"Meine Texte sind meine Kinder"

Interview

Klára Hůrková schreibt Gedichte und Prosa, übersetzt Gegenwartslyrik und malt Bilder. Außerdem unterrichtet sie Englisch und Kunst. Im Zwischenraum-Interview spricht sie über ihr Erleben des Lockdowns, ihren brandneuen Lyrikband "Licht in der Manteltasche" und darüber, warum Frauen weniger Literaturpreise gewinnen als Männer.

Klara Hurkova

Safiye Can: Liebe Klára, wie geht es dir als Autorin und Pädagogin zur Corona-Zeit?

Klára Hůrková: Zuerst war da ein Schock, eine Ahnung eines bevorstehenden Unheils, die ich versucht habe, im folgenden Gedicht festzuhalten:

Auf einer Lawine gleitend
mit immer höherer Geschwindigkeit
um uns die violetten Weiten

Irgendwann werden wir landen
Aber nicht dort
wo wir vorher standen.

Bis heute wissen wir nicht, wo wir nach der Corona-Zeit stehen werden. Doch für mich persönlich brachte der Lockdown nicht nur Negatives. Wie viele andere wurde ich gezwungen, mein hektisches Leben für eine Weile einzustellen und zu überdenken. Zuvor hatte ich geplant, in den Osterferien nach Prag zu fliegen und dort einen Vortrag und eine deutsch-tschechische Lesung mit mehreren Autor*innen im Tschechischen Zentrum des PEN Klubs durchzuführen. Die Lesung sollte in der Nationalbibliothek in Prag stattfinden. Es sollte gewissermaßen ein Höhepunkt meiner Schriftstellerkarriere werden. Doch als klar wurde, dass die Veranstaltungen wegen Corona ausfallen, verspürte ich keine Trauer, eher so etwas wie Erleichterung. Ich war selbst überrascht. Die Bewegungseinschränkung, der Rückzug in die Privatsphäre, die Tatsache, dass ich außer meinem Mann und hin und wieder einer Freundin kaum Menschen sehen durfte, machten mir eine Zeit lang wenig aus. Als die Schule, an der ich arbeite, geschlossen wurde, habe ich zunächst viel geschlafen und nichts getan. Danach kam die Inspiration. Insgesamt ist es eine ungewöhnlich produktive Zeit für mich.

Heute erscheint dein Lyrikband Licht in der Manteltasche im Chili Verlag. Es ist ein schön gestaltetes Buch, das sich in vier Kapitel teilt und bereichert ist durch deine Ölbilder. Wie war die Konzeption zum Buch?

Buchcover "Licht in der Manteltasche"
Buchcover von "Licht in der Manteltasche", erschienen im Chili Verlag 2020.

Wie immer hat sich die Konzeption der Gedichtsammlung von den Gedichten selbst leiten lassen: Zuerst entstanden die einzelnen Texte, dann fügten sie sich zu einem Buch zusammen. Ich schreibe kontinuierlich über Themen, die mich bewegen, und das variiert natürlich. In meinem vorletzten Buch, Der offene Raum, spielten die griechische Mythologie und andere Religionen eine wichtige Rolle. Die neue Sammlung, Licht in der Manteltasche, ist ganz anders. Zentrales Thema ist das urbane Leben in der Gegenwart. Die Gedichte sind weniger spirituell und mehr im Hier und Jetzt verankert. Die Sammlung beinhaltet Texte der letzten drei Jahre; mehrere wurden bereits in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Das titelgebende Gedicht Heimkehr hat 2018 den Postpoetry-Preis NRW gewonnen und das Gedicht Cinderella wurde vom WDR 5 ausgestrahlt. Die Kapiteleinteilung ergibt sich aus den Themen und war diesmal nicht schwer vorzunehmen. Die Bilder sind unabhängig von den Texten entstanden, in einer einzigen Nacht nach einem wunderschönen Konzert in der Nikolauskirche in Aachen.

Frauen werden weniger in renommierten Verlagen gedruckt, weniger rezensiert, weniger übersetzt, erhalten weniger Honorar, sind weniger in Buchempfehlungslisten und bekommen weniger Preise als ihre Kollegen. Männer gewinnen im Schnitt fünfmal häufiger. Schreiben Frauen schlechter oder was ist los im Literaturbetrieb?

Von den zehn bestverkauften Romanen aller Zeiten, wenn man den Statistiken glaubt, wurde fast die Hälfte von Frauen geschrieben: von Joanna K. Rowling, Agatha Christie, Lucy Maud Montgomery, Anna Sewell. Wenn man bedenkt, dass Frauen auch im westlichen Teil der Welt noch bis vor Kurzem kaum die gleichen Rechte und Chancen wie Männer hatten, ist es beachtlich. Und natürlich besagen die Verkaufszahlen wenig von der tatsächlichen Qualität der Werke. Annette von Droste-Hülshoff oder Emily Dickinson konnten sich auf keine hohen Verkaufszahlen berufen, und doch gehören ihre Gedichte zu den Besten, die geschrieben wurden. Warum also werden auch heute in Deutschland – und nicht nur hier – immer noch mehr Männer als Frauen mit Preisen ausgezeichnet und in Anthologien veröffentlicht? Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrtausende, die in den meisten Teilen der Welt patriarchalisch geprägt war, lässt sich nicht innerhalb weniger Jahrzehnte rückgängig machen. Die einflussreichen Schaltstellen des gesellschaftlichen Lebens – auch in der Kultur – stehen immer noch unter dem Einfluss dieser Tradition, die unsere Wahrnehmung prägt. Und die nicht nur von einigen Männern, sondern durchaus auch von einigen Frauen weitergetragen wird, auch wenn es sich erfreulicherweise ändert. Zum anderen liegt die mangelnde Anerkennung ihrer Arbeit an den Frauen selbst. Wir wurden konditioniert, unsere eigenen Wünsche zurückzustellen, um andere in ihren Wünschen, Ambitionen zu unterstützen. Wir sind weniger bereit, für uns selbst einzustehen, weil wir uns für weniger wichtig erachten oder die passiven Strategien bevorzugen. Das gilt natürlich nicht pauschal.

Wie kann man dem entgegenwirken? Dafür kämpfen, dass Frauen der gleiche Raum und die gleiche Anerkennung zukommen. Dafür sorgen, dass bei den Jurys von Literaturwettbewerben, bei Redaktionen von Verlagen, Herausgaben von Anthologien, im Hochschulbetrieb, bei Kulturinstitutionen etc. Frauen das gleiche Mitspracherecht haben wie Männer. Unsere Chancen nutzen – hier und jetzt!

Im Vorgespräch erzähltest du von deiner „doppelten Identität“. Du lebtest 27 Jahre in der Tschechoslowakei, dem Teil, welcher heute Tschechische Republik ist, und lebst nun seit etwa 30 Jahren in Deutschland. Du hast die tschechische und deutsche Staatsangehörigkeit und fühlst dich als Bürgerin beider Länder. Wo erlebst du Rassismus stärker?

"Rotes Zeichen, 2019" von Klara Hurkova
"Rotes Zeichen, 2019" von Klára Hůrková

Rassistische bzw. ethnische Vorurteile trifft man überall und leider auch bei sich selbst, was besonders frustrierend ist. Viele Tschech*innen z.B. haben aufgrund ihrer Geschichte starke Ressentiments den Russ*innen und den Deutschen gegenüber. Man muss immer auf der Hut sein, denn Rassismus schleicht sich überall in unser Sprechen und Tun ein, auch wenn wir vehement versuchen, dem entgegen zu wirken. Ich arbeite an einer Schule des zweiten Bildungswegs mit vielen internationalen Kursteilnehmenden, und meistens herrscht bei uns eine Atmosphäre der Toleranz und gegenseitigen Respekts. Nicht nur meine Kolleg*innen, sondern auch die Teilnehmer*innen leisten in dieser Hinsicht Großartiges. Und dennoch... Wenn ich jetzt behaupten würde, in Tschechien ist der Rassismus stärker ausgeprägt als in Deutschland oder umgekehrt, würde ich Verallgemeinerungen vornehmen, die wiederum Vorurteile schüren. Tatsache ist aber: Der Rechtspopulismus ist in Europa im Aufmarsch, und politisch hat er in Tschechien bereits stärker Fuß gefasst als in Deutschland. Das finde ich sehr traurig für mein schönes Heimatland, in dem viele meiner Freund*innen und auch großartige Schriftsteller*innen leben.

Du hast Philosophie in Prag studiert. Über wen oder was hast du promoviert?

Meine Dissertation an der Karlsuniversität in Prag beschäftigte sich mit der Erkenntnistheorie von George Berkeley. Später habe ich in Deutschland erneut studiert und an der RWTH Aachen promoviert, diesmal im Fach Anglistische Literaturwissenschaft, mit einer Arbeit über die Theaterstücke von Tom Stoppard und Václav Havel.

Du bist auch Übersetzerin und Herausgeberin wichtiger deutsch-tschechischer Anthologien mit Gegenwartslyrik . Nennst du uns drei tschechische Dichter*innen-Namen, die man gelesen haben sollte?

Von den modernen Klassikern des 20. Jahrhunderts möchte ich Jan Skácel, Václav Hrabě und Ivan Blatný nennen (ja, alles Männer...). Was die heutige Lyrikszene angeht, ist die Auswahl sehr groß, und ich möchte zur Abwechslung drei Frauen erwähnen: Sylva Fischerová, Kateřina Rudčenková und Olga Stehlíková. Viele moderne tschechische Dichter wurden hervorragend von Reiner Kunze ins Deutsche übertragen.

Klara Hurkova

KLÁRA HŮRKOVÁ wurde 1962 in Prag geboren und lebt in Aachen. Sie studierte Philosophie in Prag, später Anglistik und Kunstgeschichte in Aachen und Norwich und promovierte an der RWTH Aachen. Sie schreibt Lyrik und Prosa, übersetzt tschechische und deutsche Gegenwartslyrik und malt Bilder. In deutscher Sprache veröffentlichte sie acht Gedichtsammlungen, zuletzt Der offene Raum - Otevřený prostor, Edition Thaleia, St. Ingbert 2017. Ihre Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt und erhielten Auszeichnungen, u.a. den Preis für politische Lyrik 2017 (2. Sieger, mit M. Littau und M. Topali). Seit 2019 ist sie Mitglied im Tschechischen Zentrum des P.E.N.

Du schreibst auch Prosa: Sandra, die Franks Katze kidnappet, um ihr ausgeliehenes Geld zurückzubekommen, wäre gerne eine Lebenskünstlerin, wie es Tauben sind, aber sie hat nicht den Hang zur Paarung und Vermehrung, wie sie über sich selbst sagt. Am Ende der Geschichte[1] wissen wir, was Sandra mit dem Geld vorhat.  Weiß die Autorin, wie die Geschichte eigentlich weitergeht, obwohl sie für Leser*innen genau da endet?

Nein, in dieser Hinsicht hat die Autorin die gleiche Freiheit wie ihre Leser*innen: Sie kann die Geschichte immer wieder neu weiterspinnen und mit unterschiedlichem Ende versehen.

Drei Dinge, die deine Leser*innen von dir nicht wissen und auch in keinem anderen Interview erfahren werden?

Mein großer Traum ist es immer noch, einen guten Roman zu schreiben.
Ich bedauere es, keine Kinder zu haben, doch meine Texte sind meine Kinder.
Es macht mich glücklich, andere Menschen glücklich zu sehen, aber manchmal, wenn auch nicht oft, bin ich neidisch und eifersüchtig. Ob die Eitelkeit und Torheit irgendwann im Alter aufhören werden? Das wüsste ich gerne.

 

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[1] In: Klára Hůrková. Inseln. Verlag: Edition Thaleia. Im selben Verlag erschien von der Autorin: Der offene Raum. Gedichte, deutsch-tschechisch