Endlich bin ich in Istanbul, bin aus dem Flieger ausgestiegen und gehe zur Passkontrolle. Ein wenig aufgeregt bin ich auch. Beinahe 20 Jahre ist es her, dass ich zuletzt hier war. Ich verlangsame meine Schritte, um nicht als erster an der Kontrolle zu sein. Mein Personalausweis ist in der Tasche. Vorzeigbereit.
"Doğan Bey, haben Sie auch Ihren türkischen Ausweis dabei?" fragt mich der Beamte, der meinen Pass am Computer überprüft. "Nein. Ich bin deutscher Staatsbürger. Aus der türkischen Staatsbürgerschaft hat man mich rausgeworfen.
"Nein, efendim. Man hat Sie sicher nicht rausgeworfen. So etwas gibt es nicht. Man wird nicht aus der Staatsbürgerschaft rausgeworfen."
"Ich schon. Offiziell. Mit dem Urteil des Ministerrats. Vor 12 Jahren."
"Unmöglich. Das nennt man nicht Rauswurf, sondern Verlust. Wie beim Geld. Schmeißt man Geld raus? Man verliert es. Genauso. Werfen Sie Ihr Geld raus? Nein. Sie verlieren es. Sie werden Ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Doğan Bey, Sie müssen mit uns kommen. Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor."
Ein Zuständiger in der Abteilung für Terrorbekämpfung informiert mich:
"Doğan Bey, da ist nichts, wonach wir vorgehen könnten. Die Organisation, wegen der Sie gesucht werden, tauchte – Sie werden es besser wissen – Mitte der 80er Jahre auf, warf hier und da ein paar Molotow-Cocktails und verschwand wieder von der Bildfläche. Seit 20-25 Jahren gibt es keine Einträge über sie. Es dürfte sich um etwas Harmloses handeln. Da ist wohl irgendwo eine alte Aussage gegen Sie."
Zwei Beamte geben auf mich Acht, die so alt sind wie mein Sohn. Als sie erfahren, dass ich unter anderem auch Drehbücher schreibe, fragt der eine: "Dayı, Onkel, ich hab auch vor, Drehbücher zu schreiben. Ich werde schreiben, wie uns die Terrorbekämpfung ausbeutet."
"Wäre das nicht gefährlich für euch?"
"Ach wo, dayı! Ist doch wahr, oder? Seit gestern Nacht haben wir kein Auge zugedrückt. Das schreib ich alles auf. Wort für Wort. Erzähl doch mal, dayı, wie's geht, ich mein, nur so, zum Zeitvertreib."
"Stell dir vor, dass du einem Blinden eine Geschichte erzählst."
Bis ich dem Richter vorgeführt werde, hat der Polizeibeamte begriffen, worauf es bei einem Drehbuch ankommt. Sein Kollege, der mich distanzierter behandelt, nennt ihn von nun an 'Drehbuchautor'.
Dem Richter bereitet es Unbehagen, dass ich ihm 20 Jahre später vorgeführt werde. Er erklärt, dass ich wegen einer Organisation gesucht werde, deren Name aus neun Buchstaben mit zwei Schrägstrichen besteht und den ich zuvor nicht gehört habe. Er erteilt Haftbefehl.
Der Drehbuchautor ist wütend.
"Dayı, hab ich dir nicht gesagt, dass die uns ausbeuten! Siehst du? Wenn er dich jetzt nicht verhaftet hätte, könnte ich in aller Gemütsruhe nach Hause gehen und mit meinem Drehbuch anfangen! Stattdessen muss ich dich in den Knast bringen. Dayı, kannst du nicht mit dem Taxi hinfahren? Du bist doch Deutschländer. Du hast bestimmt Geld."
Sein Kollege greift ein.
"Hast du einen Knall, oder was? Bist du noch bei Trost? Und wer unterschreibt das Übergabeprotokoll?"
Als wir das Gerichtsgebäude verlassen, macht ein Beamter Anstalten, mir Handschellen anzulegen. Der Drehbuchautor verhindert es. Schriftstellersolidarität.
"Meinem dayı legt keiner Handschellen an, wenn ich dabei bin, Kollege! Du haust doch nicht ab, dayı, oder?"
"Nein, ich hau nicht ab."
Wir halten vor der Haftanstalt Metris. Kein unbekannter Ort. Wir gehen auf den wachhabenden Soldaten am Tor zu.
Der Drehbuchautor blafft ihn an.
"Na und? Das ist mein Verhafteter. Ob ich ihm Handschellen anlege oder nicht, ist meine Sache. Mach dir mal keinen Kopf. Der dayı ist Deutschländer, der haut nicht ab!"
Gemeinsam gehen wir rein. Ein Beamter sitzt am Tisch, weitere fünf oder sechs stehen oder laufen in der Gegend herum.
Der Beamte am Tisch, der offenbar für meine Aufnahme zuständig ist, fragt mich nach dem Namen meiner Organisation.
"Ich gehöre keiner Organisation an."
"Das geht nicht", sagt er. "Hier können wir keinen aufnehmen, der keine Organisation hat."
"Warum nicht? Gibt’s hier etwa keine gewöhnlichen, nicht-politischen Gefangenen? Journalisten, Schriftsteller, was weiß ich?"
"Doch, schon, aber in deinen Unterlagen steht 'Mitglied einer terroristischen Organisation'. Hier sind drei unterschiedliche Schreibweisen. Welche sollen wir aufschreiben?"
"Keine. Lasst es einfach leer."
"Das geht nicht! Irgendwas müssen wir da reinschreiben. So sind die Vorschriften."
Die anderen Beamten versammeln sich um ihn herum. Jeder gibt seinen Senf dazu.
Der Drehbuchautor erhebt die Stimme.
"Setzt dayı nicht so unter Druck! Ist das hier die Hölle, oder was?"
"Pass auf, was du sagst, karde sim! Wie redest du im Ramadan?"
Das Projekt kommt mir in den Sinn, an dem ich in Köln mitarbeite. "Mit Konflikten leben lernen". Die Anfangsbuchstaben wecken Assoziationen an den Namen einer radikalen linken Organisation.
"Schreibt MKLL!".
Der Empfangsbeamte schaut mich dankbar an. Doch die Aufnahmehindernisse sind nicht so einfach ausgeräumt. Als er erfährt, dass ich keinen türkischen Personalausweis habe, lehnt er sich in seinem Stuhl weit zurück. "Dich können wir hier nicht aufnehmen, Doğan Bey, wir können hier keine Ausländer aufnehmen."
Dem Drehbuchautor wird's zu viel.
"Wenn ihr meinen dayı nicht aufnehmt, dann schlag' ich hier alles kurz und klein! Ich lass' keinen Stein auf dem anderen! Wo soll ich denn mit ihm hin um die Zeit?!"
"Das ist dein Problem, karde sim! Ich habe meine Vorschriften!"
"Mach mal halblang", brüllt der Drehbuchautor. "Ruf den Direktor an! Ruf den Ministerpräsidenten an! Meinetwegen den Justizminister! Ich schwör's bei Gott, ich lass meinen dayı hier am Eingang frei, dann kann er gehen, wohin er will. Bringt mich nicht in Rage! Also: keine Ausländerfeindlichkeit! Mein dayı ist ja nicht mal ein richtiger Deutscher!"
Tatsächlich wird hierhin und dorthin telefoniert. Inzwischen kommen der Drehbuchautor und ich einander näher, er fragt, woher ich stamme, ich sage es ihm. Ich frage ihn auch, woher er stammt. "Ich bin Kurde, dayı", sagt er. Ich habe einen metallenen Kugelschreiber bei mir. Ich weiß, man wird ihn mir abnehmen. Ich habe meine Erfahrungen. Beim Abschied reiche ich ihn dem Drehbuchautor. "Hier", sag ich, "schreib' dein Drehbuch damit."
"Versprochen, dayı. Bis du rauskommst, hab ich's fertig, du hast mein Wort!"
Genau 24 Stunden nach Verlassen des Köln-Bonner Flughafens werde ich in den letzten Block gebracht, dorthin, wo ich vor 24 Jahren etwa drei Jahre verbrachte und den wir damals "Sibirien" nannten. Bevor die eiserne Tür hinter mir zufällt, frage ich den mich begleitenden Wärter, ob man den Block immer noch so nennt.
"Ja", antwortet der Wärter. "Der Name hat sich nicht geändert."