Wird die Kompetenz etablierter politischer Institutionen in Frage gestellt, sieht Rudolf Speth zivilgesellschaftliche Gruppen in der Pflicht. Im Rahmen der Konferenz "Wie schaffen wir Integration?" stellt er seine Thesen vor.
Dass eine große Zahl Geflüchteter, die im letzten Jahr und in den ersten Monaten diesen Jahres in Deutschland angekommen sind, Hilfs- und Aufnahmenbereitschaft gefunden hat, zeigt die gewachsene Stärke der Zivilgesellschaft. Dieser Bedeutungszuwachs wurde bereits in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich. Er macht sich zum einen in den gewachsenen Engagementzahlen, wie sie der Freiwilligensurvey alle vier Jahre ermittelt, fest; er zeigt sich aber auch in der Aufwertung des bürgerschaftlichen Engagements und der Zivilgesellschaft in den Diskursen und in der politischen Wertschätzung auf allen Ebenen – den Kommunen, den Ländern und auch auf der Bundesebene.
In der Nothilfe, bei Naturkatastrophen und beim Anstieg der Asylbewerber/innenzahlen kam dem Engagement der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren eine herausragende Bedeutung zu. Es war zum einen die konkrete materielle Hilfe, die die Lage der Hilfsbedürftigen verbes-serte, zum anderen war es der symbolische und politische Beitrag, mit dem die Gesellschaft ihr hilfsbereites Gesicht zeigte. Die wachsende Spendenbereitschaft bei Naturkatastrophen im Ausland ist ein weiteres Zeichen für die zivilgesellschaftliche Mobilisierung von Engagement und Hilfsbereitschaft.
Bezogen auf die aktuelle Situation zeigen sich im historischen Vergleich deutliche Unterschiede: Anfang der 1990er Jahr stieg die Zahl der Asylgesuche in Deutschland sehr stark an: von 190.000 (1990) auf 440.000 (1992); parallel dazu erhöhten sich die Aussiedlerzahlen. In der Bevölkerung kam es zu heftigen Reaktion und gewalttätigen Angriffen auf die Unterkünfte der Asylbewerber. Mit Lichterketten drückten die zivilgesellschaftlichen Gruppen ihren Protest gegen die rechtsradikale Gewalt aus.
Ein neues zivilgesellschaftliches Bewusstsein?
Heute ist die Zivilgesellschaft auch wieder aktiv, doch auf einem deutlich höheren Niveau – und das Engagement hat neben der politischen auch eine soziale Dimension. Man kann von einer neuen Qualität und einem neuen Zustand der Zivilgesellschaft sprechen. Denn es zeigt sich trotz aller gegenteiliger Behauptungen ein zivilgesellschaftlicher Aufbruch. Vielfach wurde ein Niedergang des Engagements vorausgesagt: die steigende Mobilität, der steigende Arbeitsdruck, die verkürzten Schulzeiten, sich auflösende Nachbarschaften, Vereinzelung und zunehmende ethnische Diversität wurden als Gründe angeführt. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam hat vor mehr als einem Jahrzehnt Anzeichnen für einen solchen Niedergang festgestellt: „Bowling alone“ – alleine statt mit Freunden zu bowlen – sei die bittere Konsequenz.
Viele mochten das immer schon nicht so recht glauben, denn beispielsweise gingen die Mitgliedschaftszahlen vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht zurück. Als hätte es noch eines Beweises für den Trend in die Gegenrichtung bedurft, gründeten sich in den vergangenen Monaten zahlreiche spontane Helfer/innengruppen, die nicht zum innersten Bereich des „Reservoirs der Engagementbereiten“ zu zählen sind und damit eine neue Qualität darstellen. Sie setzen sich aus Bürgerinnen und Bürgern zusammen, die aus moralischen Überzeugungen handeln und sich vielfach jenseits der etablierten zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammengefunden haben.
Diese neuen Gruppen sind damit Ausdruck eines neuen zivilgesellschaftlichen Bewusstseins der Bürgerinnen und Bürger. Sie sind so etwas wie die neuen Kirchengemeinden, die das Bewusstsein des Landes prägen können, wenn sie weiter bestehen bleiben. Sie zeugen aber auch von einer neuen Qualität des moralischen Bewusstseins und der Aktivitäten, die sicher auch in einer Mediengesellschaft moralische Kraft gewinnen, in der Bilder über das Elend der Geflüchteten eine motivierende Kraft mit sich bringen.
Diese Helfergruppen haben sich entweder spontan gebildet, als die ersten Geflüchteten in den Ortsteilen eintrafen. Viele haben sich aber auch zusammengefunden, weil die Gründung von den Landräten und Bürgermeistern – meist in Bayern – initiiert wurden, noch bevor Geflüchtete eintrafen. Diese Gruppen fungierten dann als politischer Schutzschirm, indem sie die Diskurshoheit in den Kommunen übernahmen und durch ihre Präsenz verhinderten, dass die Stimmung kippt und es zu gewalttätigen Attacken auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte kommt. Neben der sozialen Seite des Helfens ist dies eine wichtige politische Dimension des bürgerschaftlichen Engagements.
Zivilgesellschaftliche Gruppen als Lotsen in die Gesellschaft
Diese Gruppen und das überwiegende zivilgesellschaftliche Engagement bei der Hilfe für Geflüchtete hat sich im kommunalen Nahraum gebildet. In der Regel waren die Landratsämter, Kreisverwaltungsbehörden und Landesbehörden in den Stadtstaaten in Verbindung mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für die Aufnahme, Unterbringung, Registrierung und Erstversorgung der Geflüchteten zuständig. Ohne die Tätigkeit der zivilgesellschaftlichen Helfer/innengruppen und auch der Bürgermeister/innen sowie der Akteur/innen der etablierten Zivilgesellschaft (Wohlfahrtsverbände, Sportvereine, Feuerwehr, THW, Kirchengemeinden) wäre diese Aufgabe nicht zu stemmen gewesen. Die Vertreter/innen in den verantwortlichen Behörden geben dies auch gerne zu: Es gab ein vorbildliches Zusammenwirkungen von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren.
Die Kommunen und der kommunale Raum sind aus einem weiteren Grund wichtig: Sie sind die eigentlichen Orte der Zivilgesellschaft und gleichzeitig die wichtigsten Orte der Integration der Geflüchteten in die Gesellschaft. Beides muss miteinander verbunden werden: Integration in die Gesellschaft kann nicht ohne zivilgesellschaftliche Gruppen gelingen.
Die staatlichen Akteure sind primär zuständig für die strukturelle Integration: In einer Einwanderungsgesellschaft müssen Menschen immer wieder mit den Funktionssystemen „Arbeitsmarkt, Bildung, Ausbildung, Gesundheit, Recht“ vertraut gemacht werden. Es geht aber auch darum, Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. Hier helfen keine Kurse, noch dazu staatlich vermittelte, mit denen den Geflüchteten gesellschaftliche Werte nahegebracht werden sollen. Vielmehr sind die zivilgesellschaftlichen Gruppen „Lotsen in die Gesellschaft“. Nur im Zusammenwirken von staatlichen Akteuren ‒ und hier vor allem den Job-Centern, die bisher keine Erfahrung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren haben ‒ und den Akteuren der etablierten und spontanen Zivilgesellschaft wird es gelingen, die Geflüchteten zu integrieren. Dies gilt insbesondere für den Arbeitsmarkt. Hier hat sich das Modell der Patenschaften, das aus anderen Bereichen stammt, bewährt, denn der Zugang zum Arbeitsmarkt wird durch soziale Kontakte erleichtert. Der Integrationserfolg wird auch daran gemessen, wie groß die Arbeitsmarktteilnahme, die interethnischen Kontakte und die Mitgliedschaften in Organisationen der Mehrheitsgesellschaft sind.
Allerdings ist das Ziel einer Einwanderergesellschaft und gelingender Integration nicht leicht zu erreichen. Es wird Jahre dauern, viel an Ressourcen kosten und mit vielen Rückschlägen verbunden sein. Der Prozess wird auch zu Ergebnissen führen, mit denen nicht alle einverstanden sind und von Faktoren abhängen, die nicht vollkommen zu kontrollieren sind. Es gehört sicher auch die Erkenntnis dazu, dass es Grenzen der Aufnahmefähigkeit gibt und nicht alle Geflüchteten sich entsprechend akzeptierter gesellschaftlicher Normen verhalten werden.
Ohne die neuen und alten zivilgesellschaftlichen Gruppen werden die Herausforderungen nicht gemeistert werden können. Denn gerade in den letzten Jahren ist der Glaube an die Problemlösungsfähigkeit der etablierten politischen Institutionen geschwunden.
Dr. phil. Rudolf Speth wird seine Thesen im Rahmen der Konferenz "Wie schaffen wir Integration?" am 24./25.06. als einer der Referent/innen im Workshop "Kommunen und Freiwillige - Wie passt das zusammen?" vorstellen.