Die Migrationsliteratur in Italien

von Christiane Kiemle

Italien im Wandel: Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland

Seit Menschengedenken haben sich Personen und Nationen untereinander ausgetauscht und – sei es durch Reisen, Handel oder Migration – ihr Wissen und ihre kulturellen und sprachlichen Eigenheiten in ihre Zielländer transportiert und dadurch oftmals wichtige Neuerungen und Veränderungen hervorgebracht. Doch obwohl keine grundsätzlich neuartige Erscheinung, ist das Thema Immigration heute gerade für Italien brisanter denn je und stellt das Land immer wieder vor Herausforderungen.

Seit den Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts migrieren jährlich Tausende von Menschen nach Italien. Längst ist aus dem traditionellen Auswanderungsland eine von Einwanderung geprägte, multikulturelle Gesellschaft geworden: Laut dem Istituto Nazionale di Statistica lebten dort im Januar 2008 3,5 Millionen ImmigrantInnen, was bereits 5,8% der Bevölkerung Italiens ausmacht – Tendenz steigend. Die zweifellos ebenfalls hohe, aber nicht genau bestimmbare Zahl illegaler EinwandererInnen ist dabei noch nicht einmal inbegriffen.

Eine Besonderheit der Immigration nach Italien liegt darin, dass die EinwandererInnen aus den unterschiedlichsten Gegenden der Erde stammen, nahezu jeder Kontinent ist in der Vielfalt ihrer Herkunftsländer vertreten. Es ist unübersehbar, in welchem Maße das Bild italienischer Metropolen wie Mailand, Rom oder Neapel längst entscheidend mitgeprägt wird von Menschen mit verschiedenstem nationalen und kulturellen Hintergrund, die in Italien eine zweite Heimat gefunden haben. Doch ausgerechnet Italien – über Jahrzehnte hinweg selbst von starker Massenemigration geprägt – tut sich mit der Rolle des Gastgebers schwer und begegnet diesen Fremden, vor allem wenn sie aus ärmeren, nicht-westlichen Ländern stammen, oftmals mit großer Skepsis und Misstrauen – eine Haltung, die von den Medien nur noch geschürt zu werden scheint.

Einseitige Berichterstattungen, in denen EinwandererInnen vor allem dann Schlagzeilen machen, wenn sie als StraftäterInnen auftreten, sind an der Tagesordnung. So werden ImmigrantInnen im öffentlichen Bewusstsein immer öfter mit Kriminellen gleichgesetzt. Die rechtspopulistische Regierung Berlusconis tut ihr Übriges, um Ressentiments gegen die unerwünschten MitbürgerInnen zu fördern – dabei scheint der Kampf gegen alles „Fremde“ von einem Großteil der italienischen Bevölkerung offensichtlich geradezu gewünscht zu sein, zumindest spricht die in den letzten Jahren zunehmende Machtgewinnung offen fremdenfeindlicher Parteien wie der Alleanza Nazionale und der Lega Nord, und nicht zuletzt die Wiederwahl Berlusconis zum Ministerpräsidenten im Jahr 2008, für sich.

Die Negierung der Multikulturalität zugunsten der Monokulturalität

Als eine in Italien derzeit sehr populäre Tendenz lässt sich immer mehr eine betonte Hinwendung zum Nationalen beobachten, die häufig mit einer unverhohlenen xenophoben Stimmungsmache gegen ImmigrantInnen einhergeht. Italiens eigene Emigrationsgeschichte und die Tatsache, dass lange Zeit italienische AuswandererInnen in alle Welt strömten und in fernen Ländern eine neue Heimat fanden, wird dabei ebenso aus dem nationalen Gedächtnis verdrängt wie die Kolonialgeschichte Italiens, deren bislang versäumte Aufarbeitung gerade von der Präsenz afrikanischer EinwandererInnen (vor allem jenen aus ehemaligen italienischen Kolonien wie beispielsweise Äthiopien, Eritrea und Somalia) nun geradezu herausgefordert zu werden scheint. Dies spiegelt vor allem eines wider: Italiens offenbare Angst vor dem Verlust nationaler Identität, die dazu führt, dass das meiste als „fremd“ Wahrgenommene als Bedrohung für die italienische Nationalkultur gewertet wird.

Das Nichtakzeptierenwollen und die Leugnung einer unübersehbaren multikulturellen Realität in Italien scheint umso überraschender, wenn man die ausgesprochen vielfältige kulturelle Vergangenheit bedenkt, die das Land geprägt hat. Die Begeisterung der Millionen von TouristInnen, die jedes Jahr aus aller Welt nach Italien strömen, basiert zum Großteil auf genau jenen unzählbaren Spuren von fremden Völkern, die über Jahrtausende hinweg die bewegte Geschichte der Apenninenhalbinsel entscheidend mitgestaltet haben.

Tatsächlich war Italien vor seiner nationalen Einigung am Ende des 19. Jahrhunderts in viele Königreiche und Kleinstaaten zersplittert, welche von Herrschern verschiedenster Herkunft regiert wurden. Tempel, Schlösser und Monumente dieser fremden Mächte sind stille Zeugen einer beeindruckenden Vergangenheit, die sich selbst noch heute in den mannigfaltigen Regionalkulturen und Mentalitätsunterschieden zwischen Nord- und Süditalien widerspiegelt. Auch die große Vielfalt an italienischen Dialekten ist noch heute sichtbares Resultat eines historisch, kulturell und sprachlich sehr heterogen geprägten Italiens.

Es war denn auch die dialektale Vielfalt, die bis zum 20. Jahrhundert die Suche nach einer einheitlichen Nationalsprache erschwerte, was wiederum einige der größten italienischen PoetInnen und LiteratInnen zu dem Versuch bewog, durch ihre Werke eine gemeinsame italienische Sprache zu etablieren und zu verbreiten. Angesichts dieser historisch belegten und bis in die Gegenwart hineinwirkenden, kulturell und sprachlich äußerst vielschichtigen, niemals aber monokulturellen nationalen Vergangenheit wirkt Italiens Bestreben, sich heute als monokulturelle Nation wahrnehmen zu wollen und diese illusorische Sicht krampfhaft aufrechtzuerhalten, mehr als paradox. Die „späte Nation“ Italien scheint ihre hart erkämpfte nationale Einheit auf höchst fraglichen, immer brüchiger werdenden Konzeptionen von Italianität zu basieren und verteidigen zu wollen.

Die Entwicklung einer Letteratura italiana della migrazione

Trotz ihrer nicht selten ungeahnt hohen Bildung und akademischen Qualifikation müssen sich EinwandererInnen in Italien meist als FensterputzerInnen, Haushaltshilfe oder StraßenverkäuferInnen (in der italienischen Alltagssprache mit dem pejorativen Begriff „Vu-Cumprà“1 benannt) ihr tägliches Brot verdienen. Dass sie sich auch intellektuell oder künstlerisch betätigen und sich auch immer mehr aktiv an der Bereicherung und Mitgestaltung der italienischen Kultur beteiligen, wird im öffentlichen Bewusstsein in der Regel ausgeblendet oder durch die einseitige Medienberichterstattung erst gar nicht genügend publik gemacht.

So ist auch eine sehr junge, immer noch im Entstehen begriffene Literatur in Italien bisher weitestgehend unbeachtet geblieben, deren Anfänge vor knapp zwanzig Jahren sichtbar wurden: Um das Jahr 1990 ergriffen drei nach Italien eingewanderte Autoren das Wort und veröffentlichten ihre Erfahrungen der Migration in Buchform: Mit Immigrato von Salah Methnani (1990), Io, venditore di elefanti von Pap Khouma (1990) und Chiamatemi Alì von Mohamed Bouchane (1991) – autobiographische Texte, die allesamt die durch die Autoren selbst erlebte Erfahrung der Migration nach Italien, das Leben in der Fremde und des Fremdseins narrativ ausbreiten – legten sie den Grundstein für eine neue Literatur in Italien: eine Letteratura italiana della migrazione2 enstand, eine Migrationsliteratur also, wie sie andere Länder wie Deutschland, Kanada oder die USA längst kannten.

Weitere in Italien lebende EinwandererInnen folgten den Beispielen Methnanis, Khoumas und Bouchanes und wählten ebenfalls das Italienische als Sprache ihres literarischen Ausdrucks. Waren die nun folgenden, immer zahlreicher auftauchenden Texte in der anfänglichen Entstehungsphase dieser Literatur – ähnlich wie die eben geannnten „Gründungstexte“ – noch stark autobiographisch geprägt und thematisierten oftmals die sozialen Missstände und Diskriminierungen, denen sich ImmigrantInnen in Italien ausgesetzt sehen, so entstehen seit einiger Zeit immer mehr Arbeiten, bei denen zwar die Erfahrung des Lebens in mehreren Kulturen und Sprachen und das Erleben des MigrantInnenseins zentrale Themen darstellen, der autobiographische Aspekt jedoch zugunsten ästhetischer Ansprüche und literarischer Fiktionalität in den Hintergrund rückt.

Dass die AutorInnen diese erste, autobiographisch geprägte Phase hinter sich gelassen haben, bezeugen viele in den letzten Jahren publizierte Werke: So etwa der 2006 erschienene Roman Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio des Algeriers Amara Lakhous, der die Geschichte eines Mordes, der in einem Multikulti-Viertel in Rom verübt wird, erzählt und dabei die kulturellen und sprachlichen Eigenheiten der aus allen Winkeln der Welt stammenden BewohnerInnen beschreibt. Lakhous begibt sich mit diesem fiktionalen Text in das Genre des Krimis, liefert aber gleichzeitig mit seinem Roman eine „Milieustudie“ der besonderen Art ab, die mit ihrer Vielfalt an dialektalen und fremdsprachlichen Elementen an Carlo Emilio Gaddas Pasticciaccio erinnert.

Auch der hier bereits erwähnte Senegalese Pap Khouma schuf mit seinem 2005 erschienenen Titel Nonno Dio e gli spiriti danzanti einen spannungsreichen Roman, der nichts Autobiographisches an sich hat, sondern die ereignisreiche, als Urlaub geplante Rückkehr eines nach Italien ausgewanderten Afrikaners in sein fiktives Heimatdorf in der Sahelregion beschreibt. Ein wiederkehrendes Thema stellen die zahlreichen auftretenden Konflikte zwischen dem Protagonisten und dessen von magischen Ritualen und archaischen Traditionen geprägter Herkunftskultur dar, die ihm nunmehr in vielerlei Hinsicht fremd erscheint – viel vertrauter ist ihm mittlerweile die Kultur seiner Wahlheimat Italien, in der er sich, das wird ihm während seines Aufenthalts im Dorf seiner Familie klar, inzwischen mehr zu Hause fühlt als in seiner afrikanischen Heimat.

Auch die aus der Schweiz stammende, in Rom lebende Autorin Susanne Portmann thematisiert in ihrem 2007 veröffentlichten Roman Lasciando il bosco die Erfahrung des Lebens in der Fremde, wobei die dramatischen Kindheitserlebnisse eines mittlerweile erwachsenen schweizerischen Geschwisterpaares im Zentrum der Handlung stehen. Nach dem Verschwinden seiner in Rom lebenden Schwester macht sich der männliche Protagonist David nach Italien auf, um nach ihrem Verbleib zu forschen. Sein Aufenthalt in Italien wird zu einer Reise in die Vergangenheit, die ihn zur Aufarbeitung lange verdrängter, traumatischer Kindheitserfahrungen führen wird.

Die eben genannten Beispiele mögen verdeutlichen, wie breit und vielfältig gefächert die in den neueren Texten der AutorInnen anzutreffenden Themen sind. Doch nicht nur in thematischer, sondern auch in vielerlei anderer Hinsicht ist die Migrationsliteratur in Italien in sich äußerst heterogen, sowohl was die außergewöhnliche Vielfalt an Herkunftsländern ihrer AutorInnen angeht – hauptsächlich stammen sie aus Afrika (vor allem aus den Maghreb-Staaten sowie aus zahlreichen anderen afrikanischen Ländern wie Äthiopien, Senegal und Somalia), aber auch aus europäischen (zum Beispiel Albanien, Kroatien oder Rumänien), lateinamerikanischen (vorwiegend Argentinien und Brasilien)  und asiatischen Ländern (über China und Indien bis hin zu Irak und Iran) – als auch was die Genres betrifft, die in ihr vertreten sind. Von Kurzgeschichten, Romanen und Gedichten, bis hin zu Theaterstücken und Werken, die literarische, musikalische und vokalische Elemente verbinden, setzen die AutorInnen ihrer Kreativität keine Grenzen.

In Grenzen hält sich hingegen das Interesse der italienischen Verlagsindustrie: Die Werke der in Italien lebenden SchriftstellerInnen mit Migrationshintergrund werden in der Regel, wenn überhaupt, von kleinen, eher unbekannten Verlagen publiziert und sind meist nur in einigen wenigen, darauf spezialisierten Buchhandlungen erhältlich. Auch die Literaturwissenschaft in Italien interessiert sich bislang wenig für diese junge Literatur; bezeichnenderweise wird ihr im ausländischen akademischen Kontext, vor allem im angloamerikanischen Raum, deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Angesichts der Schwierigkeiten, ihre literarischen Arbeiten zu veröffentlichen und zu verbreiten, finden die AutorInnen gerade in solchen eigens für die Migrationsliteratur in Italien geschaffenen Internet-Foren wie Kuma einen wichtigen Raum, um ihre Arbeiten zu präsentieren und Möglichkeiten für Austausch und Diskussion zu erhalten.

Sprachsymbiosen

Ein überraschendes Element und eine der vielsagendsten Eigenschaften dieser Literatur stellen die Rolle und der Gebrauch der italienischen Sprache dar: Die Mehrzahl der AutorInnen schreiben nicht in ihrer Erstsprache, sondern entscheiden sich dafür, ihre Texte auf Italienisch zu verfassen und zu veröffentlichen, wobei sie vor allem in der ersten Enstehungsphase der Migrationsliteratur in Italien die Hilfe einer/es italienischen Muttersprachlerin/ers in Anspruch nahmen (ein Vorgang, der in der Sekundärliteratur häufig mit dem Schlagwort „vierhändiges Schreiben“ benannt wird).

So trägt diese auf Italienisch verfasste Literatur zweifellos längst einen wichtigen Teil zur zeitgenössischen italienischsprachigen Literatur bei, auch wenn sie von der italienischen Nationalliteratur (die sich selbst nach wie vor klare, auf rigiden Vorstellungen von italienischer Nationalkultur basierende Grenzen setzt) ausgeschlossen und weitestgehend unbeachtet bleibt. Doch auch wenn die AutorInnen mit ihren untereinander so unterschiedlichen nationalen und sprachlichen Hintergründen das Italienische als Literatursprache wählen, so führt dies doch keineswegs zu rein monolingualen Texten. Im Gegenteil, das Italienische wird häufig durch fremdsprachliche Elemente und Einfärbungen bereichert. Oftmals ist die Präsenz der Erstsprache der AutorInnen, oder sogar mehrerer Sprachen, deutlich sichtbar, wobei dies in den unterschiedlichsten Formen erfolgen kann.

So stellen einige AutorInnen, wie der in Italien im Exil lebende albanische Lyriker Gëzim Hajdari in seinem 2005 erschienenen Poema dell’esilio. Poema e mërgimit, einem in ihrer Erstsprache verfassten Text die Übersetzung ins Italienische gegenüber.

Andere arbeiten Elemente aus anderen Sprachen in den italienischen Text ein und reichern ihn mit fremdsprachigen Lexemen und fremdsprachlich beeinflussten syntaktischen Strukturen an, so beispielsweise Pap Khouma in seinem Roman Nonno Dio e gli spiriti danzanti, wenn er verschiedene Figuren in mehreren Sprachen sprechen lässt. Dies lässt sich durch das folgende Zitat veranschaulichen, das die Rede einer aus der Sahelregion stammenden Nebenfigur wiedergibt – hier wird ein Code-switching zwischen Italienisch, Französisch und der Erstsprache des Protagonisten (und des Autors) vollzogen:

Tu sais, grand-frère, un mercato turistico è lo specchio di cos’è un Paese, i suoi nitt, la sua teranga, i suoi ada. Grand-frère, tu vivi a Tougal, quindi sai qual è il mio sogno? Aller moi aussi a vivere in...“ (Khouma 2005: 176 f.)

Als Verständnishilfe werden die italienischen Übersetzungen der meisten fremdsprachlichen Lexeme in diesem Roman in Fußnoten wiedergegeben. So erfahren die LeserInnen auf der Buchseite, der das oben stehende Zitat entnommen ist, dass nitt „uomini, popoli“ bedeutet, Teranga für „ospitalità, accoglienza“ steht und Ada  „usi e costumi, deriva dal nome Adamo, di cui è diminutivo“, beschreibt. Damit führen solch multilinguale Spuren die LeserInnen häufig in das Wesen anderer Sprachen und in die Traditionen anderer Kulturen ein.

Weitere Beispiele für diese sprachliche Vielfalt finden sich unter anderem auch in den Werken der Autorin Barbara Serdakowski, die in Polen geboren wurde, in Marokko und Kanada lebte und heute ihren Lebensmittelpunkt in Italien hat. In ihren Gedichten findet häufig ein ständiger Wechsel zwischen Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch und Polnisch statt, jenen Sprachen also, die ihr Leben auf den verschiedenen Stationen ihrer Migration begleitet haben. Serdakowskis Gedicht Scrivo veranschaulicht auf eindrucksvolle Weise, welche Form ein von Mehrsprachigkeit geprägtes Schreiben annehmen kann:

Quand le savoir se lie au devenir
Quando il sapere si lega al divenire

Quand les plans de vie s’effleurent
Quando i piani di vita si sfiorano

Quand les idées creusent des tranchées dans le corps de l’indifférance
Quando le idee scavano trincee nella corposità dell’indifferenza

Ya sabia que no se puede regresar una vez que se parte
Già sapevo che non si può tornare indietro una volta che si parte

Y por eso, hasta solo por eso, eternamente escribo
E per quello, anche solo per quello, eternamente scrivo

Tracce e penombre di grafie
Come uve spolverate d’acquamarina
Riflesse tonde
Tra viticci di segni ed astratto fogliame

Within the fissures and creases of skin
Tra fissure e pieghe di pelle
Tam wlassnie ja pisze
E proprio dove io scrivo

Scrivo in variopinte sfumature di suoni
Con gesti convulsi ed inchiostro da sedimento
Scrivo sulle spalle desolate
Su nugoli di palpebre a tratti schiuse,

polpose

Of precepts, contradictions and forgiveness
Di precetti, contraddizioni e condono

China, sommessa o soccorsa,
Sull’interno bianco tiepido delle mie cosce,

Lapczywie pisze
Avidamente scrivo

E sento formicolare su di me parole dalle mille falangi.

Wie hier klar ersichtlich ist, wird die italienische Übersetzung immer kursiv wiedergegeben, das Italienische bleibt somit, trotz der multilingualen Komposition des Gedichts, die sprachliche Konstante und kommt damit dem Verstehensprozess seitens der italienischsprachigen Leserschaft entgegen.

Ein anderer mehrsprachig geprägter Autor ist der Somalier Garane Garane, der auf Italienisch schreibt, aber auch Somalisch, Französisch und Englisch in seine Texte einarbeitet, so in seinem 2005 publizierten Roman Il latte è buono. Neben zahlreichen Phänomenen der Mehrsprachigkeit – die sich oftmals durch Formen des Code-switchings, ähnlich wie bereits weiter oben durch ein Zitat aus Pap Khoumas Nonno Dio e gli spiriti danzanti veranschaulicht, manifestieren – spielen in diesem Text auch implizite und explizite Hinweise auf die einst in Somalia herrschende Kolonialmacht Italien eine wichtige Rolle. Dies veranlasste den italienischen Komparatisten Armando Gnisci  in der bei Cosmo Iannone Editore erschienenen Ausgabe des Romans dazu, diesen Titel als den „ersten postkolonialen italienischen Roman“ zu bezeichnen.

Die aus Brasilien stammende Autorin Christiana de Caldas Brito hingegen entwickelt und benutzt in ihren literarischen Arbeiten des öfteren eine Mischsprache aus Italienisch und Brasilianisch, in denen sie ihre Protagonistinnen sprechen lässt, so auch in ihrem Text Ana de Jesus:

Signora, qui triste e freddo. Lo so, lei dato me capotto bello, ma paese mio non bisogno capotto. Ieri sera, signora, piovudo forte, no? E io presa pioggia su corpo, capelli. Tutto bagnado. Io rideva, contenta. Tutti guardavano come io era pazza. Paese mio prendo sempre pioggia, non polmonite.
(De Caldas Brito 1998: 54)

Dieses brüchige Italienisch der Sprecherin (einer brasilianischen Einwanderin, die in Italien als Haushaltshilfe arbeitet und hier mit ihrer Chefin, der „Signora“, spricht) in welchem der gesamte, als Monolog verfasste Text gehalten ist, erinnert mitunter an das – auch in der deutschen Migrationsliteratur stellenweise bewusst verwendete und literarisch inszenierte – „Gastarbeiterdeutsch“ und stellt als konstruiertes, literarisch verwendetes „Migrantenitalienisch“  ein in der italienischsprachigen Literatur neuartiges Phänomen dar.

Ausblick

Die genannten AutorInnen stellen nur eine kleine Auswahl aus der Fülle an SchriftstellerInnen dar, deren Arbeiten zum Ausdruck bringen, dass sie in Italien und im Italienischen eine zweite Heimat gefunden haben, und die deutlich machen, welch überaus fruchtbare Effekte das Leben in mehreren Kulturen und Sprachen zu erzeugen vermag. Mit ihrem Reichtum an sprachlich und thematisch neuartigen Aspekten trägt die Migrationsliteratur zweifellos zur Erneuerung und Belebung der zeitgenössichen italienischsprachigen Literatur bei, auch wenn sie nach wie vor ein von der literarischen Öffentlichkeit in Italien weitestgehend unbeachtetes Phänomen bleibt.

Ähnlich wie in Deutschland, wo die deutschsprachige Literatur migrantischer SchriftstellerInnen lange Zeit nicht als „deutsche“ Literatur verortet wurde und eine Marginalisierung erfuhr, wird auch der Migrationsliteratur in Italien bisher wenig Akzeptanz entgegengebracht. Ihre breitere Rezeption könnte unter Umständen zu einer positiveren Wahrnehmung der ImmigrantInnen in Italien beitragen und den ItalienerInnen darüber hinaus wichtige Anreize zu der längst fälligen Aufarbeitung ihrer vernachlässigten Emigrations- und Kolonialgeschichte bieten.

Durch ihre bloße Existenz und durch ihre Jahr um Jahr zunehmende Fülle an Texten zeigt die Migrationsliteratur in Italien auf, dass „das Land, wo die Zitronen blühen“ nicht nur sein fragwürdiges nationales Selbstbild neu definieren, sondern auch seine rigiden, monokulturell orientierten Vorstellungen von der italienischen Nationalliteratur, und der Nationalkultur im allgemeinen, überdenken sollte.

 

Endnoten:

1 Der Ausdruck imitiert die ausländischen StraßenverkäuferInnen zugeschriebene, auf Italienisch formulierte, aber falsch ausgesprochene Frage „Vuoi comprare?“ („Willst du kaufen?“).

2 Dieser Begriff wurde von dem an der Universität La Sapienza in Rom lehrenden Komparatistik-Professor Armando Gnisci geprägt, der sich als der erste (und bis heute in Italien als einer der sehr wenigen) Wissenschaftler der Würdigung und Erforschung der Migrationsliteratur in Italien widmet.

Literatur:

  • Bouchane, Mohamed (1991): Chiamatemi Alì (hg. von Carla De Girolamo und Daniele Miccione). Milano.
  • De Caldas Brito, Christiana (1998): “Ana de Jesus”. In: Le voci dell’arcobaleno, Ramberti, Alessandro/Sangiorgi, Roberta (Hg.), Santarcangelo di Romagna, 54–57.
  • Garane, Garane (2005): Il latte è buono. Isernia.
  • Hajdari, Gëzim (2005): Poema dell’esilio. Poema e mërgimit. Santarcangelo di Romagna.
  • Khouma, Pap (1990): Io, venditore di elefanti. Una vita per forza fra Dakar, Parigi e Milano (hg. von Oreste Pivetta). Milano.
  • Khouma, Pap (2005): Nonno Dio e gli spiriti danzanti. Milano.
  • Lakhous, Amara (2006): Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio. Roma.
  • Methnani, Salah/Fortunato, Mario (1990): Immigrato. Roma/Napoli.
  • Portmann, Susanne (2007): Lasciando il bosco. Napoli.
  • Serdakowski, Barbara (2006 ): “Scrivo“. In: Ai confini del verso. Poesia della migrazione in italiano, Lecomte, Mia (Hg.), Firenze, 182–183.

 

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Christiane Kiemle studierte an den Universitäten Bayreuth und Catania Romanistik und Komparatistik. Seit 2007 promoviert sie an der Jacobs University Bremen über die Migrationsliteratur in Italien.