Friedrich hat sein Archäologiestudium für die Liebe zur Kunst abgebrochen. Er hat so eine byzantinische Münze, die man eigentlich nicht haben darf. Spätbyzantinisch, sagt er, vierzehntes, fünfzehntes Jahrhundert. Ich stelle mir vor, wie man ein Loch in die obere Hälfte dieser Münze hineinbohrt, um sie als Medaillon zu tragen, verwerfe aber den Gedanken, weil man in byzantinische Münzen keine Löcher bohrt.Wenn ich ein Typ wäre, sage ich zu ihm, hätte ich einen Schnurrbart oder einen Drei-Tage-Bart und ganz lange, absurd lange Koteletten, und ich würde, wenn ich Geld hätte, einen Mustang fahren, aber Geld, so sage ich, hätte ich sicher auch als Mann nicht. Außerdem, füge ich hinzu, würde ich zu Tussen du Tussi sagen, und hui, das wäre ein Spaß, du langweilst mich, du Tussi!, würde ich sagen. Auch, füge ich hinzu, würde man mich gewiss falsch einschätzen, denn ich wäre tugendhaft, stets aufrichtig, ein Mann des Wortes wäre ich, jawohl. Wenn er ein Mädchen wäre, sagt er, würde er sich sogleich in mich verlieben. Und ich sage, wenn du keine Tussi wärst, könnten wir es ja versuchen. Er wäre ganz sicher keine Tussi. Und wir vereinbaren, dass wir es in einem anderen Leben, wenn es denn so kommen sollte, versuchen werden.
Die Geige, am liebsten eine Stradivari, in Kombination mit den vier Jahreszeiten von Vivaldi fände er zutiefst anregend, versucht es selbst aber mit einem Blasinstrument, das zu meinem Bedauern und zum Glück der Nachbarschaft kein Saxophon ist. Friedrich sagt, er sei halb-halb. Halb Deutscher und halb das andere Land, aus dem seine Vorfahren kämen. Ich sage, ich sei ganz-ganz, ganz Deutschland und eben das andere Land, aus dem meine Vorfahren kommen, denn halb, so soll er zugeben, ist ein negatives Wort. Gibt er aber nicht zu. Ganz könne man nicht zwei Mal sein, entgegnet er, auch sei es mathematisch bewiesen, dass zwei Halbe ein Ganzes ergeben. Davon weiß ich nichts, sage ich, und überdies, sage ich, reden wir hier nicht über eine Wissenschaft, und selbst wenn wir hier über eine Wissenschaft redeten, sage ich, würde sich diese sicherlich nicht Mathematik nennen, ja wenn, sage ich, dann würden wir hier über die Psychoanalyse reden, und die Psychoanalyse, sage ich, und höre dann auf zu sagen, weil ich meinen Anfangssatz vergessen habe.
Friedrich ist ein gescheiter Mensch und spricht mit einer pädagogisch einfühlsam ruhigen Stimme, die sich selbst nach zahllosen Unterbrechungen meinerseits nicht im Ton vergreift. Ein guter Gesprächspartner ist er, das liegt vor allem daran, dass er ein interessierter Zuhörer ist und nicht zu jenen gehört, die für Bestätigungen reden, sondern zu denen, die verdauen möchten. Und so reden wir so lange über das Halbhalbe und das Ganzganze, bis wir einnicken. Am nächsten Morgen spielt die Musikanlage immer noch Schuberts Winterreise, und die Kerzen sind erloschen. Gut, dass wir nicht – er halb-halb und ich ganz-ganz – verbrannt sind, denke ich mir beim Zähneputzen.
Wortgewandt ist er und kann sehr gut Rühreier machen. Neben meinen Rühreiern sind seine eine Delikatesse, und man dürfte sie nicht einfach Rührei nennen, wie sollte man denn sonst meine nennen? Ich rauche Zigaretten, er genießt ab und an Zigarillos. Dann genieße ich von seinen Zigarillos, er schielt schon zu seinen zwei Wasserpfeifen, und die Wohnung wird zur Kneipe. Rotwein und Weizenbier können ihm nichts anhaben, bei Weißwein, sagt er, er wisse nicht weshalb, stürze er ab. Aber nein doch, schüttelt er den Kopf, Abstürzen sei nicht betrunken sein, nimmt er sich eine Olive, Abstürzen sei, wenn man sich an den Vortag nicht mehr erinnert, einen Gedankenriss hat und nicht weiß, wie man ins Bett kam. Das ist mir noch nie passiert, leuchten mir die Augen, wegen der Geschichten, die er näher beschreiben könnte, aber nicht preisgibt, weil er scheinbar wieder einen Absturz hat.
Im Flur steht mit kursiver, schwarzer Schrift an der Wand: „Corruptio optimi pessima“. Das sei Latein und heiße übersetzt: „Die Entartung des Besten führt zum Schlimmsten“. Das Schlimmste ist hier schlimmer als das Schlimmste, das ohnehin existiert?, frage ich und er blickt mich an, als hätte er mir die Frage gestellt.
Friedrich wählt immer SPD, und schließt danach mit der Politik ab. So, sagt er, habe jetzt echt die Schnauze gestrichen voll davon, nie wieder SPD, mir reicht‘s. Wollen wir gleich zur NPD?, frage ich, aber er lässt sich nicht beruhigen, bis er mir den neuesten Artikel eines Abgeordneten vorträgt, über den ich mich derart aufrege, dass er sich ganz von allein beruhigt.
In Friedrichs Wohnzimmer hängt ein Bild von Cheiron. Ich stehe drei Minuten davor und er fängt an: Cheiron kommt aus der griechischen Mythologie; der Name ist griechisch, auf Latein würde man auch Chiron sagen. Er ist sehr weise und ein Freund der Götter. Außerdem ist er der Sohn des Kronos und der Philyra, er ist der Halbbruder des Zeus und der gerechteste Kentaur. Ein Kentaur – übrigens auch Zentaur genannt – ist ein Pferdemensch, erklärt er. Halbbruder des Zeus. Halbbruder des Zeus, Halbbruder, Zeus, versuche ich mir zu merken. Jedenfalls ist Cheiron ein Pferdemensch mit Kopf und Oberkörper eines Mannes und Körper und Beinen eines Pferdes. Bei Leuten, die sich halbehalbe fühlen, braucht man sich über derlei Bilder in ihrem Wohnzimmer nicht zu wundern. Bei mir hinge da gewiss ein Bild eines ganzen Pferdes und eines ganzen Mannes; schön getrennt voneinander, so wie es sich gehört.
Ich mag Friedrich. Wir beginnen zu telefonieren, wenn normale Menschen längst schlafen und reden bis zum Morgengrauen über Übersetzungen von Shakespeare. Er weiß, welche Art von Musik mir gefällt, macht mir Vorschläge, um dann hocherfreut mitzuteilen: Wusste ich‘s doch! Bei Gustav Mahlers Symphonie Nr. 5 Adagietto wusste er es auch. Außerdem hat Friedrich dieselben Artikelprobleme. Allein das ist schon Grund genug ihn zu mögen, finde ich.
Friedrichs Eltern kommen aus der Türkei und haben ihm einfach einen Namen gegeben, der nicht einmal so klingt wie ein Friedrich klingt. Ich bin die einzige, die ihn so nennt. Am Tag unseres Kennenlernens hatten wir nämlich beide ein Buch eines Dichters und Altphilologen in der Hand, der Friedrich Nietzsche heißt. Dass ich Friedrich Friedrich nenne, findet er in Ordnung; das sei besser als Kevin, Casimir oder Louis. Die Deutschen sind auch nicht mehr ganzganz die, die sie mal waren, sagt er.
Auszug aus "Das Halbhalbe und das Ganzganze", Verlag Literatur Quickie, 2014
Über Safiye Can
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"Ich schreibe nicht, weil ich eine Tscherkessin bin; Muepu Muamba schreibt nicht, weil er Kongolese ist; wir sind Dichter und Schriftsteller, das ist der Grund, weswegen wir schreiben."
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