"Das heutige Aufenthalts- und Asylrecht ist ein Spiegel der politischen Auseinandersetzungen und Diskurse in der Migrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte," so Filiz Polat (MdB), migrationspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Änderungen im Aufenthalts- und Asylrecht folge lediglich einem rechten Diskurs der Abschottung und Abschreckung, der nichts mit den tatsächlichen Herausforderungen bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von Schutzsuchenden zu tun hat.
Ein Kommentar zu der Chronik "Deutsches Aufenthaltsrecht im Wandel".
Das heutige Aufenthalts- und Asylrecht ist ein Spiegel der politischen Auseinandersetzungen und Diskurse in der Migrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Die Asylrechtsverschärfungen und Änderungen im Ausländer- bzw. Aufenthaltsgesetz wurden stets mit Diskursverschiebungen und gezielt befeuerten Debatten im Voraus begleitet. Die Muster waren und sind stets die Gleichen: kommen mehr Geflüchtete, reagieren Konservative zunächst mit Rufen über angebliche „Überfremdung“ und dann mit Gesetzesverschärfungen. So war im Jahr 1991, zwei Jahre vor dem Asylkompromiss - einem der größten Einschnitte im Asylrecht - „ausländerfrei“ das Unwort des Jahres, „Überfremdung“ anschließend das Unwort des Jahres 1993. Mit Parolen wie “das Boot ist voll“ oder die Unterschriftenaktion der Union gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wurden bereits in den 1990er und 2000er Jahren Reformen im Aufenthaltsrecht aufgeheizt. Von Bedeutung hierbei waren und sind bis heute die immer wiederkehrenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse um Zugehörigkeiten und (nationale) Identität(en), Leitkultur versus Diversität, Segregation versus Partizipation und Chancengerechtigkeit. Die konservative Stimmungsmache von damals ist allerdings in den letzten Jahren, angefeuert vom rechten Rand, noch schärfer geworden, die Sprache verroht, die Diffamierungen und Pauschalisierungen werden extremer.
Die Änderungen im Aufenthalts- und Asylrecht der letzten Jahre sind im Grunde genommen eine Fortsetzung dieser Dynamik. Angetrieben von den Unruhen des Arabischen Frühlings, dem Bürgerkrieg in Syrien, der instabilen Lage im Irak und Afghanistan, machten sich immer mehr Schutzsuchende auf die Flucht nach Europa. Lange Zeit trugen der Libanon, die Türkei und die europäischen Mitgliedsstaaten an den europäischen Außengrenzen die Hauptlast zunehmender Flüchtlingszahlen. Die Problemstellungen reihen sich ein, in eine Art Tradition europäischer Geflüchtetenpolitik. Bereits 2011 fragte die damalige Bürgermeisterin von Lampedusa Guisi Nicolini: „Wie groß muss der Friedhof auf meiner Insel noch werden?“. Die Europäische Union reagierte mit 340 Millionen Euro allein für das Überwachungssystem Eurosur (European Border Suveillance System), mit Aufklärungsdrohnen und im All installierten Satelliten. Der Etat für Frontex wurde verdoppelt, Millionen für die militärische Triton-Mission und das Smart-Border Projekt ausgegeben; immer mit dem klar formulierten Ziel: „fight against irregular immigrants“. Eine „Flüchtlingspolitik mit Todesfolge“ urteilte Pro Asyl zu Recht, was anhand von fast 20.000 im Mittelmeer ertrunkenen Schutzsuchenden seit 2014 der traurigen Realität entspricht. Statt den Flüchtlingsschutz zu verbessern und besonders betroffene Staaten durch eine Reform des Dublin-Systems zu entlasten, reagierte die Europäische Union mit einer weiteren Aufstockung des Grenzschutzes.
Für die Regierung Merkel eine vergleichsweise bequeme Situation, bis uns am 4. September 2015 die Bilder vom Budapester Bahnhof erreichten. Die deutsche Öffentlichkeit stand in diesen Tagen noch unter dem Eindruck des kleinen Alan Kurdi. Das Foto des Dreijährigen, das um die Welt ging, dessen lebloser Körper an einen türkischen Strand gespült worden war. Im gleichen Zeitraum wurde ein Lastwagen auf dem Seitenstreifen der A4 in Österreich entdeckt, in dem 71 Leichen gefunden wurden, darunter acht Frauen und vier Kinder, alle erstickt. Die Entscheidung der Kanzlerin die Geflüchteten von Ungarn über Österreich nach Deutschland weitereisen zu lassen, war notwendig und richtig, hat allerdings die bisher geltende Arithmetik in der deutschen und europäischen Migrationspolitik ins Wanken gebracht. Eine konservative Politikerin ließ, um eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden, tausende Geflüchtete aus zumeist muslimischen Ländern ins Zentrum Europas.
Auf das „refugees welcome“ und Merkels „Wir schaffen das!“ folgte unmissverständlich die Antwort der „Das-Boot-ist-voll“-Fraktion. Der heutige Bundestagspräsident und damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble warnte vor einer „Flüchtlingslawine“. Der damalige CSU-Chef und bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer distanzierte sich ebenfalls von der Kanzlerin und erklärte gegenüber dem SPIEGEL (11.09.2015): "Das war ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird. (…) Wir kommen bald in eine nicht mehr zu beherrschende Notlage." Kurz darauf setzte er ein Zeichen, indem er sich mit dem umstrittenen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zur nächsten Klausurtagung seiner Landtagsfraktion verabredete.
Auch verschiedene Medien schwenkten nach einer kurzen euphorisierten Berichterstattung über die große Hilfsbereitschaft der Bürger/innen in die Rhetorik von Notstand, Flüchtlingskrise und Staatsversagen ein. Die Welt titelte mit „Herbst der Kanzlerin. Geschichte eines Staatsversagens“ und verglich die Ereignisse mit dem „deutschen Herbst“ der Bundesrepublik 1977, als Terroristen Hanns Martin Schleyer und 83 Passagiere der Lufthansamaschine „Landshut“ in Geiselhaft genommen haben.
Die Bevölkerung taumelte von einer Stimmungslage in die andere, massiv verunsichert durch die regierenden Politiker/innen. Die Bundesregierung war innerhalb kürzester Zeit tief gespalten. Die Union griff aus den eigenen Reihen ihre Kanzlerin hart an, während Politiker/innen aus dem anderen Lager die humanitäre Maßnahme begrüßten.
In der Zwischenzeit bemühten sich die meisten Regierungen in den Bundesländern, gemeinsam mit den Kommunen, die große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung zu koordinieren und die Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten zu organisieren.
Auf die Ankunft zehntausender Geflüchtete - innerhalb kürzester Zeit - war das Aufnahmesystem bis dato nicht ausgerichtet und die Defizite der bisherigen Flüchtlingspolitik wurden offengelegt. Insbesondere das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geriet zunehmend in die Kritik. Zudem wurde deutlich, dass im Grunde die gesamte Kostenlast von der Ankunft bis zur Anerkennung der Geflüchteten im Wesentlichen bei den Bundesländern und Kommunen lag. Solange das BAMF nicht funktionierte und personell entsprechend ausgestattet war, mussten die Länder und Kommunen nicht nur in finanzielle Vorleistung treten, sondern auch die Integration vor Ort organisieren. Das gesamte Integrationskurssystem funktionierte bis dahin auf der Annahme, dass Integration erst mit dem Aufenthaltsstatus beginnen dürfe. So war es nicht verwunderlich, dass Grüne, Linke und SPD ihre alten Forderungen erneut an den Bund adressierten, um nicht nur eine ordentliche Registrierung zu gewährleisten, Asylverfahren zu beschleunigen, sondern auch die Integrationskurse frühzeitig zu öffnen.
Auf der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) Ende September 2015 wurde dann nach langen Verhandlungen der Weg bereitet für das „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“. Einige Maßnahmen, die zuvor im Rahmen eines „9-Punkte-Flüchtlingspakets“ von der Großen Koalition vorgelegt wurden, konnten auf der MPK entschärft oder verhindert werden, wie beispielsweise die Forderung nach Transitzonen. Dennoch zeigte sich schnell, dass sich in der aufgeheizten Stimmung vor allem die asylpolitischen Hardliner bei den wichtigen Fragen zu den strukturellen Änderungen im deutschen Asylsystem durchsetzen konnten - mit dem einzigen Ziel die Anzahl von Geflüchteten zu begrenzen.
Das umstrittene Gesetzespaket fand im Bundesrat letztendlich durch die Einigung bei der Kostenverteilung eine Mehrheit. Die Bundesländer konnten die Bundesregierung davon überzeugen, endlich in eine dynamische finanzielle Unterstützung einzusteigen, die zu einer Entlastung bei der Kostenverteilung bei Ländern und Kommunen bis 2019 beitragen sollte. Erstmalig wurden den Ländern und Kommunen vom Bund wieder mehr Mittel für den sozialen Wohnungsbau und den Ausbau von Kindertagestätten zur Verfügung gestellt.
Die Möglichkeit der Einführung einer Gesundheitskarte auf Länderebene und die Öffnung der Integrationskurse für Geflüchtete mit „hoher Bleibeperspektive“ sollte als Ausgleich zu den massiven Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht eher der grünen Zustimmung im Bundesrat dienen. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „hohen Bleibeperspektive“ sollte allerdings noch weitreichende Folgen haben für diejenigen, die nicht unter diese Kategorie fallen würden, während die gesetzliche Einführung der Gesundheitskarte doch nur zur Protokollnotiz verkam.
Notwendige Reformen, um langfristige Aufnahme- und Integrationsstrukturen zu schaffen, blieben dagegen komplett aus. Stattdessen wurden Defizite beim Asylverfahren nur mit mehr Bürokratie beantwortet und neue Integrationshemmnisse ausgebaut. Der verlängerte Verbleib in den Erstaufnahmeeinrichtungen ver- und behinderte eine schnelle Integration. Es wurde billigend in Kauf genommen, dass sich in den ohnehin überlasteten und beengten Unterkünften die Wahrscheinlichkeit von Konflikten erhöht.
Die Einstufung der Westbalkan-Staaten Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien im Jahr 2014 als „sichere Herkunftsstaaten“ hatte weitreichende Folgen für die Minderheit der Rom*nja in diesen Staaten und führte zudem zu einem faktischen Arbeitsverbot und umfassenden sozialrechtlichen Folgen für die Menschen, die bereits in Deutschland leben. 2015 folgte mit der Einstufung von Albanien, Montenegro und dem Kosovo die Aufnahme weiterer Westbalkanstaaten in die Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“. Darüber hinaus wurde eine Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes auf den Weg gebracht, das trotz des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 2012 pauschale Leistungskürzungen für bestimmte Gruppen vorsah. Ein Bündnis aus Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen sowie Migrant/innenorganisationen appellierte an die Bundesländer, insbesondere die grün-mitregierten, menschenrechtliche Grundsätze nicht aufzugeben und diesem Gesetzespaket im Bundesrat die Zustimmung zu verweigern. Gleichzeitig formulierten die Verbände kluge und sinnvolle Vorschläge: schnelle und faire Asylverfahren ohne Aushöhlung der Rechtsgarantien Asylsuchender, der sofortige Zugang zu Sprachkursen und Qualifizierungsmaßnahmen für alle Geflüchtete, wobei eine Einteilung in Geflüchtete mit „guter“ und „schlechter“ Bleibeperspektive abgelehnt wurde, und nicht zuletzt die Abschaffung der Dublin-III-Verordnung.
Die Auseinandersetzung und der Richtungsstreit in der Geflüchtetenpolitik innerhalb der Union und die Polarisierung in der Bevölkerung, angeheizt durch Rechtspopulist/innen, spitzte sich spätestens nach dem schrecklichen Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin und den Übergriffen auf dem Kölner Domplatz in der Silvesternacht zu Beginn des Jahres 2016 zu. Beide Ereignisse waren ein gefundenes Fressen für all diejenigen, die das Schreckensbild vom „kriminellen Ausländer“ und den „muslimischen Terroristen“ bedienten. Es folgten innerhalb weniger Wochen massive Verschärfungen im Ausweisungsrecht und das so genannte Asylpaket II konnte mit heftigen Einschnitten für Geflüchtete durchgesetzt werden. Darunter waren unter anderem die Einschränkungen beim Familiennachzug. Völlig unter dem Radar geblieben waren weitgehende Verschärfungen im Ausweisungsrecht, insbesondere die Möglichkeit zur Abschiebung von seelisch erkrankten Personen.
Im Frühjahr 2016 folgte dann eine erneute Debatte um die sicheren Herkunftsstaaten. Nach den bereits vorher als sicher erklärten Balkanstaaten sollte nun die Liste um Marokko, Algerien und Tunesien erweitert werden. Eine Zerreißprobe, insbesondere für die nordrhein-westfälische Landesregierung, die den Attentäter des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz in Berlin hätte abschieben können. Das Gesetz wurde im Bundesrat mit der Mehrheit der grün-mitregierten Ländern gestoppt, ebenso eine weitere Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Die Bundestagswahlen im Jahr 2017 waren geprägt von den Debatten in der Flüchtlingspolitik. Der Familiennachzug, die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer und der Diskurs um eine Obergrenze kennzeichneten nicht nur den Richtungsstreit innerhalb der politischen Lager, sondern sollten auch die sich anschließenden Sondierungsgespräche prägen. Nach der Absage der FDP erfolgte nach Parteitagsbeschlüssen erneut die Bildung einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Die SPD, durch die Wahlen bereits maximal geschwächt und gedanklich schon in der Opposition eingerichtet, musste erneut einen Weg finden, mit einer ebenso geschwächten und gespaltenen Union zu regieren. Der vermeintliche Schachzug von Angela Merkel, mit Horst Seehofer den größten Kritiker ihrer Geflüchtetenpolitik als Bundesinnenminister ins Kabinett zu holen, führte ein ums andere Mal zum Beinahebruch der Koalition. Die CSU und Vertreter/innen der Werte-Union diktierten fortan den asylpolitischen Diskurs unter verschärfter Tonlage, was im Juli 2018 zunächst in dem sogenannten „Masterplan“ Migration von Bundesinnenminister Seehofer mündete. Die mit dem „Masterplan“ zugespitzte Diskussion um Transitzentren endete in der Einführung von sogenannten AnkER-Zentren (Ankunft, Entscheidung, Rückführung), denen sich jedoch die meisten Bundesländer mit Ausnahme von Bayern, dem Saarland und Sachsen verweigerten. Den Höhepunkt bildete jedoch ein Paket von acht Gesetzesinitiativen im Asyl- und Aufenthaltsrecht, die mit unangemessener Schnelligkeit mit den Stimmen der Großen Koalition beschlossen wurden. Die massive Kritik der Sachverständigen und Expert/innen, auch aus den Reihen der Regierungskoalition, blieben unberücksichtigt.
Das Gesetzespaket beinhaltete zwar ein lange erwartetes aber umstrittenes Fachkräfteeinwanderungsgesetz sowie das Ausbildungs- und Beschäftigungsduldungsgesetz, welches die Situation für geduldete, abgelehnte Asylsuchende verbessern sollte, jedoch werden die wenigen Verbesserungen in beiden Gesetzen weit hinter den Forderungen der Verbände, der Wirtschaft, den Kirchen und von zivilgesellschaftlichen Vertreter/innen zurückbleiben. Stattdessen fand mit Verschärfungen im Asylbewerberleistungsgesetz, im Staatsangehörigkeitsrecht und mit dem verharmlosend genannten „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“, der stärkste Eingriff in die Rechte von Geflüchteten und Geduldeten statt.
Die Agenda der Gesetzesverschärfungen folgt einem rechten Diskurs der Abschottung und Abschreckung, der nichts mit den tatsächlichen Herausforderungen bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von Schutzsuchenden zu tun hat.
Damit wird Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nur für ihre Entscheidung, im Jahr 2015 Geflüchteten die Weiterreise nach Deutschland zu ermöglichen, in die migrationspolitische Geschichte eingehen, sondern auch als diejenige, die die schärfsten Asylgesetze und aufenthaltsrechtlichen Änderungen seit dem Asylkompromiss 1993 durchgesetzt hat.
Die Zivilgesellschaft und der unermüdliche Einsatz von Millionen – größtenteils ehrenamtlicher – Unterstützer/innen zeigen indessen immer wieder, dass es anders geht. Über Monate demonstrierten in vielen Städten Zehntausende wöchentlich für die Initiative Seebrücke und eine Vielzahl an Kommunen in ganz Deutschland erklärte zusätzliche Aufnahmebereitschaft. Mehr als 240.000 Menschen fanden sich im Oktober 2018 in Berlin zur Demonstration des Bündnisses Unteilbar zusammen. Dessen zentrale Botschaft „Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden“ leider der gegenwärtigen Regierungspolitik konträr entgegensteht.
Filiz Polat, MdB, ist migrationspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.