von Uwe Hunger
Die Idee einer Demokratie ist, dass die BürgerInnen, die in ihr leben, mitbestimmen können, welche gemeinsamen Regeln für ihr Zusammenleben gelten sollen. Ist ein Teil der BürgerInnen von diesem Prozess ausgeschlossen, hat die Demokratie ein Problem: Sie wird ihrem demokratischen Anspruch nicht gerecht und verliert an Legitimation. Die ausgeschlossene Gruppe verliert das Zutrauen in das politische System wird und benachteiligt, weil ihre Interessen weniger berücksichtigt werden als andere. In Deutschland leben zurzeit etwa 7,2 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Sie alle besitzen nicht das allgemeine Wahlrecht und sind daher – mit Ausnahme der EU-BürgerInnen bei Kommunal- und Europaparlamentswahlen – an allen Wahlen, der wichtigsten Partizipationsform in einer repräsentativen Demokratie, ausgeschlossen. Deswegen hat Deutschland ein Demokratieproblem, und man spricht in diesem Zusammenhang seit Jahrzehnten von dem sog. „Demokratiedefizit“, dessen Behebung als eine der wichtigsten Maßnahmen zur „Integration“ der Gesellschaft und der von MigrantInnen gelten kann. Dieser Beitrag stellt sich der Frage, wie man dieses Demokratiedefizit überwinden und die mangelnde politische Partizipation von AusländerInnen bzw. von MigrantInnen fördern kann.
Bedeutung der Staatsbürgerschaft
Die erste Antwort auf diese Frage lautet natürlich durch die Ausweitung des Wahlrechts auf AusländerInnen bzw. die weitere Öffnung der Staatsbürgerschaft bis hin zur doppelten Staatsbürgerschaft, durch die bisherige AusländerInnen dann das allgemeine und freie Wahlrecht erhalten würden. Das Kalkül hinter dieser Forderung besteht nicht nur darin, dass AusländerInnen/MigrantInnen dadurch die vollen Staatsbürgerrechte hätten und an politischen Abstimmungen usw. teilzunehmen könnten, mindestens ebenso wichtig ist auch, dass sich allein durch Option, an Wahlen teilnehmen zu können, auch das Kalkül der politischen Parteien gegenüber MigrantInnen ändern würde. MigrantInnen werden durch die Einbürgerung zu WählerInnen, die dann von den Parteien und anderen politischen Institutionen ernster genommen werden müssen, weil sie nun über ein Mittel (Wahlstimmen) verfügen, politische Entscheidungen oder Äußerungen zu sanktionieren (etwa durch die Vergabe der Stimme für eine andere Partei) (vgl. hierzu näher Hunger 2001). Die Ausweitung des Wahlrechts bzw. die Einbürgerung kann daher als der Königsweg hin zur vollwertigen politischen Partizipation von MigrantInnen angesehen werden.
Während die Ausweitung des Wahlrechts auf AusländerInnen (mit Ausnahme des Kommunalwahlrechts für EU-BürgerInnen) jedoch seit Jahrzehnten an Verfassungsbedenken scheitert, wurde mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 ein wichtiger Schritt in diese Richtung getan. (1) Vor allem ein Großteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird dadurch einen rechtlichen Zugang zu den politischen Entscheidungsmechanismen in Deutschland bekommen. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte politische Partizipation von MigrantInnen. Ein großer Teil der MigrantInnen bleibt aber auch weiterhin von den zentralen politischen Entscheidungsmechanismen in der Bundesrepublik Deutschland ausgeschlossen, sei es weil sie (noch) nicht das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben oder weil sie das Recht nicht in Anspruch nehmen wollen, um z.B. nicht ihre erste Staatsbürgerschaft aufgeben wollen. Für diese Gruppe wurde in der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von Ersatz-Strukturen geschaffen, die aber zeigen, dass es zur gleichberechtigten politischen Teilhabe kaum Alternativen gibt. Dies zeigen insbesondere die Erfahrungen mit den sog. Ausländerbeiräten, die in der Anfangszeit der Einwanderung nach Deutschland in den Kommunen quasi als Ersatz für die fehlenden politischen Teilhaberechte (infolge der fehlenden Staatsbürgerschaft) eingeführt worden waren. Aus diesem Beispiel kann man lernen, dass gleichberechtigte Partizipation nur über gleiche politische Rechte zu erlangen ist.
Die Lehre aus den (gescheiterten) Ausländerbeiräten
Ausländerbeiräte wurden in den Kommunen eingerichtet, um die soziale, politische und rechtliche Integration der AusländerInnen in der Kommune zu fördern: (2) Die Beiräte hatten die Aufgabe, die Kommune in all den Fragen zu beraten, die die Belange der ausländischen Bevölkerung betrafen. Damit sollten die in Deutschland lebenden MigrantInnen Einfluss auf den Entscheidungsprozess in der Kommune bekommen. Wahlberechtigt (aktiv und passiv) waren in der Regel alle AusländerInnen, die schon mehr als drei Monate in einer Kommune lebten, und auch eingebürgerte MigrantInnen. Das Problem der Ausländerbeiräte bestand aber von Anfang an darin, dass sie nur beratende Funktion hatten und damit wenig Einfluss auf die letztendlichen Entscheidungen im Gemeinderat. In den meisten Kommunen bestand lediglich für die Vorsitzenden der Ausländerbeiräte ein Rederecht (vgl. Enders 2005).
Zwar wurden die Ausländerbeiräte inzwischen in vielen Bundesländern in sog. Integrationsräte umgewandelt und mit etwas größeren Kompetenzen ausgestattet, ihr Einfluss bleibt bis heute jedoch gering. Entsprechend ist die Akzeptanz des Gremiums unter MigrantInnen gering. Viele MigrantInnen kennen dieses Gremium nicht einmal, die Wahlbeteiligungen sind extrem niedrig. In nicht wenigen Kommunen lag und liegt die Wahlbeteiligung unter 20 Prozent – und das über Jahrzehnte hinweg. Ob Forderungen, die Beiräte mit mehr Kompetenzen und Ressourcen auszustatten, etwas an der unbefriedigenden Situation der Beiräte etwas ändern würden, ist zweifelhaft. (3) Es scheint sich – wie oben schon gesagt – an diesem Fall das generelle Problem zu zeigen, dass echte Partizipation eben doch nur mit echten Rechten einhergeht. Hierauf deutet auch ein weiteres Beispiel, in diesem Falle, ein gelungenes Beispiel politischer Beteiligung von MigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland hin: die (gleichberechtigte) Beteiligung von MigrantInnen in Gewerkschaften und Betrieben.
Positive Erfahrungen der Beteiligung von MigrantInnen in Gewerkschaften und Betrieben
Nachdem sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu Beginn der Anwerbeperiode Mitte der 1950er Jahre darauf geeinigt hatten, ausländische ArbeitnehmerInnen deutschen Arbeitnehmern rechtlich gleichzustellen, indem z.B. gleiche Löhne gezahlt und AusländerInnen mit gleichen Rechten in die Sozialversicherung aufgenommen wurden, folgte sehr schnell die Einbeziehung von ausländischen ArbeitnehmerInnen in das duale System der Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen von Betriebsrat und Gewerkschaften. Insbesondere die Gewerkschaften sahen in den ausländischen ArbeitnehmerInnen ein neues Mitgliederpotential und begannen deshalb, die ausländischen ArbeitnehmerInnen in die deutsche Gewerkschaftsbewegung zu integrieren. Zu Beginn der 1970er Jahre wurde im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ein eigenständiges Referat „Migration“ eingerichtet, das unmittelbar beim DGB-Bundesvorstand angesiedelt ist. In diesem Referat wird seither die Arbeit für ausländische ArbeitnehmerInnen gebündelt, und es werden Initiativen und Integrationsmaßnahmen für ausländische Beschäftigte entwickelt und organisiert. Seit 1972 besitzen AusländerInnen zudem das aktive und passive Wahlrecht in der betrieblichen Mitbestimmung, d.h. ausländische ArbeitnehmerInnen können wie ihre deutschen Kollegen in Führungs- und Funktionsstellen gewählt werden.
Der Organisierungsgrad ausländischer Arbeitskräfte ist heute in vielen Bereichen höher ist als deutscher ArbeitnehmerInnen. MigrantInnen stellen daher eine wichtige Ressource der Organisationskraft der Gewerkschaften dar (insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Gewerkschaften unter einem starken Mitgliederschwund leiden). Umgekehrt dienen die Gewerkschaften den ausländischen Arbeitnehmern bzw. MigrantInnen nicht nur als Interessenvertretung in den Betrieben, sondern verstehen sich infolge der tiefen organisatorischen Verankerung auch als ihre politische Interessenvertretung. Hieraus lässt sich schließen, dass dort, wo die Interessen von MigrantInnen konkreter angesprochen und umgesetzt werden und sie auch über die gleichen Rechte und Pflichten verfügen, MigrantInnen auch politisch aktiver sind. Dies macht auch noch einmal deutlich, warum die Staatsbürgerschaft bzw. das Wahlrecht eine so übergeordnete Bedeutung für die politische Beteiligung von MigrantInnen hat: Erst wenn MigrantInnen eine Stimme haben, wird auch auf sie gehört. Dies erklärt – vor dem Hintergrund der relativ geringen Einbürgerungsraten in Deutschland – die bis heute geringe politische Integration von MigrantInnen in die deutschen Parteien, den zentralen Instanzen der politischen Willensbildung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland.
Parteien als zentrale Instanzen der politischen Willensbildung
Die geringe politische Partizipation von MigrantInnen in den deutschen Parteien lässt sich vor allem an der geringen Quote von MigrantInnen an der Gesamtmitgliedschaft der Parteien ablesen. 2004 lag sie bei etwa einem Prozent (vgl. Beauftrage 2005: 314). Als Ursache für diese fehlende Partizipation, geben MigrantInnen selbst an, dass Parteien ihre wichtigsten politischen Interessen nicht vertreten würden. Eine Erklärung hierfür könnte das oben angeführte Argument sein, dass Bevölkerungsgruppen für Parteien erst interessant werden, wenn diese das Wahlrecht besitzen, und die Parteien auf diesem Wege unterstützen können. Es lässt sich aber beobachten, dass durch die wachsenden Einbürgerungszahlen MigrantInnen mehr und mehr in den Fokus der Parteien rücken (vgl. Wüst 2002, Tietze 2008). So existieren inzwischen in fast allen Partien Gremien und Arbeitsgruppen, die sich explizit mit dem Thema ‚Migration und Integration’ auseinandersetzen (z.B. das Deutsch-Türkische Forum in der CDU oder die AG „Grüne Muslime“).
Ziel ist es auch MigrantInnen (als potentielle WählerInnen) für die Parteibewegung zu gewinnen. Auch die zunehmende Benennung von PolitikerInnen mit Migrationshintergrund in hohe Partei- und Staatsämter (bis hin zum Bundesvorsitz einer Partei und zu Ministerämtern) könnte als Indiz einer solchen Entwicklung gedeutet werden (vgl. hierzu Hunger 2001). Hier ist es wichtig, die Einbürgerung weiter zu forcieren. Denn insgesamt ist die Repräsentation von Personen mit Migrationshintergrund im politischen System der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor gering. Im Bundestag beträgt der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund etwa zwei Prozent und auch in den Landesparlamenten liegt der Anteil bei deutlich unter zehn Prozent (während er im Bundesdurchschnitt über 20 Prozent liegt). Dies führt dazu, dass die Interessen von MigrantInnen im politischen Diskurs weniger berücksichtigt werden (vgl. Diehl/Urbahn/Esser 1998). Man könnte sich daher wünschen, dass sich die inländischen politischen Institutionen in Deutschland stärker öffnen würden, sie machen dies aber wohl erst, wenn sie entsprechende Anreize (sprich die Gewinnung eines neuen Wählerpotentials) dafür sehen.
Empowerment in MigrantInnenorganisationen
Der fehlenden Einbindung von MigrantInnen in den etablierten politischen Institutionen, vor allem in den Parteien, steht eine große und ausdifferenzierte politische Landschaft von sog. MigrantInnenselbstorganisationen gegenüber. Diese von und für MigrantInnen gegründeten Organisationen und Vereine waren lange Zeit die einzige Form, um sich politisch selbstständig zu engagieren und auch politische Forderungen gegenüber dem Aufnahmeland geltend zu machen. Anfangs wurde der häufige Herkunftsbezug von MigrantInnenselbstorganisationen sehr kritisch gesehen. Verschiedene Studien haben gezeigt (früher Breitenbach 1986, heute noch Oestergaard-Nielsen 2003, 2005, Argun 2003), dass MigrantInnen in Deutschland vielfach durch die Konflikte in ihrem Herkunftsland politisiert wurden und sich somit auch stärker für die Politik in ihren Herkunftsländern interessierten. Dies wurde als ein Hindernis für die Integration in Deutschland angesehen. MigrantInnenselbstorganisationen galten daher in den Augen vieler Arbeiten lange Zeit als Exilorganisationen, die Politik gegen oder für die Regierungen in den Herkunftsländern machten.
Heute erfüllen MigrantInnenorganisationen auch wichtige Funktionen in Bezug auf die politische Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland: Aus kleinen Vereinen sind im Laufe der Jahrzehnte große, durchsetzungsfähige Verbände geworden, die zunehmend als politische Akteure auftreten und als solche wahrgenommen werden (vgl. etwa Ammann 2001, Janßen/Polat 2006). Sie bündeln die Interessen von MigrantInnen mittlerweile in bundesweiten Zusammenschlüssen, die versuchen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Als Paradebeispiel hierfür gelten die Elternvereine von spanischen MigrantInnen, die sich seit den 1970er Jahren intensiv für eine Veränderung in der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt haben. Konkret haben sie sich erfolgreich für die Abschaffung einer separaten Beschulung von in- und ausländischen Kindern in deutschen Schulen eingesetzt (vgl. Riesgo 1999). Außerdem haben sie Hausaufgabenbetreuung für spanische SchülerInnen organisiert. Heute gehören SchülerInnen spanischer Herkunft zu den erfolgreichsten Gruppen im deutschen Schulsystem. Dieser Erfolg wird vor allem auf die bildungspolitischen Aktivitäten der Elternvereine zurückgeführt.
Heutige wichtige Interessenverbände sind zum Beispiel die Türkische Gemeinde in Deutschland oder die Bundesarbeitsgemeinschaft der ImMigrantInnenverbände (BAGIV) zu zählen. Diese Zusammenschlüsse werden zunehmend als politische Akteure wahrgenommen und in Dialogrunden (zum Beispiel Islamkonferenz der Bundesregierung) in die politischen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland eingebunden. Die MigrantInnenselbstorganisationen agieren aber nicht nur nach außen als politische Interessenvertretungen, im Rahmen der Vereinsarbeit eignen sich viele MigrantInnen partizipatorische Fähigkeiten an, die eigenen Bedürfnisse zu artikulieren und Lösungsstrategien für Probleme zu formulieren (vgl. Jungk 2002). Vor diesem Hintergrund erscheint die alte Entgegensetzung von integrationsfreundlichen und integrationsfeindlichen MigrantInnenselbstorganisationen überwunden zu sein. Die Politik geht heute eher der Frage nach, wie die Einbindung von MigrantInnenselbstorganisationen in den politischen Prozess am besten gestaltet werden kann und fördert zum Beispiel auch Kooperationen zwischen MigrantInnenorganisationen und etablierten (deutschen) Verbände. Dies ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Heute ist fast jede/r zweite MigrantIn in Deutschland (etwa 60 Prozent) in einem Verein bzw. einer MigrantInnenselbstorganisationen engagiert (vgl. Diehl 2002: 167).
Die Rolle der (Neuen) Medien
Auch die klassischen Massenmedien tragen durch ihr Angebot zur politischen Partizipation der Bürger bei, in dem sie diese über politische Ereignisse informieren, sie in die politische Öffentlichkeit einbeziehen und dadurch politische Willensbildungsprozesse bei den MediennutzerInnen anregen. Hier stellte sich lange Zeit die Frage, inwiefern inländische Medien stärker auf die Themen und Bedürfnisse von MigrantInnen eingehen sollten, um das Interesse am politischen Prozess in der Bundesrepublik Deutschland zu erhöhen bzw. zu wecken. Gerade wegen der Konkurrenz der Medien aus den Herkunftsländern spielte diese Frage lange Zeit eine zentrale Rolle. Im Zeitalter des Internet hat sich diese Debatte etwas verändert, da inländische wie ausländische Medien im Grunde immer und überall verfügbar sind. Heute steht mehr die Frage im Vordergrund, inwieweit das Internet selbst ganz neue Partizipationspotentiale, gerade auch für MigrantInnen, in sich birgt. Dadurch, dass politische Angebote im Internet selbst einfacher hergestellt und zugänglich gemacht werden können, könnte das Internet auch zu einer Diversifizierung von Themen und Interessen beitragen, so dass gerade auch benachteiligte Gruppen ihre politischen Aktivitäten ausbauen.
So können politische Themen angesprochen werden, die es sonst nicht auf die politische Agenda oder in den öffentlichen Diskurs geschafft hätten, da sie nur wenige betreffen. Dies trifft in besonderem Maße auf minderheitenspezifische Themen zu, die aufgrund geringer wahlpolitischer Relevanz, selten aufgegriffen und vertreten werden. Mit dem Internet steht nun ein Raum zur Verfügung, in dem diese Themen aufgegriffen und öffentlich diskutiert werden können. In einer Pilot-Studie zur Internetnutzung von jungen MigrantInnen türkischer Herkunft (vgl. Kissau/Hunger 2009) konnte gezeigt werden, dass gerade diese junge Generation das Internet nutzt, um sich über politische Themen zu informieren, auszutauschen und letztlich auch zu engagieren. Natürlich muss noch abgewartet werden, ob diese Themen bzw. selbst-produzierten Medien und Informationsseiten auch auf den zentralen, meist frequentierten Internetseiten angesprochen oder aufgegriffen werden und dann auch von der Mehrheitsöffentlichkeit „gehört“ werden. Das politische Potential des Internet ist aber sicher groß und weitgehend unerschlossen. Dies zeigt, wie wichtig gerade die Förderung von Medienkompetenz (gerade auch bei Nutzern mit Migrationshintergrund) ist.
Die Wichtigkeit von (politischer) Bildung
Damit ist vielleicht der wichtigste Aspekt der politischen Partizipation von MigrantInnen angesprochen worden: Die Rolle der Bildung und der politischen Bildung für die Partizipationsbereitschaft und -fähigkeit der BürgerInnen. In vielen Studien wurde immer wieder deutlich, wie entscheidend, die Sozialisationsbedingungen für die Entwicklung der politischen Einstellungen und der Bereitschaft zur politischen Partizipation sind. Allgemein kann gesagt werden, dass je höher der sozioökonomische Status, hier speziell der Bildungshintergrund ist, desto größer ist auch das politische Verständnis und Interesse. Da ein Großteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter sozial schwierigeren Verhältnissen aufwächst, wird dementsprechend ein geringeres Interesse und Bewusstsein für politische Zusammenhänge entwickelt, als dies zum Beispiel bei gleichaltrigen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund der Fall ist. Die Unterschiede zwischen den politischen Orientierungen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund lösen sich aber bei Betrachtung der sozioökonomischen Hintergrundvariablen, neben dem Bildungsgrad spielt vor allem auch das Einkommen der Eltern eine Rolle, weitgehend auf.
Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die über eine höhere Bildung (mittlere Reife und höher) verfügen, gibt es kaum Unterschiede zu den politischen Einstellungen, Interessen und der Bereitschaft zur politischen Partizipation von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund mit einem ähnlichen Bildungshintergrund. Allerdings spielen Sprachkenntnisse für die politische Partizipation und die politische Bildung eine entscheidende Rolle. Daraus ergibt sich, dass die Förderung von politischer Partizipation von MigrantInnen vor allem eine Frage der Bildung und der Bildungsförderung ist. Hier bestehen nach wie vor die größten Defizite in der Integrationspolitik in Deutschland. Die Verbesserung der schulischen Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist der Schlüssel für die Integration generell und ist auch für die politische Partizipation von zentraler Bedeutung ist. Bildungspolitik und auch die Förderung der politischen Bildungsarbeit sollte deshalb zu einem wichtigen Aufgabengebiet der Integrationspolitik werden (vgl. hierzu auch Bundeszentrale für Politische Bildung 2010).
Fazit
Diese kurze Zusammenschau hat gezeigt, dass die politische Aktivität von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland in der Realität noch immer mit einigen Problemen behaftet ist. Abgesehen vom allgemeinen Wahlakt, der nur deutschen Staatsangehörigen offen steht, gibt es verschiedene weitere Möglichkeiten an der politischen Öffentlichkeit teilzunehmen, die jedoch auch nur in geringem Ausmaß von MigrantInnen zur politischen Teilhabe genutzt werden. Insbesondere die Beteiligung in politischen Parteien, die in Deutschland eine so zentrale Rolle im politischen System einnehmen, ist gering. Ändern kann man dies am besten, indem man die Staatsbürgerschaft für neue Mitglieder weiter öffnet und attraktiv macht. Das Problem ist, dass aus Sicht des Einzelnen der Mehrnutzen der deutschen Staatsbürgerschaft (und des damit verbundenen Wahlrechts) relativ gering erscheint. In der Summe es aber einen großen Unterschied in der Positionierung der Parteien und Politiker ausmachen dürfte, wenn eine große Anzahl von neuen Wählern „auf den Markt“ kommen würde. Interessen von MigrantInnen würden dadurch besser berücksichtigt und damit sicher auch das Interesse von MigrantInnen an der (deutschen) Politik steigen.
Der Text basiert auf einer Expertise, die der Autor zusammen mit Menderes Candan M.A. an der Universität Münster im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erstellt hat. Lesen Sie die vollständige Expertise als pdf
Endnoten
1 In diesem Zuge wurde die Aufenthaltsdauer für die Beantragung der Einbürgerung von 15 Jahren auf acht Jahre verkürzt und das Abstammungsprinzip um das Geburtsprinzip erweitert wurde. Damit schloss Deutschland zu anderen europäischen Ländern auf, die schon früher ihre Einbürgerungsregeln liberalisiert hatten (z.B. die skandinavischen Länder) und MigrantInnen damit schon sehr viel früher Mitentscheidungsrechte in der Politik gegeben hatten (vgl. Sauer/Goldberg 2001: 104).
2 Vorläufer der Ausländerbeiräte waren sog. Ombudsmänner für Ausländerfragen und sie sog. Koordinierungskreise. Die Rolle des Ombudsmannes bestand darin, den MigrantInnen Unterstützung in Fragen des täglichen Lebens zu geben und sie gegenüber der Verwaltung politisch zu vertreten. Die Koordinierungskreise setzten sich aus VertreterInnen von gesellschaftlichen Organisationen (Kirchen, Verbände, Parteien, Gewerkschaften) und Einrichtungen in der Kommune (Stadtverwaltung, Arbeitsamt) zusammen. Die Koordinierungskreise arbeiteten mit VertreterInnen von Migrantenorganisationen auf kommunaler Ebene zusammen (vgl. hierzu etwa Zapf 1978). Ab Mitte der 1980er Jahre wurden die Koordinierungskreise Schritt für Schritt durch Ausländerbeiräte ersetzt.
3 Hier wurde oftmals auf andere EU-Staaten verwiesen, wo die Vertretungen der MigrantInnen auf kommunaler Ebene über deutlich mehr Kompetenzen und mehr Ressourcen verfügen (insbesondere in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden). Dadurch sind sie besser in die kommunalen politischen Strukturen integriert und werden stärker als PartnerInnen wahrgenommen (vgl. Sen/Jahn 1985, Thränhardt 1985, Koopmans 2004). In Fragen der Mitentscheidungskompetenzen, Einbezug in Planungsprozesse, Stärkung der Wahrnehmung könne man von diesen Ländern lernen bzw. von ihrer Erfahrung profitieren. Die fehlende Mitentscheidungskompetenz wird auch als Grund dafür gesehen, dass die Ausländerbeiräte über eine geringe Akzeptanz unter den MigrantInnen selbst verfügen und von der Kommunalverwaltung wenig eingebunden werden. Hoffmann zeigte z.B. in einer Studie aus dem Jahr 1986, dass die Ausländerbeiräte von den politischen Entscheidungsträgern in den Kommunen wenig ernst genommen wurden und nur eine „Alibifunktion“ hätten, eine Alibifunktion in dem Sinne, dass zwar pro forma AusländerInnen an dem Entscheidungsprozess teilnehmen würden, faktisch ihre Meinung aber kaum eine Rolle spiele. Auch die geringe Wahlbeteiligung und der intransparente Wahlvorgang zu den Ausländerbeiräten werden in vielen Forschungsarbeiten heftig kritisiert (vgl. etwa Wichmann 1989, Lubinski 1994 und Ottersbach 2003).
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Dr. Uwe Hunger ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Sprecher des Arbeitskreises „Migrationspolitik“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW).