Menschen, die eine dunklere Hautfarbe haben und automatisch einem "anderen Kulturkreis" zugeordnet werden. Hier wird die Bezeichnung des Migrationshintergrundes obligatorisch, über Generationen hinweg und vom Kontext unabhängig.
Schwarz auf Weiß und Weiße für Schwarze?
Diese Reduktion von Menschen auf ihre Herkunft qua physischen Erscheinungsbildes dokumentiert auch Günther Wallraff in seinem neuen Film „Schwarz auf Weiß“. Als Schwarzer Somalier verkleidet, zieht er darin durch Deutschland und dokumentiert den Rassismus, dem er begegnet, auf der Suche nach einer Wohnung in Köln, als kurzentschlossener Begleiter einer Seniorenwandergruppe oder auf einem Fest in einem Kleingartenverein, in dem er aufgrund seiner authentischen Erscheinung gleich zum Pascha gekürt wird, um der Darbietung kleiner bauchtanzender Mädchen beizuwohnen. „Deutschland den Deutschen, Afrika den Affen“ - mit diesem Spruch, den er vor einem Club entgegengeschmettert bekommt, leitet Wallraff seinen Film ein und verhüllt damit, dass Rassismus eben nicht nur ein Problem der extremen Rechten und Nazi-Szene ist.
Weder vermag Wallraffs Darstellung der Komplexität und Umfassendheit des Themas gerecht zu werden, noch sind es Neuigkeiten, die er seinem Publikum darbietet. Schon seit längerer Zeit gibt es auch in Deutschland Gruppen von Schwarzen und People of Colour, die sich mit solchem alltäglichem Rassismus beschäftigen, der wesentlich facettenreicher ist, als der Film ihn zu erfassen vermag. Dennoch bedarf es erst eines schwarz bemalten Günther Wallraff, um dieses Thema in die deutschen Kinos zu bringen. „Ich finde das eine der problematischen Sachen an der ganzen Geschichte“, kritisiert ihn dazu Noah Sow, Autorin des Buches „Deutschland Schwarz Weiß“. „Überall ist Wissen über Alltagsrassismus präsent. Weiße müssen nur aufhören, dieses Wissen zu ignorieren oder anzuzweifeln“.
Doch das würde für die Mehrheitsgesellschaft, die ein exklusives Recht auf deutschen Boden und den deutschen Staat (nicht deutsche Geschichte) für sich beansprucht, einen Machtverlust mit schwierigen Konsequenzen bedeuten. Die Ursachen von Krisen im Bildungssystem, auf den Arbeitsmärkten, im gesellschaftlichen Lebensgefühl oder anderswo ließen sich dann nicht mehr externalisieren. Sie müssten drinnen, in Politik, Zusammenleben, und gesellschaftlicher Ordnung, gesucht und zwar falsche, aber in ihrer Einfachheit liebgewonnene und die eigene Identitätsposition stärkende rassistische Erklärungsmuster aufgegeben werden.
Dezember 2009
Agnes Krol, 22, studiert Politikwissenschaften, VWL, Philosophie und Pädagogik an der Goethe-Universität in Frankfurt.