von Ursula Neumann
Deutschland hat seit dem vergangenen Jahr einen „Nationalen Integrationsplan“ (NIP). Das bedeutet, dass nunmehr explizit das Ziel verfolgt wird, die ungleichen Chancen von eingewanderten Menschen und ihren Kindern gegenüber den eingeborenen auszugleichen. Neben anderen politischen Begründungen kann das Zustandekommen einer ausformulierten Integrationspolitik damit erklärt werden, dass nicht nur der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland auf mehr als ein Viertel angestiegen ist, auch fehlt der Wirtschaft zunehmend der qualifizierte Nachwuchs und es tun sich soziale Disparitäten auf, die für den gesellschaftlichen Frieden bedrohlich sind. Bildung wird als „Schlüssel der Integration“ betrachtet; im NIP heißt es:
„Bildung ist der entscheidende Schlüssel zur sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Integration. Hier liegt eine Herausforderung, die die Zukunft unseres Landes bestimmt und die öffentlich an Ergebnissen statt an Zuständigkeitsdebatten gemessen wird. (…) Unser Land braucht das Potential der Kinder und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien. Ihr Bildungserfolg ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes, denn die Menschen, die in Deutschland leben, sind unsere wichtigste Ressource“.1
Es gibt jedoch kein Gesamtkonzept interkultureller Bildung für die Bundesrepublik Deutschland, nicht einmal ein Gesamtkonzept sprachlicher Bildung. Die Föderalismusreform trägt das ihrige dazu bei, dass die Verhältnisse in den Bundesländern weiter unterschiedlich bleiben. Vor allem, wenn es um die Schulstruktur geht. Obwohl viele „Bildung“ sagen, meinen sie meistens „sprachliche Bildung im Deutschen“. Wir haben mit der Gestaltung der Tagung versucht zu zeigen, dass viel mehr als Sprache eine Rolle spielt, will man die Potenziale der Heterogenität nutzen und die Gefahr der Diskriminierung und des Hasses bannen. So wichtig die sprachliche Bildung für die gesellschaftliche Kommunikation auch zweifellos ist.
Neben der integrationspolitischen Begründung für staatliche Förderprogramme stehen die bildungspolitischen Motive dafür. Wenn die Schule den Auftrag hat, allen Kindern und Jugendlichen gleich gute Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten, die Kinder aber sehr unterschiedliche Voraussetzungen und Entwicklungsbedingungen mitbringen, muss auf diese differenzierend und kompensatorisch eingegangen werden. Die internationalen Schulleistungsuntersuchungen der letzten Jahre haben jedoch nachgewiesen, dass im deutschen Bildungssystem diese schwierige Aufgabe des Ausgleichs nicht gelingt, im internationalen Vergleich sogar der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung besonders eng ist. Klaus Klemm spricht von einer „schicht- und migrationsspezifischen Zuteilung von Bildungs- und Lebenschancen“ in Deutschland.2 Jede Stufe im System verschärfe die Wirkung ethnischer und sozialer Faktoren, von Kindergarten und Vorschule, wo die Bildungsbeteiligung erst geringe Unterschiede zeigt, bis zu den Universitäten und der beruflichen Weiterbildung.
Die Frage ist also: Ist die Wirkung von Bildung und Bildungskonzepten zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht generell begrenzt, angesichts von politischen Rahmenbedingungen und bildungspolitischer Traditionen im Umgang mit Minderheiten in Deutschland? Auch wenn „Integration“ stets ausdrückliches Ziel der meisten Maßnahmen und Empfehlungen war - und wir hatten in der Vergangenheit viele davon -, hat sich die Lage nicht grundlegend verändert und sich kein Bildungserfolg der Migrantenkinder eingestellt. In einem politischen Klima, das von ordnungspolitischen Vorstellungen und gegen Zuwanderung und Einwanderer gerichteten Zielsetzung geprägt war, konnten die auf Integration gerichteten Bildungsmaßnahmen nicht dieselbe Wirkung entfalten, wie z.B. in Schweden, wo Einwanderer willkommen waren, ihre Einbürgerung gewünscht war, wo ihre Kulturen akzeptiert und ihre Sprachen in der Schule gelehrt wurden und die Schulstruktur geeigneter für den Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft war.
Und zum Zweiten: Kann eine soziale Stigmatisierung, wie sie für Migranten gilt, durch pädagogische Konzepte aufgehoben werden - meine Kollegin Krüger-Potratz hält dies nicht für möglich.3
Einen dritten Faktor, der eine erhebliche Wirkung entfaltet und durch alle Stipendienprogramm, Modellversuche und Förderkonzepte nicht beeinflussbar ist, stellt die Schulstruktur dar. Ich bin überzeugt, dass erst eine Abschaffung der Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und die Bildungsadministration dazu zwingt, statt auf Homogenisierung zu setzen, die sprachliche Vielfalt und die soziale und kulturelle Heterogenität der „Schule mit Migrationshintergrund“ zu akzeptieren und einen entsprechenden Unterricht zu gestalten. Die PISA-Ergebnisse geben im internationalen Vergleich deutliche Hinweise dafür, dass sowohl die frühe Auslese im Alter von 10 Jahren als auch die Konzentration von Kindern mit weniger Erfolg in Haupt- und Realschulen dazu führen, dass Kindern Bildungschancen vorenthalten und der Gesellschaft Potenzial entzogen wird.
Welches sind nun die Förderaktivitäten des Bundes und der Länder, auf die mit dem Nationalen Integrationsplan aufgebaut werden soll?
Die erstaunliche Wirkung der PISA-Ergebnisse war es, dass Förderaktivitäten im Vorschul- und Kita-Bereich ausgelöst wurden, obgleich die mangelnde Lesekompetenz von 15-Jährigen zu Tage gefördert worden war. Nach einer Untersuchung des BAMF richten sich ca. 70% der Bildungsangebote der deutschen Bundesländer auf Kinder im Vorschul- und Grundschulalter.4 In der Sekundarstufe sind Förderangebote seltener und richten sich meist an sog. „Seiteneinsteiger“, an Schülerinnen und Schüler also, die erst in diesem Alter aus dem Ausland zuwandern.
Inhaltlich ist das Förderangebot an der Schwelle des Übergangs vom Elementarbereich in die Schule auf den Erwerb der deutschen Sprache ausgerichtet. In der Regel haben die Bundesländer Sprachstandsfeststellungsverfahren unterschiedlichster Art etabliert und mit Vorbereitungsmaßnahmen für die Fünfjährigen - z.T. verpflichtend, z.T. als Angebot - verbunden. Im Elementarbereich sind die Ansätze in größere inhaltliche Zusammenhänge gestellt und es wird versucht, sprachliche Förderung in die übrigen Lernbereiche des Kindergartens zu integrieren. In den letzten Jahren wurden auch solche Projekte verstärkt, die mit einer systematischen Einbindung der Eltern arbeiten und dabei Erwachsenenbildung mit der Förderung der Kinder verbinden. Immer seltener werden dagegen Angebote in den Herkunftssprachen der Kinder, obwohl diese Tendenz durch die Einführung von bilingualen Grundschulen in einigen größeren Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt und Köln gebrochen wird. Interkulturelle Konzepte in der Schule, z.B. im Sinne einer vorurteilsbewussten Erziehung, sind im Primar- und Elementarbereich eher selten.5 In der Sekundarstufe hat der interreligiöse Dialog besonderes Gewicht und - meist in Form von Projekten - Demokratie fördernde und Antidiskriminierungserziehung. Hierfür haben wir in zwei Panels gute Beispiele gehört. Als selbstverständliche Inhalte von Erziehung und Bildung können sie jedoch nicht gelten.
Doch zurück zur sprachlichen Bildung, dem Schwerpunkt staatlicher Förderung in Deutschland. Eine Besonderheit stellen die Bundesländer Hamburg als Beispiel für ein westliches Land mit einem Anteil von 50% Migrantenkindern im Grundschulalter und Sachsen als einem östlichen Land mit einer geringen Migrantenkinderquote dar. In beiden Ländern wird ein Gesamtkonzept verfolgt, in dem sowohl additive als auch integrative Förderangebote flächendeckend vorgesehen sind und in die sprachliche Förderung auch die Herkunftssprachen der Kinder einbezogen sind. Wie Sie dem Vortrag von Peter May entnehmen konnten, sind die Effekte des Hamburger Ansatzes statistisch nachweisbar. Das ist nicht nur der Sache nach erfreulich, sondern der Nachweis selber eher ungewöhnlich, denn nur wenige Maßnahmen werden im Sinne einer wissenschaftlichen Begleitforschung evaluiert. Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der unterschiedlichen Förderansätze sind bisher kaum möglich. Und so ist die Beantwortung der Frage, welche schulische Förderung erfolgreich ist, schwierig.
Wir koordinieren hier in Hamburg das Modellprogramm FÖRMIG, an dem sich insgesamt zehn Bundesländer beteiligen.6 Es ist ein Verbundprojekt, in dem von den Einzelprojekten gemeinsame Zielsetzungen verfolgt werden, die inhaltliche und methodische Umsetzung aber differiert. Es sind mehr als 140 Projekte vom Kindergarten bis zur Berufsschule dabei. Das Programm ist auf sprachliche Förderung gerichtet; sein zentrales Anliegen ist der kumulative Aufbau von schul- und bildungssprachlichen Fähigkeiten. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass für den schulischen Erfolg nicht die allgemeine Kommunikationsfähigkeit ausschlaggebend ist, sondern das Verfügen über spezifische sprachliche Fähigkeiten, über die „Bildungssprache der Schule“. Dies gilt für einsprachige Kinder ebenso wie für zweisprachige, doch betrifft es „lebensweltlich zweisprachige“ Kinder häufiger. Die meisten Kinder mit Migrationshintergrund wachsen zweisprachig auf. In vielen Fällen sprechen sie bei ihrer Einschulung flüssiges Deutsch, das nicht von dem ihrer einsprachig deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler zu unterscheiden ist. Dennoch teilen viele von ihnen das Schicksal der Kinder, die mit geringen Deutschkenntnissen ins erste Schuljahr kommen: Sie haben schlechtere Bildungschancen.
Da die Bildungssprache ihre Bedeutung erst in Bildungsprozessen entfaltet, die an den Umgang mit Schriftlichkeit gebunden und für die Schule typisch sind, werden die entsprechenden Kompetenzen auch erst in der Schule gelernt - aufbauend auf Literalitätserfahrungen in der Familie, dem Kindergarten oder der Vorschule. Außerdem sind sie sprachspezifisch, müssen also von zweisprachigen Kindern in jeder ihrer Sprachen erworben werden. Diese Fähigkeiten sind aber Voraussetzung für einen kompetenten Umgang mit den Aufgaben des Verstehens, Verarbeitens, Denkens und Formulierens, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen in ihrem Bildungsprozess auseinandersetzen müssen. Die enge Verbindung zwischen den bei PISA gemessenen Kompetenzen im Lesen und den Naturwissenschaften belegen dies. Der Erwerb von Bildungssprache geschieht nicht „von selbst“, sondern es bedarf einer expliziten, systematischen und kontinuierlichen Sprachförderung. Ob Jugendliche auf dem Schulhof deutsch oder eine türkisch-arabisch-deutsche Jugendsprache sprechen, ist deshalb auch völlig unerheblich - jedenfalls für ihren Schulerfolg. Im Kontext des FÖRMIG-Programms haben wir für diesen Gedanken sprachlicher Bildung den Begriff der „durchgängigen Sprachbildung“ gefunden, durchgängig durch alle Fächer, durchgängig durch die Bildungsbiografie eines Kindes und auf seine Sprache als Ganzes gerichtet, die meist aus zwei, manchmal aus mehr Sprachvarietäten besteht.
Kennzeichnend für die FÖRMIG-Projekte sind weiterhin die systematische Zusammenarbeit von Schule, Elternhaus und außerschulischen Einrichtungen, insbesondere den Migrantenselbstorganisationen. Regionalspezifische Bedingungen und lokale Ressourcen werden gezielt genutzt. Im Idealfall nehmen die zu sogenannten „Basiseinheiten“ zusammengeschlossenen Bildungseinrichtungen eine Bestandsaufnahme der lokalen Gegebenheiten auf und versuchen ein Netz der Sprachförderung zu knüpfen. Sie formulieren gemeinsame Ziele, deren Erreichen intern und extern evaluiert wird. Es ist zu hoffen, dass wir - wenn im Sommer 2009 das fünfjährige Programm ausläuft - genauere Hinweise daraufhin gewonnen haben, wie ein Gesamtkonzept sprachlicher Bildung gestaltet werden kann, das die Bildungserfolge erhöht.
Dass es im Ausland viel zu lernen gibt, haben uns die Vorträge und Praxisbeispiele aus den USA, den Niederlanden, Spanien und der Schweiz gezeigt. Wir haben uns mit FÖRMIG vor allem an QUIMS orientiert, einem Förderprogramm, das auch auf dieser Tagung vorgestellt wurde. Es ist ein regionales Schulentwicklungsprojekt aus dem Kanton Zürich, das in Deutschland sicher bekannteste Projekt zur Entwicklung der Qualität in multikulturellen Schulen. Ziel ist es auch in diesem Programm, die Schulqualität so zu entwickeln, dass sie einer sozial, kulturell und sprachlich heterogenen Schülerschaft einen angemessenen Schulerfolg gewährleistet. QUIMS setzt wie FÖRMIG strategisch bei der Sprachförderung an, vor allem bei der Leseförderung, denn Lesen wird als Schlüsselkompetenz für das Lernen betrachtet.
Ergebnisse von Evaluationen und Transfer
Bei der Konzeption dieser Tagung war es unser Postulat, nicht den „Katastrophendiskurs“ fortzusetzen, sondern im Gegenteil, nach den Gelingensbedingungen zu schauen. Der internationale Vergleich von PISA und IGLU hat gezeigt, dass es möglich ist, den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu lockern, denn viele Länder sind wesentlich erfolgreicher in dieser Hinsicht: Kanada und Schweden zum Beispiel. Die Bedeutung der sozialen Herkunft und des Migrationshintergrunds zeigt sich auf allen Ebenen, die für die Analyse des Einflusses auf den Bildungserfolg von Kindern betrachtet werden können: Angefangen bei der gesellschaftlichen Situation von Migrantinnen und Migranten über die Ebenen des Schulsystems, der regionalen Bedingungen und des Schultyps bis hin zur Einzelschule und dem Unterricht mit gezielten Fördermaßnahmen. Keineswegs sind Einzelmerkmale allein für die Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund verantwortlich zu machen - etwa auf der individuellen Ebene die Nationalität oder die Herkunftssprache, oder auf der Ebene des Schulsystems die Dreigliedrigkeit. Vielmehr ist von einem Zusammenwirken der Faktoren auf den unterschiedlichen Systemebenen auszugehen.
Das wichtigste Ergebnis der englischen Forschung zur Frage, was erfolgreiche Schulen dort auszeichnet, ist daher, dass die Kontextbedingungen für die Beachtung von Diversität geeignet sein müssen. Des Weiteren wird in solchen Schulen die Veränderung der Schulstruktur nicht von der Umgestaltung der Lernprozesse getrennt. Wenn in England Schulen entgegen der statistischen Erwartung gute Ergebnisse erzielen, und auch bei den Minderheitenschülern das Potenzial besser ausgeschöpft wird, seien dafür folgende Bedingungen verantwortlich. 7
Zum Ersten: Eine Schulleitung mit klaren Zielen und guter Zusammenarbeit mit dem Kollegium, ein Schulethos, das von Respekt geprägt ist und gegen Rassismus und Einschüchterung von Minderheiten vorgeht, eine Haltung der Lehrkräfte gegenüber den Kindern, die von hohen Anforderungen an sich selbst und die Schülerinnen und Schüler geprägt ist, sowie von Zutrauen in die Leistungsfähigkeit der Kinder und einem raschen Eingreifen bei Versagen.
Zum Zweiten arbeiten gute Schulen, die auch für Minoritäten gut sind, mit lokalen Einrichtungen zusammen, z.B. mit Moscheen und anderen Religionsgemeinschaften und Organisationen der Communities. Sie schließen die kulturelle Vielfalt der Lebenssituation in das Curriculum ein.
Den dritten förderlichen Einfluss hat in den Primarschulen, wenn der Sprache im Lernprozess eine hohe Bedeutung zugemessen wird. Erfolg versprechend ist es, wenn jede Lehrerin und jeder Lehrer auch Sprachlehrer ist und über Strategien verfügt, mit denen die Bilingualität der Kinder unterstützt wird. Eine wichtige Voraussetzung hierfür bildet allerdings eine Lehrerausbildung, bei der solche Formen zweisprachiger Unterstützung gelernt werden können, eine Materialentwicklung, die diesen Gedanken aufnimmt und die Ausbildung und Beschäftigung von Lehrkräften, die selbst Angehörige der verschiedenen sprachlichen Minderheiten sind.
Schließlich müssen auch die Schulinspektoren so ausgebildet und eingesetzt werden, dass sie den angemessene Umgang mit Diversität in den Schulen kontrollieren und unterstützen können.
Aus meiner Sicht gehen die Ergebnisse dieser Tagung in dieselbe Richtung. Wir haben versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse mit Beispielen guter Praxis im In- und Ausland zusammen zu führen. Konnten wir dadurch zeigen, wie das Bildungssystem besser als bisher auf die Herausforderungen einer modernen Gesellschaft reagieren kann?
Im Zentrum der Vorträge und Diskussionen stand die Verantwortung der Institutionen für den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Bedeutung des Makrosystems mit dem Arbeitsmarkt, des sozialen Systems und vor allem des politischen Klimas in Deutschland, wie Friedrich Heckmann in seinem Beitrag betonte, und die Mikroebene mit den Fähigkeiten und Reaktionen der Individuen, wurden nicht übersehen, jedoch stand die Mesoebene mit den Leistungen des Schulsystems, der Einzelschulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie der Familie und ihrer Organisationen - erinnert sei an den Beitrag der spanischen Elternvereine - im Mittelpunkt unserer Diskussionen der „Schule mit Migrationshintergrund“. Es war sehr wohltuend, dass dabei keine Kulturalisierungen erfolgten, sondern in den Debatten ein sehr differenzierender Sprachgebrauch gepflegt und die Zusammenhänge aus sozialer und pädagogischer Perspektive betrachtet wurden.
Hierzu bekamen wir wertvolle Ratschläge von außen, von den USA, den Niederlanden, Spanien und Großbritannien auf die deutsche bzw. europäische Situation. Die wichtigsten Elemente darin waren aus meiner Sicht, dass es wichtig ist, den Jugendlichen eine Zukunft zu geben, denn Bildung ist per definitionem auf die Gestaltung einer Zukunft gerichtet. Dies muss sich in der Möglichkeit des Erwerbs der Staatsangehörigkeit des aufnehmenden Landes äußern, es muss sich auch darin zeigen, dass von den Kindern und Jugendlichen viel erwartet wird, denn, so zeige die Forschung, Kinder reagierten positiv auf hohe Erwartungen. Deshalb seien früh ausgliedernde Mechanismen im deutschen Schulsystem kontraproduktiv; vielmehr seien Strategien zu entwickeln, wie solche Bildungserfolge durchgesetzt werden könnten, und als Strategie des Staates sei es zu empfehlen, „Seitentüren“ und „Hintertüren“ zu eröffnen, wodurch der Unterschiedlichkeit der Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen Rechnung getragen werden könne, und ihnen eine zweite oder dritte Chance geboten werde.
Beispiele für solche Strategien sind die Mentoring-Projekte, von denen uns auf der Tagung mehrere vorgestellt worden sind. Beeindruckend war für mich die Kraft, die von Selbstorganisationen - den Studierenden in Amsterdam zum Beispiel - ausgeht und dem Opferdiskurs eine deutliche Absage erteilt. Die erfolgreichen Jugendlichen und Studierenden mit Migrationshintergrund verfolgen selbstbewusst die Strategie, sich vom Staat unabhängig zu machen und zu demonstrieren, wozu Migrantinnen und Migranten in der Lage sind. Diese Beispiele zeigen aber auch, dass mit Hilfe einer verlässlichen staatlichen Förderung ähnliche Erfolge möglich sind, wenn Organisationen wie Universitäten diese Aufgabe übernehmen und jugendliche Migranten und ihre Familien davon überzeugen, dass die Schwelle in die Universität überwindbar ist und ihnen das Ziel des Studiums praktisch vor Augen führen.
Die auf der Tagung vorgestellten Beispiele von interkultureller Praxis in Schulen waren sehr ermutigend. Sie beweisen, dass auch in sozial schwierigen Lagen und einer kulturell und sprachlich äußerst heterogenen Schülerschaft ein gutes Schulklima, hervorragende Leistungen und ein aktive Elternbeteiligung erreichbar sind. Sie zeigten insbesondere, dass eine gute Schule mit Blick auf die Diversität und mit anspruchsvollen Zielen auch für Migrantenkinder gut ist, oder - allgemeiner gefasst - dass die Grundschule tatsächlich der Motor der Schulreform und einer guten pädagogischen Praxis ist. Der Vortrag über QUIMS führte uns vor Augen, dass die allgemeinen Erkenntnisse der Schulentwicklungsforschung auch für die Gestaltung der „Schule mit Migrationshintergrund“ gelten. Dies sind z.B. die wichtige Rolle der Schulleitung und die Formulierung expliziter Entwicklungsziele mit eine entsprechenden Schulprogramm. Als besonders wichtig hat sich dort erwiesen, dass Aktionen und Maßnahmen so ausgewählt werden, dass sie für die ganze Schülerschaft nützlich sind, für deutsch- und für zweisprachige, für leistungsfähigere und -schwächere Schulkinder gleichermaßen. Die Referentin machte aber auch deutlich, dass neben entsprechenden Anregungen durch die Schulverwaltung strukturelle sowie inhaltliche Unterstützung nötig sei, aber dass manche Schulen auch gezwungen werden müssten, bestimmte Regeln einzuführen. Diese müssen verhindern, dass nicht geschieht, was Sanem Kleff in der Diskussion anmahnte, nämlich dass die bereit gestellten Ressourcen für die Kompensation von Mängeln in einem unterausgestatteten Systems verwendet würden.
Im Panel über die Möglichkeiten der Elternbeteiligung war es erschreckend, als von den Vertretern der Migrantenorganisationen über Eltern berichtet wurde, die Schule als eine beängstigende Institution wahrnähmen. Betont wurde deshalb, dass die grundsätzliche Haltung der Schulen gegenüber den Eltern problematisch sei, solange sie an den institutionalisierten Formen der Elternarbeit allein festhielten. Eine besondere Bedeutung komme den informellen Kontakten zwischen Lehrkräften und Eltern zu. Dafür müssten Gelegenheiten geschaffen oder genutzt werden. In diese Richtung wirkende, „flankierende“ Angebote wurden in großer Fülle dargestellt: die Beteiligung von Elternvereinen, die Schulbriefe, Referatsangebote und die Datenbank des „Arbeitskreis Neue Erziehung“ in Berlin, das Empowerment von Elternvertreter durch Grundlagenseminare und vieles mehr.
Anmerkungen
1 Die Bundesregierung (2007): Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege - neue Chancen. (NIP), Berlin, S. 15
2 Klemm, Klaus (2007): Ethnische und soziale Herkunft: entscheidend für den Schulerfolg? Reformbedarf des Bildungssystems. In: Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, S. 9-11
3. Krüger-Potratz, Marianne (2007): Ethnische und soziale Vielfalt gestalten: Interkulturelle Konzepte in der Schule. In: Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Friedrich Ebert-Stiftung, Bonn, S.25-32
4. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF (2007): Bundesweites Integrationsprogramm (§45 Aufenthaltsgesetz). Nürnberg. S. 45
5. Vgl. den Überblick mit einer pädagogischen Einordnung der Konzepte in Krüger-Potratz 2007.
6. Programmträger ist das Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Als Wissenschaftler sind beteiligt Inci Dirim, Ingrid Gogolin, Ursula Neumann, Knut Schwippert, sowie Hans H. Reich (Landau) und Hans-Joachim Roth (Köln). Vgl. im Internet hier
7. Vgl. Bourne, Jill (2008, im Druck): ‘I know he can do better than that’: Strategies for teaching and learning in successful multi-ethnic schools. In: In: Gogolin, Ingrid/ Lange, Imke (Hrsg.): Durchgängige Sprachförderung. FörMig Edition 4. Münster: Waxmann.
Februar 2008
Ursula Neumann ist Professorin am Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg und Mitorganisatorin der Tagung "Schule mit Migrationshintergrund".