Awet Tesfaiesus, die als erste Schwarze Frau letztes Jahr in den Bundestag eingezogen ist, möchte keine bestimmte Gruppe repräsentieren, sondern die Vielfalt des Landes. Im Interview spricht sie über ihre aktuellen Schwerpunkte wie die Dekolonialisierung und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und erklärt, wieso sie schon immer politisch war.
Vjollca Hajdari: Liebe Awet, du bist seit etwas mehr als einem Jahr Abgeordnete im Bundestag. Welche Bilanz ziehst du nach diesem Jahr? Was hat sich in dieser Zeit für dich verändert?
Awet Tesfaiesus: Ich war vorher viel ehrenamtlich in der Politik tätig, aber hauptberuflich ist es etwas Anderes. Einerseits reise ich viel, ich bin eine Woche in Berlin undeine Woche im Wahlkreis. Da bleibt kaum Zeit zu Hause, bei meiner Familie zu sein.
Andererseits ist die Art des Arbeitens anders. Vorher habe ich mit Fokus auf Asylrecht als Anwältin gearbeitet. Da hatte ich einen Menschen vor mir, der Unterstützung braucht und mit einer bestimmten Frage, beispielsweise beim Asylverfahren oder der Familienzusammenführung zu unterstützen, zu mir kommt. Meist sind die Eltern hier, die Kinder harren aber in irgendwelchen Flüchtlingscamps aus – wenn man die Kinder dann hierherbringen kann, sind das schon sehr erfüllende Aufgaben. Man merkt, mit meinem Handeln kann ich Lebensläufe beeinflussen. Politik ist langsamer, nicht so direkt. Man versucht zu beeinflussen und hofft dadurch Dynamiken in Gang zu setzen. Doch ich habe nicht konkret einen Menschen vor mir, sondern es geht um strukturelle Fragen und Antworten.
Mit welchen Themen beschäftigst du dich gerade?
Ich bin Mitglied im Rechtsausschuss und Obfrau im Kulturausschuss. In beiden Ausschüssen möchte ich die Themen Antidiskriminierung, Dekolonialisierung und Vielfalt voranbringen.
Im Rechtsausschuss ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ein wichtiges Thema. Bis jetzt ist das Gesetz nicht im öffentlich-rechtlichen Bereich, bei Behörden, der Polizei oder in Schulen anwendbar. Außerdem gibt es dort, wo es anwendbar ist, Schutzlücken. Zum Beispiel klagen die wenigsten, wenn sie Diskriminierung bei der Wohnungssuche erfahren. Damit es wirklich Schutz vor Diskriminierung bietet, muss das AGG reformiert werden. Dafür setze ich mich ein!
Im Kulturausschuss steht für mich das Thema Dekolonialisierung im Mittelpunkt. Für Dekolonialisierung reicht es nicht aus Raubkunstsammlungen aus der Kolonialzeit zurückzugegeben. Dekolonialisierung ist viel mehr! Es geht darum Rassismus zu verlernen, der ja aus der Kolonialzeit stammt. Dekolonialisierung heißt, dass wir die eurozentristische Sicht auf die Welt in Frage stellen und zwar in ganz vielen Bereichen. In diesem Kontext beschäftigt mich auch Vielfalt in der Kultur- oder Filmbranche. Hier stellen wir uns im Kulturausschuss die Frage, wie eine Reform des Filmfördergesetzes zu mehr Diversität und Gleichberechtigung beitragen könnte.
Was möchtest du in der laufenden Legislaturperiode bewirken oder verändern?
Das AGG reformieren! Dabei müssen wir auch die Zivilgesellschaft beteiligen. Ich halte nichts von einer Politik, die nur von oben kommt. Es braucht Austausch und Diskussion, wenn wir eine Gesetzesvorlage erarbeiten, damit wir die Perspektiven der Justiz, aber auch der Zivilgesellschaft, der Beratungsstellen, die mit diesen Themen viel praktische Erfahrung haben, im Blick haben. Wir haben jetzt die Antidiskriminierungsstelle, die lange Zeit unbesetzt war, mit Ferda Ataman meiner Meinung nach super besetzt. Aber Ferda Ataman wird von Berlin aus natürlich nicht die ganze bundesdeutsche Beratungsstelle betreiben können. Das heißt, wir brauchen ein breites Netz an Beratungs- und Antidiskriminierungsstellen, damit dieses Gesetz auch umgesetzt werden kann. Es braucht Stellen, die informieren, beraten und Menschen über ihre Rechte und mögliche Vorgehensweisen aufklären.
Dein anderer Schwerpunkt ist die Dekolonialisierung. Wie kann sie konkret vorangetrieben werden und was möchtest du in dem Bereich bewirken?
Ich bin natürlich dafür, dass wir endlich unsere Museen dekolonialisieren, dass wir diese Massen an Kunst und Objekten, die aus den Kolonien gestohlen wurden, zurückgeben. Noch wichtiger ist, dass wir endlich die menschlichen Überreste, die unter dem Vorwand der wissenschaftlichen Forschung nach Europa verbracht wurden, herausgeben. Das kommt aus einer Zeit, als Universitäten meinten, den Menschen vermessen zu müssen, an der Nasengröße oder an der Schädelgröße Eigenschaften über die Klugheit und über den Charakter des Menschen feststellen zu können. Dazu wurden Tausende von Schädeln aus den Kolonien in Afrika hierhergebracht, an Universitäten und Museen, sie liegen in Kellern in Kisten und werden nicht zurückgebracht. Das muss sich ändern.
Gesamtgesellschaftlich müssen wir mehr Bewusstsein über unsere Kolonialzeit schaffen. Ich glaube, die wenigsten wissen, welche Kolonien wir hatten, was die Deutschen in Kamerun gemacht haben oder dass es KZs in den Kolonien gab. Ich glaube, wir verdrängen einiges. Es braucht einen öffentlichen Diskurs, auch als Zeichen des Respekts, des Anerkennens unserer eigenen Taten. Die Erinnerungskultur, die wir bei anderen Themen sehr gut hinbekommen, fehlt beim Thema Kolonialzeit. Wir haben in vielen Zoos, Frankfurter Zoo, Leipziger Zoo, Menschenschauen gehabt, wo in Käfigen Menschen ausgestellt wurden. Es gibt keine Erinnerung daran und da würde ich mir wünschen, dass wir diese Geschichte zusammen aus der Mottenkiste rauskramen und respektvoll anerkennen, was wir getan haben und auch den Herkunftsgesellschaften zeigen: Wir verheimlichen das nicht, sondern wir reflektieren es. Wir finden einen Umgang damit. Das finde ich sehr wichtig.
Was ist für dich in deinen Arbeitsbereichen die größte politische Herausforderung zur Zeit?
Bezüglich der AGG-Reform habe ich momentan leider den Eindruck, dass es eher schleppend vorangeht. Aus dem FDP-geführten Justizministerium kommt im Moment wenig Initiative oder konstruktive Resonanz. Ich würde mir wünschen, dass wir in dieser Legislatur wirklich vorankommen, dass die Belange der Bürger*innen, die von den Lücken des AGG betroffen sind, Gehör finden!
Generell wünsche ich mir grundsätzliche Veränderungen, anstatt von einem Projekt zum nächsten zu hüpfen. Dazu gehört für mich, dass unsere Gesellschaft zum Thema Dekolonialisierung offen spricht und, dass es selbstverständlich wird, Menschen im afrikanischen Kontinent respektvoll in Entscheidungsprozesse zu involvieren.
Wen möchtest du repräsentieren und warum ist dir die Repräsentation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen im Bundestag so wichtig?
Ich möchte gar nicht eine Gruppe, sondern die Vielfalt unseres Landes repräsentieren. Ich finde es nicht redlich zu sagen: Ich repräsentiere Frauen oder Schwarze Menschen. Mir geht es darum zu sagen: Wir sind unterschiedlich, vielfältig und machen verschiedene Erfahrungen. Wenn wir einen Bundestag haben, der nur aus weißen, älteren Männern besteht, dann fehlen einfach viele Perspektiven, die mit einbezogen gehören: Die von jungen Menschen, wie sie auf die Welt schauen, Bedarfe von Menschen mit Behinderung, Bedarfe von Frauen... Wenn ich die Erfahrungen nicht habe und nicht weiß, wie das ist, wenn man Essen gehen möchte, aber in der ganzen Stadt kein Restaurant da ist, wo ich mit dem Rollstuhl reinkomme, dann fehlt mir diese Perspektive in meiner Arbeit, in meiner politischen Tätigkeit. Man kümmert sich nicht darum, weil man das gar nicht als Problem erkennt. Darum ist es wichtig, dass diese verschiedenen Perspektiven, die in unserer Gesellschaft sind, auch im Bundestag vertreten sind, damit wir eine Politik haben, die für alle gut ist und für alle gilt.
Spielt deine familiäre Einwanderungsgeschichte eine Rolle in der Politik?
Ja, auf jeden Fall. Durch meine eigene Einwanderungsgeschichte weiß ich, wie schwer es ist, als Kind mit Migrationsgeschichte in Deutschland zu sein. Für mich und meine Familie war es ein Kampf, dass ich auf ein Gymnasium gehen konnte. Alle Einrichtungen waren der Meinung, dass die Eltern keine Ahnung hätten und ihnen erklärt werden müsse, warum es besser sei, wenn das Kind nicht auf das Gymnasium kommt. Nach meinem Abitur sagten mir viele, es sie keine gute Idee Jura zu studieren, ich mute mir zu viel zu und solle lieber eine Ausbildung machen.
Meine persönlichen Geschichten und die aus meinem Freundeskreis kann ich in meiner politischen Arbeit mit einbringen. Ich weiß, dass die Menschen, die hier im Bundestag sind, nicht nur aufgrund eigener Leistung hier sind, sondern auch, weil sie diese Barrieren im Gegensatz zu Menschen mit Migrationshintergrund meist nicht haben. Es gibt also Strukturen, die zu Ausschlüssen führen. An diese Strukturen müssen wir ran.
Hast du in deiner politischen Laufbahn Anfeindungen erlebt?
Ja, immer wieder. Viele verstehen Anfeindungen allerdings im Sinne von direkten Beschimpfungen ins Gesicht, auch das habe ich erlebt, aber das ist nicht der Alltag. Der Alltag sind die vielen subtilen Dinge, die tagtäglich passieren, die Ausschlüsse, die Vorstellungen und Bilder in den Köpfen, wer ich bin, was ich kann, was ich nicht kann. Die überraschten Gesichter, wenn sie erfahren, dass ich die Abgeordnete bin, weil sie es nicht erwartet hatten. Das sind die Anfeindungen, die einem immer wieder sagen: Du gehörst nicht hierhin. Man kämpft dagegen an und sagt: Nein, es ist wichtig und ich spreche nicht nur für mich, sondern es ist ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland, das einen Migrationshintergrund hat und deshalb habe ich die Berechtigung, hier andere Perspektiven einzubringen.
Was hat dich darin bestärkt, in die Politik zu gehen?
Ich war schon immer politisch. Ich komme aus einer politischen Familie, die sehr engagiert war, bis es für sie zu gefährlich wurde und sie fliehen mussten. Daher kenne ich das auch von zu Hause nicht anders, als dass man sich Gedanken darüber macht, was in dieser Gesellschaft passiert und welche Rolle man selbst dabei spielt, etwas zu verändern.
Als immer mehr Menschen über das Mittelmeer flüchteten bin ich mit der Hoffnung etwas zu verändern in die Partei eingetreten. Meinen Job zu schmeißen und vollständig in die Politik zu gehen war eigentlich eine kurzfristige Verzweiflungstat. Das war gar nicht lang vorher geplant, sondern eher ein Gefühl von: Es ändert sich hier nichts, wir leben seit Generationen in diesem Land und werden trotzdem nicht als Teil dieser Gesellschaft gesehen. Mein Kind ist jetzt nochmal eine nächste Generation, die wieder so leben wird. Ich hatte das Gefühl, ich muss jetzt Verantwortung übernehmen, nicht nur ehrenamtlich neben dem Job am Feierabend, sondern ich muss mich ganz auf das Thema konzentrieren, damit sich etwas ändert.
Hast du ein Rat für junge Menschen of Color, die sich politisch engagieren möchten?
Zum einen würde ich sagen: macht! Denkt nicht so viel darüber nach. Man kann es immer lassen, wenn es einem nicht gefällt. Aber machen, probieren, gestalten und dann auch Verantwortung tragen. Ruhig sagen: Ich möchte mitentscheiden, ich möchte nicht nur in die Partei eintreten, sondern an den Stellen sein, wo Entscheidungen getroffen werden. Und zum anderen: Vernetzt euch.
Ich glaube, was meistens kaputt macht, ist das Gefühl allein zu sein. Immer wieder muss ich erklären, was Rassismus ist, obwohl ich manchmal vielleicht selbst in Situationen bin, wo ich verletzt bin und mich um mich selbst kümmern will. Das muss ich dann runterschlucken und vernünftig darstellen, warum etwas verletzend war, was daran falsch ist usw. Das ist sehr anstrengend und nicht einfach. Von daher würde ich sagen, vernetzt euch, kommt in Austausch mit anderen, die in ähnlichen Situationen sind und gerne auch mit Menschen, die bereits ein paar Schritte vorangegangen sind und euch Tipps geben und begleiten können. Ich gehe selbst gerne immer in Gesprächen, um Tipps zu geben und kenne viele anderen Politiker*innen of Color, die das auch tun.