Antisemitismus in Deutschland - Resistente Ressentiments

von Andreas Zick & Beate Küpper

Der Antisemitismus gehört nicht nur in Deutschland zu den stabilsten und resistentesten Vorurteilen. Er bedient Mythen und gebiert Mythen, die in Einstellungen und Meinungen sichtbar werden. Diese legitimieren Diskriminierungen und Gewalttaten gegen Personen, Einrichtungen und Symbole und bedrohen den Alltag von Juden/innen in Deutschland. Das ist zwar insbesondere im Rechtsextremismus deutlich, wo der Antisemitismus einen festen Ort hat, aber antisemitische Mentalitäten sind weit in der Mitte verbreitet.

Dabei mag der Antisemitismus in der Öffentlichkeit derzeit weniger sichtbar als vielmehr subtil und auf Umwegen erscheinen und sich in eine angeblich vorurteilsfreie Meinung zu kleiden. Ein gutes Beispiel ist eine Kritik an Israel, die zunächst nachvollziehbar erscheint, aber auf jüdische Stereotype und unsachgemäße historische Vergleiche zum NS-Regime verweist. Die Grenzen des Sagbaren werden so subtil verschoben und Normen, die das Vorurteil begrenzen, erodieren.

Kraft dieser Wandlungsfähigkeit, die der Antisemitismus immer wieder bewiesen hat, und Kraft der mythischen Bilder und Geschichten, die er zur Erklärung von Weltereignissen entwirft, hat er sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Aus diesem Gedächtnis heraus scheinen immer wieder antisemitische Stereotype und Klischees aktivierbar, und dies insbesondere auch in intellektuellen Kreisen.

Im Folgenden konzentrieren wir uns vor allem auf antisemitische Meinungen in der deutschen Mehrheitsbevölkerung und fragen nach traditionellen und modernen Ausdrucksformen. Diese beobachten wir seit langem in der repräsentativen Umfrage „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF). Dabei ist uns bewusst, dass Meinungen nur eine Ausdrucksform des Antisemitismus unter vielen sind. Wir beleuchten also nur einen Ausschnitt aus einer komplexen Realität, die alle Formen der Diskriminierung, Gewalt und Aggressionen, Emotionen, historische Erinnerungen und viele andere Facetten des Antisemitismus umfasst.

Nachdem wir den Antisemitismus vorläufig definiert und unsere Untersuchungsanlage vorgestellt haben, geben wir Auskunft über das Meinungsklima und gehen dann auf aktuelle Debatten über den so genannten Neuen Antisemitismus ein. Im Anschluss stellen wir Facetten antisemitischer Meinungen dar, soweit wir sie beobachten können. Der Blick wird dann enger auf die Mitte der Gesellschaft und Unterschiede zwischen Generationen gestellt. Zudem zeigen unsere Daten, dass ein relativ geringes Bildungsniveau sowie eine ethnozentrische Religiosität und ein überhöhter Nationalstolz mit antisemitischen Tendenzen einhergehen.

Antisemitismus als Menschenfeindlichkeit
Bevor antisemitische Meinungen dokumentiert werden, soll kurz beschrieben sein, was wir überhaupt unter dem Antisemitismus verstehen. Die Forschung ist begleitet von heftigen Kontroversen um eine angemessene Definition von Antisemitismus, einem Konstrukt, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Nach einer Konsensdefinition des ehemaligen European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) ist Antisemitismus eine bestimmte Wahrnehmung von Juden/innen, die als Hass gegenüber Juden/innen ausgedrückt werden kann. Rhetorische und physische Manifestationen des Antisemitismus sind gegen Juden/innen und nicht jüdischen Individuen und/oder ihrem Besitz gerichtet, sowie gegenüber jüdischen Gemeinschaftsinstitutionen und religiösen Einrichtungen.

Aus unserer sozialpsychologischen Perspektive ist Antisemitismus, erstens, als ein soziales Vorurteil zu verstehen, das einer affektiven, kognitiven und/oder verhaltensorientierten Abwertung von Juden/innen und des Judentums oder jüdischen Personen, weil sie als Mitglieder der Gruppe der Juden wahrgenommen werden, entspricht. Das Vorurteil wird von Individuen, die sich mit einer Gruppe identifizieren, gegenüber anderen Gruppen und deren Mitglieder gerichtet; daher ist es gruppenbezogen. Zweitens kann sich Antisemitismus offen und direkt gegen Juden/innen richten, oder versteckt und subtil auf Umwegen.

Drittens ist der Antisemitismus überzufällig mit Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen assoziiert. Antisemitismus ist selten nur antisemitisch. Vorurteile gegenüber verschiedenen Gruppen sind wahrscheinlich und syndromatisch miteinander verbunden. Wir ermitteln z.B. in jedem Jahr, dass der Antisemitismus überzufällig und besonders stark mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, einer Feindseligkeit gegenüber MuslimInnen und dem Islam aber auch Vorurteilen gegenüber Menschen mit homosexuellen Orientierungen, Obdachlosen oder behinderten Menschen zusammenhängt. Wer antisemitisch eingestellt ist, hat also wahrscheinlich auch Vorurteile gegenüber anderen Gruppen. Daher sprechen wir von einem Syndrom der Menschenfeindlichkeit, das eben gruppenbezogen ist. Viertens teilt der Antisemitismus mit anderen Vorurteilen, dass er auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit beruht. Das heißt dem Antisemitismus geht es darum, die Ungleichwertigkeit von Juden/innen und Judentum im Vergleich zur eigenen Bezugsgruppe herzustellen. In all seinen unterschiedlichen Facetten dient der Antisemitismus als legitimierender Mythos, der Ungleichwertigkeit und Ausgrenzung von Juden/innen zu rechtfertigen hilft.

In allen seinen Facetten versteckt sich eine implizite Schuldzuweisung an Juden/innen, die negative Einstellungen ihnen gegenüber begründen und damit rechtfertigen. In solchen antijudaistischen Mythen finden sich religiöse Begründungen („Christus- und Gottesmörder“), weltliche Begründungen („Wucherjude“ oder in modernerer Variante, der jüdische Einfluss im Finanzsystem), politische Begründungen („jüdische Weltverschwörun“ oder neuerdings der Verweis auf die israelische Politik) und rassistische (natürliche) Begründungen (Charakter, Aussehen, aber auch die Unterstellung von Illoyalität und Kumpanei), die im kollektiven Wissen erhalten bleiben, auch wenn sie nicht alle zu jeder Zeit gleichermaßen aktiviert werden und wenn traditionelle Vorurteilsformen überlagert werden.

Das Verständnis des Antisemitismus als soziales Vorurteil erweitert den Blick auf Kernelemente antisemitischer Einstellungen, seine Dimensionen und Funktionen. Theoretische Erklärungsansätze der allgemeinen Vorurteils- und Rassismusforschung können damit auf antisemitische Einstellungen angelegt werden (zur Übersicht vgl. Petersen & Six, 2008; Zick, 1997). Dass der Antisemitismus einige Aspekte mit Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen teilt, bedeutet aber keineswegs, dass seine spezifischen Charakteristika zu vernachlässigen oder gar zu verneinen sind. Der Vergleich antisemitischer Einstellungen mit rassistischen, feindseligen Einstellungen gegenüber anderen Gruppen bedeutet u.E. also keineswegs eine Gleichsetzung. Das Gegenteil ist der Fall. Erst ein Vergleich der Vorurteile ermöglicht es, ähnliche Strukturen und Besonderheiten herauszuarbeiten.

Aktuelle antisemitische Meinungen
Trotz rechtlicher und symbolischer Ächtungen sind antisemitische Einstellungen auch mehr als 60 Jahre nach dem Holocaust in Deutschland virulent. Man könnte meinen, dass sie gerade jetzt wieder hervorgespült werden angesichts der Finanzkrise und der klassischen These des Historikers Rosenberg, dass in Zeiten der Wirtschaftskrise die Judenfeindschaft zunimmt, assoziiert man „Juden“ doch mit Wirtschaftseliten.

Die jüngste Umfrage der Anti-Defamation League (ADL) aus dem Krisen-Frühjahr 2009 weist aus, dass 22% der repräsentativ befragten Deutschen es für „wahrscheinlich wahr“ halten, dass Juden/innen zu viel Einfluss in den internationalen Finanzmärkten haben. Die repräsentative Umfrage im Rahmen unseres Projektes „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF) bestätigt, dass 14.4% der deutschen Bevölkerung im Jahr 2008 ganz allgemein der Ansicht sind, „Juden haben zu viel Einfluss“. Dabei steht die Zustimmung zu einer solchen Aussage deutlich in überzufälligem Zusammenhang zu anderen antisemitischen Stereotypen und Antipathien gegenüber Juden/innen.

Immer wieder zeigen Umfragen, dass Juden/innen als „geldgierig“ und „geizig“ stereotypisiert werden (vgl. auch Zick & Küpper, 2006a). Die Meinung eines expansiven, weltweiten Einflusses von Juden/innen, die sich in fast allen Umfragen als Indikator des Antisemitismus erweist, ist Teil eines konspirativen Mythos, der sich in vielen Facetten des Antisemitismus zeigt. Ohne systematische Daten präsentieren zu können, fällt auf, dass Juden/innen in der Finanzkrise von Einzelnen und Gruppen als heimliche Drahtzieher verantwortlich gemacht werden (Michael Borgstede nennt in der welt-online vom 14.10.2008 dafür Beispiele). In einer Vorstudie für unsere Umfrage 2009 haben wir bei 188 befragten Deutschen ermittelt, dass der Antisemitismus überzufällig mit der Zustimmung zu der Aussage einhergeht: „In Zeiten der Wirtschaftskrise können wir es uns nicht mehr erlauben, Minderheiten besonders zu achten und zu schützen.“

Weitaus häufiger als ein offen feindseliger Antisemitismus, der den Hass zum Ausdruck bringt, äußert sich der Antisemitismus auf subtilem Wege in verklausulierter, scheinbar weniger feindseliger Form. Der subtile Antisemitismus unterläuft die Ächtung. Er folgt dem angeblich befreienden Begleitsatz: „Ich bin kein Antisemit, aber…“. Spätestens seit der 2. Intifada im Jahr 2000 finden antisemitische Einstellungen insbesondere über den ‚Umweg Israel’ und den Nah-Ost Konflikt alarmierenden Zuspruch.

Mit der scheinbar aktuellen Auseinandersetzung um Opfer und Täter bahnen sich uralte antisemitische Stereotype ihren Weg, wie etwa der Mythos des „Kindesmörders“ und die für den Antisemitismus so typische Umkehr von Opfern und TäterInnen, die häufig auch mit dem Bezug auf den Holocaust und die NS-Vergangenheit vollzogen wird. So stimmten im Jahr 2008 49% der von uns Befragten der Aussage: „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“, eher oder voll und ganz zu und 40.5% bejahten die Ansicht: „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reichen mit den Juden gemacht haben.“ In der assoziativen Gleichsetzung von Juden/innen bzw. Israel mit Gräueltaten der Nazis löst sich die eigene Schuld der Vergangenheit und verleiht dem/der SprecherIn moralische Überlegenheit, steht er doch über beiden, denen er die Täter-Rolle für Vertreibung und Mord zuweist.

Schuldzuweisung und –umkehr, die eng mit antisemitischen Stereotypen assoziiert ist, finden sich ebenso mit dem unmittelbaren Verweis auf eine vermeintliche Vorteilsnahme der Juden/innen durch den Holocaust und die Klage über die nicht enden wollende Erinnerung an die Schuld der Deutschen. 38.3% von 1.763 befragten Deutschen stimmten im vergangenen Jahr 2008 zu: „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen“ und 63% stimmten der Aussage zu: „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“.

Zugleich bejahten 83% der Befragten: „Mich beschämt, dass Deutsche so viele Verbrechen an den Juden begangen haben“. D.h., eine große Mehrzahl der Befragten fühlt eine soziale Scham, die zugleich nach Entlastung sucht, indem sie ambivalent zum einen mit der erleichterten Zustimmung: „Gut, dass wieder mehr Juden in Deutschland leben“, als auch mit der rechtfertigenden Schuldumkehr des Antisemitismus überzufällig und positiv zusammenhängt.

Neue Antisemitismen und AntisemitInnen?
Das antisemitische Vorurteil ist älter als viele andere Vorurteile und es greift auf jahrtausend alte Stereotype und Mythen zurück, die auch in aktuelle Diskurse Eingang finden. Die Debatte um den Antisemitismus dominieren derzeit vor allem drei Themen: Antisemitismus und Israelkritik, Antisemitismus in der Mitte und in der Linken und der Antisemitismus bei jungen muslimischen EinwandererInnen. Obgleich diese Themen unter einem „Neuen Antisemitismus“ verhandelt werden, stellen sie nicht unbedingt auch neue oder neuartige Phänomene dar. Daran ändert auch nichts die oftmals harsche und persönliche Tonart im Diskurs über den Antisemitismus und seine Verbindungen zu Feindseligkeiten gegenüber anderen Opfergruppen.

Der Diskurs über die antisemitische Israelkritik ist eng verbunden mit der Frage nach den Facetten des Antisemitismus. Lässt man den Forschungsstand Revue passieren, kann man relativ gut zwischen einem traditionellem und einem so genannten transformierten neueren Antisemitismus unterscheiden, der sich dadurch auszeichnet, dass er weniger offen und direkt ist, sondern unter Rekurs auf traditionelle Stereotype über Juden/innen und das Judentum scheinbar nicht gegen Juden/innen gerichtet ist (Zick & Küpper, 2005). Zum traditionellen Antisemitismus gehören der konspirative Verdacht jüdischen Einflusses und die Unterstellung einer Mitschuld an der eigenen Verfolgung. Zum transformierten Antisemitismus gehören der fast schon klassische sekundäre Antisemitismus, also die Leugnung, Relativierung und Schlussstrichforderung, der Vorwurf der Vorteilsnahme aus dem Holocaust, sowie die Unterstellung, dass Juden/innen sich von der Gesellschaft separieren und ihr gegenüber nicht loyal seien.

Eine besondere Facette ist die vor seit rund 10 Jahren aufgekommene Variante des israelbezogenen Antisemitismus. Antisemitisch ist die Kritik an Israel dann, wenn sie das Existenzrechte Israels und sein Recht auf Selbstverteidigung aberkennt, mit antisemitischen Stereotypen arbeitet, doppelte Standards an Israel anlegt oder Juden/innen in Generalhaftung für israelische Politik nimmt. Auch die außergewöhnlich hohe Emotionalität mit der über Verfehlungen Israels im Nah-Ost-Konflikt oft gesprochen wird und die Einseitigkeit von Berichten und Bewertungen sind dem Antisemitismus zumindest sehr nahe. Besonders deutlich verweist der Antisemitismus dabei auch auf den Vergleich zwischen Juden und Nazi-Täter und NS-Assoziationen, wie der Missbrauch von Begriffen wie „Vernichtungskrieg“ mit Blick auf den Nah-Ost-Konflikt. Die insbesondere von der sächsischen NPD ins Leben gerufene Bezeichnung „Bomben-Holocaust“ für die Angriffe auf Dresden in den letzten Kriegstagen ist ein besonders drastischer Versuch eines solchen Begriffsmissbrauchs, der auf eine Umkehr von Opfern und TäterInnen drängt.

Wir beobachten diese Facetten im Projekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) seit 2002. Die Umfrage, die bis 2012 durch die Volkswagen-, Freudenberg- und Möllgaard-Stiftung unterstützt wird, erfasst jährlich rund 2.000 repräsentativ ausgewählte Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft. In Folgenden werden wir einige ausgewählte Ergebnisse berichten und dabei Befragte mit Migrationshintergrund zunächst nicht beachten. Wir werden also auch kaum Aussagen zum islamistischen Antisemitismus machen.

Den Befragten werden telefonisch neben vielen anderen Aussagen zu den deutschen Zuständen auch vorgeprüfte antisemitische Aussagen vorgelesen. Gefragt wird jeweils nach der nach Zustimmung oder Ablehnung. Was wir in dieser und anderen Umfragen feststellen können ist das Ausmaß bzw. die Häufigkeit der Zustimmung zu antisemitischen Aussagen. Die vorsichtige und korrekte Bewertung der Zustimmung ist: Diese Person äußert Zustimmung zu einer Aussage, die aufgrund ihres Inhalts und ihrer Struktur als antisemitisch identifiziert werden kann und in der Forschung übereinstimmend als antisemitisch identifiziert wird. Wir werten eine tendenzielle oder volle Zustimmung als antisemitische Einstellung oder Meinung und sprechen bewusst nicht von einer Person als „AntisemitIn“. Wir raten dazu, mit dem Label „AntisemitIn“, der eher ein politischer Kampfbegriff als eine wissenschaftliche Kategorie ist, vorsichtig umzugehen, da damit eine tiefgreifende und unveränderliche Persönlichkeitseigenschaft assoziiert wird, die zum unveränderbaren Charakteristikum wird, und nicht, wie es richtig wäre, der Ausdruck einer potentiell auch veränderbaren Einstellung.

Mit gebotener Vorsicht und trotz aller kurzfristigen Schwankungen lässt sich konstatieren, dass das Ausmaß von offen geäußertem Antisemitismus, zumindest seiner traditionellen Facetten, in den letzten Jahren, zurückgegangen ist (vgl. auch Leibold & Kühnel, 2009). Für die vergangenen sechs Jahre können wir dies auch anhand der Daten unserer GMF-Umfrage bestätigen. Abbildung 1a und 1b zeigen die durchschnittliche Zustimmung zu den klassischen Aussagen: „Juden haben zu viel Einfluss“, und: „Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig“ von 2002-2008. Dieser Rückgang lässt sich auch für Personen, die sich selbst der politischen Mitte zurechnen, verzeichnen.

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Abb. 1a und 1b: Mittlere Zustimmung zu den Aussagen auf einer Skala: 1 = stimme überhaupt nicht zu, 2 = stimme eher nicht zu 3 = stimme eher zu und 4 = stimme voll und ganz zu.

Den transformierten Facetten stimmen grundsätzlich viel mehr Personen zu! Im Jahr 2004 stimmten z.B. über 60% dem sekundären Antisemitismus zu, über 30% bemühen eine antisemitische Israelkritik und über 50% ziehen NS-Vergleiche in der Beurteilung der israelischen Palästinenserpolitik. Exemplarische Zustimmungsraten zu drei Aussagen, die den transformierten Antisemitismus anzeigen, sind in Abbildung 2 abgedruckt.

Abb. 2: Prozentuale Zustimmung zu den Aussagen. 1. Ich ärgere mich darüber, daß den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden/innen vorgehalten werden. 2. Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die PalästinenserInnen. 3. Was der Staat Israel heute mit den PalästinenserInnen macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden/innen gemacht haben.

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Auch bei den Facetten des transformierten Antisemitismus ist grundsätzlich ein Rückgang zu konstatieren. So sinkt z.B. der sekundäre Antisemitismus von ca. 72% in 2003 auf ca. 58% in 2008. Hier ist allerdings aufgrund des vergleichsweise kurzen Zeitraums unserer Beobachtung Vorsicht geboten. Durch den kriegerischen Konflikt im Gaza Streifen zu Beginn des Jahres 2009 könnten insbesondere die israelbezogenen Facetten des Antisemitismus neuen Auftrieb erfahren.

In der Umfrage des Jahres 2004 haben wir auch die Zustimmung zu einer Kritik an Israel ohne antisemitische Untertöne erfasst. Dabei wird vor allem eins deutlich: Eine des Antisemitismus unverdächtige Kritik an Israel ist möglich und es gibt sie, aber sie ist rar. 90% derjenigen, die eine (nicht-antisemitische) Kritik an Israel äußern, signalisieren auch Zustimmung zu mindestens einer Facette des Antisemitismus. Über die Hälfte tut dies bei mindestens einer der drei traditionellen bzw. sekundären Facetten des jüdischen Einflusses, der Schuldzuweisung für die eigene Verfolgung, und der Unterstellung der Vorteilsnahme. Nur knapp 8% äußerten (nicht-antisemitische) Kritik an Israel ohne dabei gleichzeitig einer der Facetten von Antisemitismus zuzustimmen. Nur gut 3% der Bevölkerung stimmten weder einer antisemitischen Aussage zu, noch üben sie Kritik an Israel.

Der Antisemitismus der Mitte
Im zweiten großen Diskursfeld zum Antisemitismus, wird gefragt, wie stark der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft verbreitet ist. Dabei wird im Anschluss an die antisemitischen Demonstrationen der ersten Weltkonferenz zum Rassismus in Durban, auch nach einem linken Antisemitismus gefragt. Der Blick in die Mitte ist natürlich wichtig, weil die Mitte als Gegenkraft gefragt ist und als Zielgruppe für politische Parteien heftig umworben wird. Zudem sind die Angehörigen der gesellschaftlichen Mitte, zu denen sich in unseren Umfragen stets die absolute Mehrheit zählt, als UnterstützerInnen und EntscheidungsträgerInnen für Projekte gegen den Antisemitismus gefragt. Nach der Mitte zu fragen ist unseres Erachtens aber auch wichtig, weil öffentliche Diskurse anfällig dafür sind, den Fokus leicht auf Jugendliche, MuslimInnen oder Rechtsextreme zu verengen, sei es, weil sie in der ‚breiten Masse’ besonders auffallen, oder um das Phänomen kleinzureden oder zu leugnen.

Wie in vielen anderen Studien finden wir auch im GMF-Survey einen klaren Anstieg von antisemitischen Einstellungen mit zunehmend konservativ-rechter politischer Orientierung (vgl. auch Zick & Küpper, 2006b). Dies gilt nicht nur für den traditionellen Antisemitismus, sondern auch für seine transformierten einschließlich der israelbezogenen Facetten, wie Abbildung 3a und 3b zeigen.

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Abb. 3a und 3b. Mittelwerte der Zustimmung zu den oben genannten Aussagen auf einer Skala von 1 = ich stimme überhaupt nicht zu bis 4 = ich stimme voll und ganz zu.

In der Unterstellung der Vorteilsnahme durch den Holocaust und der impliziten Forderung nach einem Schlussstrich im Ausdruck des Ärgers, dass den Deutschen immer noch die Verbrechen der Vergangenheit vorgeworfen würden, unterscheiden sich auf der einen Seite Personen, die sich als „ganz und eher linke“ bezeichnen, nicht voneinander; bei der Forderung nach einem Schlussstrich übertreffen diejenigen, die sich selbst als „eher rechts“ bezeichnen, sogar noch jene, die sich „ganz rechts“ verorten.

Einmal abgesehen von den bekennenden WählerInnen rechter Parteien wie der NPD oder Republikanern, neigen potentielle WählerInnen von CDU/CSU (Sonntagsfrage) vergleichsweise am meisten zu traditionell antisemitischen Einstellungen, die WählerInnen von Bündnis90/Die Grünen am wenigsten, auch unter der Kontrolle von Alter und Bildung. In der Unterstellung der Vorteilsnahme, der Forderung nach einem Schlussstrich und dem israelbezogenen Antisemitismus unterscheiden sich dann allerdings Wähler der Linken nicht mehr von jenen der CDU/CSU.

Darüber hinaus finden wir in der GMF-Umfrage des Jahres 2007, in der wir unterschiedliche Werthaltungen erhoben haben, einen negativen Zusammenhang zwischen dem traditionellen Antisemitismus und einer universalistischen Werthaltung. Zudem zeigt sich, dass je eher sich Befragte in ihrer politischen Orientierung als konservativ verorten, desto stärker weisen sie auch eine traditionelle Werthaltung auf.

Die verdächtige Jugend?
Wenn es um Vorurteile geht, stehen Jugendliche zuerst im Brennpunkt der Öffentlichkeit. Auf sie richtet sich das Engagement der Prävention und Intervention. Das erscheint sinnvoll mit Blick auf nachfolgende Generationen, sollte jedoch nicht die Fakten verdrehen. In der GMF-Umfrage und vielen anderen Studien finden wir den klaren Befund, dass der Antisemitismus bei jüngeren Menschen deutlich weniger verbreitet ist als bei älteren Befragten. Dies gilt allerdings nur für die traditionellen Facetten und für die sekundären Facetten einer unterstellten Vorteilnahme durch den Holocaust und die Forderung nach einem Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit, nicht aber für Antisemitismus über den Umweg Israel.

Abbildungen 4a und 4b zeigen die mittleren Zustimmungen nach Altersgruppen. Für die Analysen haben wir die Daten der Befragten mehrerer GMF-Umfragen zusammengefasst, um möglichst große und damit besonders verlässliche Stichproben zu erhalten. Dabei variiert die Stichprobengröße (Analysen zum traditionellen Antisemitismus und zur Unterstellung der Vorteilsnahme basieren auf den GMF-Umfragen 2002-2008, Anzahl der Befragten = 14.000, zu anderen sekundären einschließlich der israelbezogenen Facetten GMF-Umfragen 2004, 2006, 2008, Anzahl der Befragten = 6.000).

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Abb. 4a und 4b. Mittelwerte der Zustimmung zu den oben genannten Aussagen auf einer Skala von 1 = ich stimme überhaupt nicht zu bis 4 = ich stimme voll und ganz zu.

Es zeigt sich deutlich, dass der traditionelle Antisemitismus stärker in den älteren Gruppen ausgeprägt ist. Drei Erklärungen bieten sich an: 1. Es liegt ein Generationeneffekt vor, d.h. die ältere Generation ist deutlich stärker von der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt. 2. Es wird ein Modernisierungstrend deutlich, der sich auch zwischen Kulturen abzeichnet und der eine größere gesamtgesellschaftliche Atmosphäre von Toleranz, mehr aufklärenden Unterricht usw. mit sich bringt. 3. Hier liegt ein einfacher Alterseffekt vor, der sich auch generell bei konservativen Einstellungen nachweisen lässt. Mit zunehmendem Alter werden Personen aufgrund zunehmender kognitiver Unbeweglichkeit und Verfestigung von Einstellungen weniger tolerant. Um diese drei möglichen Erklärungen zu vergleichen, bedarf es einer Längsschnittuntersuchung über einen großen Zeitraum.

Mit Blick auf die besonders im dritten Diskursfeld (siehe oben) stehende Gruppe der muslimischen Jugendlichen sollten diese Befunde nahelegen, dass sie aufgrund ihres Alters eigentlich vergleichsweise weniger antisemitische Einstellungen haben könnten als Ältere. Es kann aber auch sein, dass der hier angesprochene Konservatismus dieser Gruppe als erschwerender Faktor dem an sich positiven Alterseffekt entgegenwirkt. „Neu“ am Antisemitismus dieser Gruppe scheint weniger, dass es ihn gibt, als vielmehr dass die Öffentlichkeit ihn übersehen oder ignoriert hat (für Studien vgl. Holz, 2005; Amadeu Antonio Stiftung, 2009).

Bildung tut Not
Wesentlicher als ein Vergleich der Daten zwischen Altersgruppen, der Entwicklungs- und Sozialisationseffekte nicht hinreichend erklären kann, ist unseres Erachtens die Frage nach der Bildung. Tatsächlich zeigt sich in Umfragen konsistent und seit vielen Jahren, dass die Schulbildung den Antisemitismus erklärt: Je geringer die Bildung ist, desto ausgeprägter sind antisemitische Einstellungen. Dies gilt sowohl für die traditionelle als auch für die sekundären und israelbezogenen Facetten.

Auch hier bieten sich mindestens drei verschiedene Erklärungen für diesen deutlichen Zusammenhang an: 1. Eine bessere Bildung spiegelt eine höhere kognitive Komplexität wider, die hilft, Intoleranzen besser zu reflektieren. Hieran knüpft sich auch der Verdacht, dass besser Gebildete antisemitische Aussagen eher als solche erkennen und ihnen lediglich aufgrund sozialer Erwünschtheit nicht zustimmen. Sie können besser ihre eigentliche Antipathie verstecken. In subtilen Vorurteilen, die sich besonders darin erweisen, dass einer Gruppe positive Eigenschaften vorenthalten werden, sind oft Bildungsunterschiede geringer.

Tatsächlich zeigt eine erste Analyse unserer Vorstudie zur Umfrage 2009 unter 188 Befragten, dass der überzufällige Unterschied zwischen jenen mit höherer und jenen mit niedriger formaler Schulbildung verschwindet, fragt man nicht nach der Abwertung von Juden/innen, sondern nach der Bewunderung von Juden/innen, also einer positiven Zuschreibung. 2. Eine bessere Bildung bedeutet in der Regel auch mehr und vertieften Unterricht und Wissen über die Konsequenzen von Vorurteilen, die in den deutschen Verbrechen der Judenverfolgung und des Holocaust mündeten. Dieses Wissen führt zu mehr kognitiver wie emotionaler Einsicht und entsprechend weniger Antisemitismus. 3. Eine bessere Schulbildung bedeutet auch, dass jemand länger in der Institution Schule verweilt hat.

Trotz aller notwendigen Kritik am Schulsystem, so scheint es doch insofern positiv, als in ihm grundlegende demokratische Regeln eingeübt werden, sei es durch die Wahl von KlassensprecherInnen, Schülerparlamenten oder das Einüben von gleichberechtigter Debattenkultur. Dieses Einüben demokratischer Spielregeln scheint mit mehr Toleranz gegenüber Unterschiedlichkeit und letztlich auch mit geringerem Antisemitismus einherzugehen.

Die ‚richtige’ Religion schützt nicht per se
Im Diskurs über den Antisemitismus wird oft auf die Anfälligkeit von MuslimInnen verwiesen, auch um das Urteil zu stützen, dass diese Gruppe eine besondere Gefahr darstellt. In unseren Umfragen werden zu wenig MuslimInnen befragt, um die These einer islamistischen oder muslimischen Anfälligkeit hinreichend zuverlässig zu prüfen. Wir können jedoch unabhängig von der Religionszugehörigkeit die Beobachtung der Vorurteilsforschung bestätigen, dass KatholikInnen etwas mehr als ProtestantInnen und diese etwas mehr als Menschen ohne Religionszugehörigkeit eher zum traditionellen Antisemitismus neigen. Zudem beobachten wir, dass konfessionslose Befragte eher zum israelbezogenen Antisemitismus neigen.

Die Unterschiede zwischen den Konfessionen bzw. zu Konfessionslosen sind allerdings sehr gering und lassen sich weitgehend durch das höhere Alter und die niedrigere Bildung von konfessionell Gebundenen erklären. Deutlich wird aber auch, dass unabhängig von der konfessionellen Bindung mit zunehmender persönlicher Religiosität der Antisemitismus sowie Vorurteile gegenüber Frauen und homosexuellen Menschen zunehmen (vgl. Küpper & Zick, 2006). Dabei ist es nicht die Religiosität an sich, sondern vor allem der damit z.T. verbundene religiöse Fundamentalismus, d.h. der Anspruch der Überlegenheit der eigenen Religion, der hinter diesem Zusammenhang steht. Wer die Ansicht vertritt, die eigene Religion sei „die einzig wahre“ (23% in 2002), bzw. der eigene Glaube sei anderen überlegen (19% in 2005), neigt deutlich stärker zur Abwertung von Juden/innen. Befragte, die sich selbst als sehr religiös bezeichnen, aber nicht zugleich solche fundamentalistischen Überzeugungen vertreten, erweisen sich auch als wenig antisemitisch. Ein christlicher Fundamentalismus geht also ebenso mit Antisemitismus einher, wie die islamistische Variante.

Für diesen negativen Einfluss einer mit Wahrheits- und Überlegenheitsanspruch verbundenen Religion bieten sich zwei Erklärungen an: 1. Die religiöse Lehre und/oder Theologie fördert antisemitische Einstellungen. Angemerkt sei, dass es für seine Wirkung auf die Einstellungen der Gläubigen unerheblich ist, inwieweit eine antisemitische Exegese eines religiösen Textes die einzig mögliche Auslegung ist oder nicht, vielmehr ist von Bedeutung, dass sie zum kulturell verankerten Wissen der Gläubigen gehört. Der tief in der abendländischen Kultur verankerte christlich begründete Antisemitismus ist zwar heutzutage nicht mehr die vorrangig verbreitete Version, aber nach wie vor virulent. So weist die jüngste Umfrage der ADL aus dem Jahr 2009 aus, dass auch in Deutschland immerhin noch 15% der Ansicht zustimmen: „Die Juden sind für den Tod von Jesus Christus verantwortlich“. 2. Eine ergänzende Erklärung findet sich im absolutem Wahrheits- und Überlegenheitsanspruch an sich, einem Ethnozentrismus, der nicht allein der Religion, aber eben ihr auch, inhärent ist.

Einen ähnlichen Überlegenheitsanspruch, der auf seiner Schattenseite eben zwangläufig die Unterlegenheit Anderer mit sich führt, finden wir in übersteigerten Macht- und Dominanzansprüchen sowie einem übersteigertem Nationalstolz. Wir können deutlich nachweisen, dass jene Deutschen, die von sich selbst sagen: „Ich bin stolz Deutscher/Deutsche zu sein“, auch signifikant eher zu antisemitischen und fremdenfeindlichen Einstellungen neigen. Paaren sich ein antisemitischer religiöser Inhalt oder seine antisemitische Auslegung mit fundamentalistischen Überzeugungen, prägt dies die Einstellung der Gläubigen. Ein ähnlicher Mechanismus, wie wir ihn empirisch für ChristInnen zeigen können, lässt sich natürlich auch für andere Religionen nachweisen, aber dabei ist eben auch zu bedenken, dass nicht alle Nicht-ChristInnen in Deutschland besonders religiös sind. Auch das wäre wieder eine vorurteilslastige Unterstellung, die wir oft in Bezug auf die Wahrnehmung von MuslimInnen antreffen.

Ein Ausblick?
Wir sind bis hierher vor allem auf aktuelle Diskurse und damit verbundene Fragen eingegangen, die den Antisemitismus betreffen. Demnach können wir feststellen, dass zwar der Zuspruch in Umfragen zu antisemitischen Aussagen abnimmt, aber die Zustimmung zu neuen Formen der Umwegkommunikation in der Mitte der Gesellschaft ausgeprägt ist. Insbesondere bietet die scheinbar besorgte Kritik an Israel einen Umweg oder eine Falle für antisemitische Antipathien gegenüber Juden/innen und dem Judentum. Kritik ist möglich, bedient aber das Vorurteil, das sich aus Stereotypen über Juden/innen und einer ideologischen Geringschätzung zusammensetzt.

Wir haben ferner mit Bezug auf aktuelle Debatten an Daten unserer Umfragen geprüft und gezeigt, dass bei sinkender Verbreitung des Antisemitismus auch die Norm gebende Mitte anfällig ist, Bildung Antisemitismus hemmen kann und religiöser oder nationaler Ethnozentrismus weiterhin gute Erklärungen für antisemitische Tendenzen bieten. Der Antisemitismus hat mehr als die von uns beschriebenen Ursachen. Ein Vorurteil ist dann stark und wirksam, wenn Menschen es ohne wirksame Gegenkräfte in ihre Lebenswirklichkeit einbetten können und dafür soziale Unterstützung erfahren, sei es durch ihre soziale Umwelt oder von Eliten, die Normen verletzen und zugleich durch den Verweis entlasten, ‚man müsse wieder sagen dürfen’.

Der Antisemitismus ist unseres Erachtens besonders stark, wenn er Dominanzansprüche befriedigt, das heißt mit dem Vorurteil markiert und legitimiert wird, dass die soziale Hierarchie zwischen oben („wir“) und unten („die Juden“) richtig und gut sei. Dieser Dominanzanspruch ist in Deutschland zugleich oft gepaart mit einer autoritären Orientierung, die sich gerade in Krisenzeiten in die Sicherheit des Vorurteils flüchtet.

Der Antisemitismus ist trotz sinkender Zustimmungen zu traditionell besonders vorurteilslastigen Aussagen ein Makel der Gesellschaft. Juden/innen und das Judentum bieten Projektionsflächen für Sündenbockpraktiken. Als Beweggründe für die Jagd auf Sündenböcke nennt der Vorurteilsforscher Gordon Allport Hindernisse und Entbehrungen, Ausflüchte vor Schuld, Furcht und Bekennungen, ein übersteigertes Selbstbewusstsein, einen Herdentrieb und das Denken in Verallgemeinerungen. Alle diese Ursachen finden wir beim Antisemitismus. Und da hinein projiziert finden wir zunehmend auch den Verweis auf jene, die vermeintlich ‚noch schlimmer’ sind, wie etwa  muslimische Jugendliche, die damit zugleich auch nicht als integraler Teil unserer Gesellschaft definiert werden.

Der gesellschaftliche Druck und das Grauen, die Theodor W. Adorno 1966 in seinem Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ konstatiert, bestehen also weiter in seinen traditionellen und neuen Facetten und im Besonderen im Rechtsextremismus, der das antisemitische Vorurteil mühsam aufrechterhält. Das bedeutet auch, dass die Anstrengungen, das Vorurteil zu verstehen und zu reduzieren, nicht nachlassen dürfen. Das ist eine hohe Kunst, zumal gut geprüfte und zuverlässige Verfahren zur Reduktion von Vorurteilen beim Antisemitismus nicht einfach anzuwenden sind. So zeigt sich z.B., dass Informationsprogramme relativ geringe Wirkung zeigen, wohingegen der Kontakt zwischen Gruppen hilft, gegenseitige Ressentiments zu reduzieren, insbesondere wenn er auf gleicher Augenhöhe erfolgt.

In Austauschprogrammen und Begegnungen zwischen Jugendlichen funktioniert das, aber Menschen mit starken antisemitischen Überzeugungen werden gerade versuchen, den Kontakt zu umgehen, oder Juden/innen anzugreifen. Zweitens kann man schwerlich diskriminierte Gruppen bitten, mit den ‚Tätern’ in Kontakt zu treten, damit diese ihre Ressentiments bearbeiten können. Dennoch geben Analysen zu Interventionsprogrammen die Hoffnung, dass eine politische Bildung, die nachvollziehbar macht welche Mechanismen den Antisemitismus befördern ohne in engem Kontakt zu den Opfergruppen zu stehen, ein umso stärkerer Puffer gegen die menschliche Vorurteilsneigung darstellt.

 

Literatur

  • Adorno, Th. W. (1966). Erziehung nach Auschwitz. In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969 (hrsg. von Gerd Kadelbach)(S. 92-109). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Allport, G.W. (1954). The nature of prejudice. Reading, MA: Addison-Wesley. Deutschsprachig: Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1971.
  • Amadeu Antonio Stiftung (2009). „Die Juden sind schuld“ der; „Feindschaft gegenüber Juden, weil sie Juden sind.“ Berlin: Amadeu Antonio Stiftung
  • Holz, K. (2005). Neuer Antisemitismus? Wandel und Kontinuität der Judenfeindschaft. Mittelweg, 36, 2/2005.
  • Küpper, B. & Zick, A. (2006). Riskanter Glaube: Religiosität und Abwertung. In W. Heitmeyer (Hrsg), Deutsche Zustände, Folge 4 (S. 179-188). Frankfurt a. Main: Suhrkamp.
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Andreas Zick ist Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Uni Bielefeld. Beate Küpper ist Mitarbeiterin am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung. Beide behandeln die Schwerpunkte Vorurteile und Integration