Schule mit Migrationshintergrund: Bildungspolitische Herausforderungen

 

von Andreas Poltermann

Stiftungen haben die Hamburger Konferenz „Schule mit Migrationshintergrund“ unterstützt und mit vorbereitet. Die Konferenz selbst hat sich auf zahlreiche Initiativen von Stiftungen zur Förderung von Mentoring-Programmen bezogen. Mit dem Impetus der zivilgesellschaftlichen Einmischung bringen sie Ideen, Konzepte, Netzwerke und Geld ein für die bessere und glückende Bildungsintegration der hier lebenden Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.

Bildung stiften

Im Zusammenwirken mit anderen Stiftungen und Gruppen und Organisationen eine Tagung wie den Hamburger Kongress „Schule mit Migrationshintergrund“ zu fördern, den Dialog zwischen Theorie und Praxis und den Austausch internationaler Erfahrungen im Hinblick auf Handlungsempfehlungen fördern – so ließe sich die Aufgabe einer politischen Stiftung wie der grünen Heinrich-Böll-Stiftung beschreiben. Worin besteht unser besonderer Beitrag? Da politische Stiftungen in der Regel keine Stiftungen im Rechtssinn sind und über kein Stiftungskapital verfügen, sind sie in nur bescheidenem Umfang Förderstiftungen. Mit ihren begrenzten Mitteln finanzieren sie überwiegend Eigenprojekte.

Die gezielte Förderung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund ist in der Regel allein Sache ihrer Studienwerke. So bietet das Studienwerk der Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammenarbeit mit TAZ, Radiomultikulti, Deutscher Welle und der PR-Agentur „Zum goldenen Hirschen“ ein Programm zur gemeinsamen journalistischen Nachwuchsförderung für junge Migrantinnen und Migranten an. Der strategische Wert dieses Projekts liegt auf der Hand. Schließlich kann sich eine multikulturelle Demokratie nur so gut im Medium der Öffentlichkeit über die Grundsätze des Zusammenlebens verständigen, wie dabei auch eine Vielfalt von Blickwinkeln und Erfahrungshintergründen zu Worte kommt.

Bildungspolitisch spezifischer ist die öffentlichkeitswirksame Verleihung von Preisen für interkultulturelle Bildungsarbeit.  Die Landesstiftung der Heinrich-Böll-Stiftung Nordrhein-Westfalen hat zum Beispiel an den „Interkulturellen Bildungs- und Förderverein für Schüler und Studenten“ den Preis „Der Heinrich“ für die Organisation ehrenamtlicher Mentorenarbeit verliehen. Mehr als 100 Akademiker, Studenten und Schüler übernehmen Hausaufgabenbetreuung bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund nach dem Motto: „Wer selbst Sprachprobleme überwunden hat, kann besonders einfühlsam helfen“ fördern sie als Vorbilder. Der Preis umfasst keinen Geldbetrag, er ist rein symbolischer Natur: Überreicht wird das vom bekannten Beuys-Schüler Felix Döse geschaffene Objekt „Der Heinrich - Gießkanne in Vitrine“ – die Gießkanne als Symbol für Lebenskraft, die weitergegeben werden soll.

Die Präsentation und Prämierung von Vorbildern, „best practice“, von Beispielen ansteckender Gesundheit steht für die grüne Heinrich-Böll-Stiftung im Zusammenhang mit ihrer öffentlichen Aufgabe: mit der Förderung der Demokratie und des demokratischen Diskurses. Unter Beteiligung der grünen zivilgesellschaftlichen Grundströmung, für die auch die Grünen als uns nahestehende Partei im Deutschen Bundestag stehen, soll sie Engagement und Wissenschaft zusammen bringen, Erfahrungen und Erkenntnisse zu Empfehlungen bündeln und an die Politik adressieren sowie in der Öffentlichkeit zur Diskussion stellen. Die Heinrich-Böll-Stiftung sieht ihre besondere Aufgabe in der Förderung der multikulturellen Demokratie. Dazu setzt sie in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik auch für ihre bildungspolitische Arbeit ein Programm „Demokratische Schule – Schule in der Demokratie“, das sowohl auf die Verbesserung der Lernfortschritte durch eine demokratische Schulkultur und eine partizipative Unterrichtsgestaltung zielt wie auf eine Verankerung der Schule in Stadtteil und kommunaler Verantwortung. Auf die besonderen Bedürfnisse junger Migrantinnen und Migranten im deutschen Bildungssystem gemünzt, bedeutet das: Entwicklung von Konzepten zur Verbesserung von Bildungsintegration und gesellschaftlicher und beruflicher Integration.

Wie sieht die Bildungssituation in Deutschland nach 40 Jahren Einwanderung aus? Was muss verbessert werden? Welche strategischen Schlussfolgerungen können aus der Analyse gezogen werden?

Schwierige Ausgangslage

Die Situation der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erinnert an einen schlechten Traum: man rennt und läuft und kommt doch nicht von der Stelle. Man fällt sogar zurück. Dabei erreicht der Anteil dieser Kinder und Jugendlichen in manchen Städten bereits 50 Prozent. Vor allem Jugendliche der zweiten Generation haben schlechte Karten. Sie schneiden noch schlechter ab als die Jugendlichen der ersten Generation.

Sie scheitern in der Schule oder konzentrieren sich in den Hauptschulen. Etwa 40 Prozent von ihnen erreichen während ihrer Schulzeit in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften nicht einmal ein minimales Kompetenzniveau, das sie befähigt, die Kenntnisse in Mathematik und Lesen auf einfache praktische Probleme anzuwenden. Entsprechend gering sind die Aussichten, gleich im Anschluss in eine berufliche Ausbildung zu kommen. Viele, vor allem männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund, landen in einem Übergangssystem, das mehr Parkplatz ist als Vorbereitung auf eine berufliche Bildung. Fast keines der hier angebotenen schulischen Angebote kann auf eine spätere Berufsausbildung angerechnet werden. Solche Aussichten schwächen die schulische Motivation. Warum anstrengen, wenn Leistung sich doch nicht lohnt!

Ein Viertel der ersten Generation schneidet ähnlich schlecht ab. Diese Jugendlichen sind besser motiviert und aufstiegsorientiert. Der ursprüngliche Impuls zur Einwanderung, dass es nämlich der Familie besser als im Heimatland gehen soll, macht sich hier noch bemerkbar. Doch sehr viel erfolgreicher sind auch sie nicht.

Den deutschen Bildungseinrichtungen gelingt es nicht, diese Kinder und Jugendlichen an den Durchschnitt heranzuführen. Am Ende der Schulpflicht sind es bis zu drei Jahre Rückstand. Damit liegt Deutschland, so hat eine Sonderauswertung der PISA Studie zum Abschneiden von Schülern aus Einwanderungsfamilien ergeben, ganz am Schluss unter 17 OECD-Staaten. Jedes Jahr geht so ein riesiges Potenzial an Aufstiegshoffnungen, Motivation, Lernfähigkeit, Kooperations- und Integrationsbereitschaft verloren. Das ist unter Gesichtspunkten der Bildungsgerechtigkeit, aber auch aus Gründen sozialer und wirtschaftlicher Vorsorge nicht hinnehmbar.

Aber liegt dies auch an unseren Schulen und den schulischen Angeboten im Übergangssystem? Ja und nein. Hinderlich, ja verheerend sind offene oder sublime Diskriminierung durch Ignoranz gegenüber dem besonderen Förderbedarf vieler Kinder, verstörend ist der Rassismus in der Schule. Starken Einfluss haben aber auch außerschulische Faktoren wie der sozioökonomische Status der Eltern, die Verfügbarkeit von Kulturgütern (Bücher etc.) im Elternhaus und der Gebrauch einer anderen als der deutschen Sprache innerhalb der Familie. Trotz teilweise hoher Bildungsaspirationen können diese Familien ihre Kinder nicht so unterstützen, wie dies den Mittelschichtfamilien gelingt. Manchmal behindern sie sogar aufgrund ihrer kulturellen Orientierung den Bildungsweg ihrer Kinder – durch autoritäre Einstellungen, Gewalt oder Behinderung der Teilnahme an Biologie- und Sportunterricht, Klassenfahrten etc.

Weltbürgerlicher Individualismus als Leitkultur

Hier kommt die deutsche Schule wieder ins Spiel. Denn sie setzt in hohem Maße auf die Unterstützung durch die Eltern. Die sollen als Ko-Lehrer Aufgaben übernehmen, deren Bewältigung von der Schule, vor allem von Realschule und Gymnasium im Halbtagsbetrieb, systematisch erwartet wird.

Zudem bevorzugt die deutsche Schule homogene Lerngruppen mit annährend gleichen kognitiven, kulturellen und sprachlichen Voraussetzungen. An den verschiedenen Übergangs- und Entscheidungssituationen versucht sie, den verschiedenen Schulformen entsprechende Gruppen zu formieren. Hier wirken eine dominante kulturelle Orientierung, die in der Perspektive republikanisch genannt werden kann, und ein lernpsychologisches Argument zusammen.

Das deutsche Bildungssystem ist an der Kultur der leistungsorientierten bürgerlichen Mittelschicht orientiert, es verfolgt keine „emanzipatorischen“ Ziele im Sinne der Würdigung und Stärkung der Kulturen diverser Milieus, es verfolgt „kompensatorische“ Ziele: Interkulturelle Arbeit zum Beispiel, die Würdigung anderer Kulturen oder die Förderung der Muttersprache sollen beim Erwerb der Bildungssprache, bei der Aneignung von Wissen und der Einübung in eine wissenschaftliche Kultur helfen, sie sind nützlich, leistungsförderlich und der reflektierte Schulbetrieb wird nicht auf sie verzichten – aber sie sind kein Selbstzweck. Das zeigt auch die Hierarchie unseres Bildungssystems: Den wertvollsten und damit auch orientierenden Bildungsgang bietet die Universität und entsprechend innerhalb des deutschen Schulsystems das polyvalente Abitur der gymnasialen Oberstufe. Die ist wiederum auf eine hoch individualisierte bürgerliche Mittelschichtkultur zugeschnitten. Sie bildet eine Art Leitkultur, an die Kinder und Jugendliche mit anderem kulturellen Hintergrund herangeführt werden sollen. Aufstiegsorientierung und erfolgreiche Bildungsintegration bedeuten Individualisierung und Weltoffenheit, Ablösung von der Familie und der ethnischen Community, Verwandlung von (familiärem) Zufall und (ethnischem) Schicksal in die freie Wahl einer Beziehung zu den „Peers“, anderen Bezugsgruppen und Kulturen nach demokratischen Regeln.

In der Perspektive ist dieser Individualismus „republikanisch“: Er beruft sich nicht auf Verbindlichkeit von Geschichte (Nation), sondern setzt auf die Freiheit der kulturellen Wahlen und Selbstzuschreibungen, auf die gesellschaftliche Bereitschaft, die bewegliche Grenzlinie zwischen akzeptablen Unterschieden, verwerfbaren Abweichungen bis hin zu strafbaren Verbrechen ständig neu auszuhandeln. Zu diesem republikanischen Individualismus gehört der Neuanfang im Unterschied zur wirkmächtigen geschichtlichen Tradition, in die wir nur je neu einrücken können.2  Dieser Republikanismus ist weltbürgerlich polykulturell, er trennt die Staatsbürgerschaft von der kulturellen Selbstzuschreibung der BürgerInnen und steht in scharfem Gegensatz zum Kommunitarismus und „Multikommunitarismus“, der kulturelle „Identitäten“ gegeneinander in Stellung bringt.

„Selbstständig Lernen“  ist die Übersetzung dieses kulturellen Leitbilds in schulische Praxis, die mit ihren offenen Unterrichtskonzepten den Lernausgangsbedingungen von Kindern und Jugendlichen bildungsnaher Familien entgegenkommt und sie zum allgemeinen Leitbild generalisiert.3

Lernpsychologisch gibt es gute Argumente für die Bildung homogener Gruppen. Denn der tägliche Vergleich mit leistungsstarken Mitschülerinnen und Mitschülern kann die Leistungsschwachen leicht demotivieren und den Grad ihrer Selbstwirksamkeitsüberzeugung mindern. Deshalb brauchen gerade auch Gesamtschulen mit großer Heterogenität und einer großen Leistungsbreite interne Differenzierungen, um insbesondere leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern selbstwertschützende Nischen anzubieten. Heterogenität ist also nicht das Ziel – sondern eine große pädagogische Herausforderung!

Doch die Schule ist nicht allein eine Institution der Organisation möglichst wirksamer Lernprozesse. Sie hat, unterschieden nach den Schulformen, unterschiedliche institutionelle Effekte. Gymnasien fördern aufgrund besserer Ausstattung, anders ausgebildeter Lehrer und anderer Lehrpläne besser als Hauptschulen. Und sie hat Kompositionseffekte, die auf die leistungsmäßige, lernbiographische und kulturelle Zusammensetzung der Schülerschaft zurückzuführen sind. In (groß)städtischen Hauptschulen ist zum Beispiel zu beobachten, dass die Konzentration von leistungsschwachen Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Verbindung mit anderen Komponenten wie einem hohen Anteil an Wiederholern, arbeitslosen Eltern, Eltern ohne Berufsausbildung etc. negative Effekte hat auf die Lernumgebung und die Leistung. Durch solche Kompositionseffekte kommt es zu einer Art negativer Homogenisierung, wird Homogenität zur Sammlung belastender Merkmale und damit zum Problem.

Schließlich ist die Schule ebenso sehr Sozialisations- wie Allokations- und Selektionsinstanz: sie differenziert nach Leistungen, verleiht Zertifikate und Berechtigungen, verteilt soziale Chancen. Diese gesellschaftlichen Funktionen überformen Unterrichts- und Lernprozesse. Die Aussicht auf das Abitur motiviert in der Sekundarstufe I des Gymnasiums besser zu eigenen Anstrengungen als die Aussichten, die die Hauptschule bietet. Lange Warteschleifen im Übergangssystem oder eine wenig attraktive berufliche Ausbildung sind Aussichten, die sich eher demotivierend auswirken.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass in Deutschland Schulform- und Schullaufbahnentscheidungen hochgradig sozial bestimmt sind: Eltern intervenieren so gut sie können, wenn es um die Schullaufbahn ihrer Kinder geht. Da ihre Ressourcen teilweise sehr verschieden sind, tun sie es mit unterschiedlichem Erfolg. Der primäre Effekt dieser sozial differenzierten familiären Ressourcen besteht darin, dass sich die soziale Schichtung in allen Schulformen und Schullaufbahnen durchsetzt, im dreigliedrigen Schulsystemen ebenso wie in Systemen mit einer Förderstufe (also 6 Jahren Grundschule oder 4 Jahre Grundschule plus 2 Jahre Orientierungsstufe) und in Gesamtschulen durchsetzt. Die sozio-ökonomisch und kulturell obere Schicht bringt ihre Kinder in welchem institutionellen Kontext auch immer weit erfolgreicher als die anderen bis zum Abitur. Dazu kommt als sekundärer Effekt der ausgeprägte Widerstand der oberen und mittleren Schichten gegen sozialen Abstieg. Sie entscheiden sich – auch unabhängig von der Leistung ihrer Kinder - für höhere Schulformen. Und sie glauben sich dazu berechtigt, weil ihre gute oder bessere Ausstattung mit ökonomischen und kulturellen Ressourcen sie zu riskanteren Bildungsentscheidungen befähigt. Demgegenüber ist der Aufstiegswille von Migrantenfamilien und deutschen Unterschichtfamilien weniger ausgeprägt. Sie fühlen sich in ihrer Rolle als Ko-Lehrer unsicherer und neigen deshalb zu weniger riskanten Bildungsentscheidungen. Bestätigt wird dies durch die Lehrpersonen, die Kindern der Unterschicht deutscher und ausländischer Herkunft weniger riskante Bildungslaufbahnen empfehlen, weil sie bei Misserfolgen geringere familiäre Ressourcen antizipieren.

Good Governance

Nach Veröffentlichung der ernüchternden PISA-Ergebnisse haben die Kultusminister mehrere Handlungsfelder festgelegt, die in besonderem Maße Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zugute kommen sollen: Frühförderung und Elternarbeit. Für diese Bereiche werden heute ca. 70 Prozent der Fördermittel eingesetzt, während 30 Prozent für die Förderung von „Seiteneinsteigern“ im Sekundarbereich verwendet werden. Zu Frühförderung und Elternarbeit kommt noch die Initiierung und wissenschaftliche Evaluierung von Mentoringprogrammen, bei denen die ethnische Community Ressourcen beisteuert, die der einzelnen Migrantenfamilie fehlen. Diese Maßnahmen sind unstrittig wichtig, besonders im Hinblick auf die Sprachförderung und die Unterstützung der Eltern in ihrer Rolle als Ko-Lehrer. Zugleich wird damit politisch signalisiert, dass die Ursachen ungenügender Bildungsintegration im Vorfeld der Schule und in der Grundschule gesehen werden. Doch diese Blickrichtung verdeckt, dass wir auch Probleme mit dem Übergang zur Sekundarstufe und der gegliederten Sekundarstufe mit ihren Problemen der negativen Homogenisierung haben. Der Vergleich der Lesekompetenzen in der Grundschule (erhoben in der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung  - IGLU 2006) mit den Lesekompetenzen in der 9. Jahrgangsstufe (Programme for International Student Assessment - PISA 2006) zeigt deutlich: die Situation der Kinder mit Migrationshintergrund ist in der Grundschule besorgniserregend im Vergleich zu einem recht guten Niveau der deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler. Die Sekundarschule kann dieses vergleichsweise gute Niveau insgesamt nicht halten und die Schere öffnet sich sogar noch weiter.

Rücken wir die Rolle des Elternengagements, die Effekte der Schulform und die Effekte negativer Homogenisierung in den Zusammenhang, so zeigt sich, dass insbesondere die vielen vom deutschen Schulsystem vorgesehenen Übergangsentscheidungen zu Problemen der Fehlallokation und der Verletzung von Leistungsgerechtigkeit führen: Weil hier Entscheidungen über künftige soziale Chancen getroffen werden, schlagen die sozialen Interessen und ungleichen sozio-kulturellen Ressourcen in besonderem Maße durch und behindern die pädagogisch angemessene und gerechte Förderung mittels der Differenzierung nach Können und Leistung und der Bildung lernförderlicher homogener Gruppen. Wo es jedoch zu einer negativen Homogenisierung kommt, wie in den meisten Hauptschulen der Städte und Großstädte, wird der pädagogische Prozess weitgehend der sozialen Funktion der Entlastung der anderen Schulformen untergeordnet. Das ist pädagogisch und bildungspolitisch nicht zu rechtfertigen. Auf diese Probleme könnte eine über das 4. oder 6. Schuljahr bis zur 9. oder 10. Klasse weiterführende Gemeinschaftsschule eine angemessene Antwort bieten, weil sie die Anzahl der Übergangsentscheidungen verringert und der Schule mehr Zeit  für den Bildungsprozess gibt und Fehlanreizen wie der Abschulung als Mittel der Entlastung von förderbedürftigen Schülerinnen und Schülern entgegenwirkt. Die Erfahrungen mit der Einführung der Gesamtschule in Deutschland zeigen jedoch, dass Strukturänderungen unvorhergesehene Nebenwirkungen und Folgen haben. So könnte man erwarten, dass die flächendeckende Einführung eines Gesamtschulsystems zur Drift in ein paralleles Privatschulsystem führt.  Die angemessenere Antwort als ein solcher Strukturvorschlag ist deshalb Good Governance: Good Governance unter Berücksichtigung von Akteuren, Wissen, Ressourcen und Institutionen/Strukturen. Strategisch folgt daraus: Das Vertrauen und Engagement der deutschen Eltern und der Migrantenfamilien gewinnen und sie im Rahmen einer regionalen Bildungslandschaft am lokalen Bildungsmanagement beteiligen.

Leistungsorientierung schafft Vertrauen der Eltern

Die Indikatoren, an denen wir seit einigen Jahren unsere Schulen international vergleichen und von denen Reformimpulse ausgehen, sind Leistungsindikatoren. Getestet werden die Kompetenzen im Lesen, in Mathematik, Deutsch und Naturwissenschaften, die von Kindern und Jugendlichen mittels eines mehr oder weniger anregungsreichen Unterrichts zu verschiedenen Messzeitpunkten erworben wurden. Die differenzierte Verteilung sozialer Chancen durch die Schule nach Leistung ist und bleibt gerecht. Der schulformübergreifende Vergleich des Leistungsstands offenbart darüber hinaus, dass es bedeutende Überschneidungen gibt, die aber Dank der Schulform ganz unterschiedliche soziale Effekte haben. Wenn die besten 25 Prozent der Hauptschülerinnen und Hauptschüler dieselben Leistungen aufweisen wie 25 Prozent der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, so ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass es in unserem gegliederten Schulsystem zu erheblichen Fehlplatzierungen kommt. Das ist ungerecht, weil die völlig unterschiedlichen sozialen Chancen des Hauptschul- und des Gymnasialbesuchs nicht leistungsgerecht sind. Dennoch ist Leistungsgerechtigkeit nicht eine bloße Ideologie, die durch Chancengleichheit ersetzt werden könnte. Wonach sonst sollte sonst differenziert werden? Die Orientierung der Schulen an Leistung und Leistungsgerechtigkeit ist das Versprechen auf soziale und ökonomische Anschlussfähigkeit. Wird es eingelöst, schafft und stabilisiert es das Vertrauen der Eltern. Jedes Schulkonzept, das dieses Vertrauen im Namen von Chancengleichheit gefährdet, wird Abwanderungs-, Differenzierungs- und Abschottungsbewegungen auslösen, wie wir sie international, aber auch in Deutschland bei der Abwanderung in die Privatschulen beobachten können. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit muss daher in Konzepte verbesserter Chancengleichheit integriert werden, um es nicht denen zu überlassen, die sich ohnehin nur absetzen wollen.

Chancengleich wird befördert durch die Angleichung der Ungleichen, und dies kann durch die Ausrichtung der Schulen an verbindlichen Mindeststandards geschehen. Das staatliche Schulsystem hat eine Bringschuld, die gegenüber keiner Gruppe von Kindern und Jugendlichen verfehlt werden darf: es sollen ihnen unter allen Umständen zu einem „Bildungsminimum“ verhelfen. Darüber hinaus soll es durchlässiger werden, so dass die Aussicht auf Zugang zu höherwertiger Bildung – auch über den Weg einer Berufsausbildung - motiviert und leistungssteigernd wirkt. Hohe konsistente Leistungsanforderungen sind in Verbindung mit einem förderlichen Lernklima die besten Voraussetzungen für hohe Leistungen und Erfolg in der Schule – gerade auch für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Denn die wollen und sollen nicht als „Opfer“ einer Leistungsideologie und eines Systems behandelt werden, sondern sich zu leistungsfähigen Individuen bilden, die ihr Leben, ihre gesellschaftliche Umwelt und auch ihren schulischen Bildungsgang selber gestalten können.

Im Rahmen von Good Governance dürfen Leistungsmessungen, die überprüfen, ob einzelne Schulen ihrem gesellschaftlichen Auftrag durch die Garantie eines Bildungsminimums entsprechen, keine Anreize bieten, dass Schulen sich ihrer Aufgaben durch das „Abschieben“ und „Aussieben“ schlechter Schüler und Schülerinnen entledigen. Good Governance antizipiert solche unbeabsichtigten Nebeneffekte und setzt Anreize für die Förderung gerade der Schwächeren: Gemessen werden sollten also relative Fortschritte nach dem relativen Maßstab realistisch erwartbarer Leistungen. Um Anreize für die Schaffung eines solchen „Mehrwerts“ zu setzen, lassen sich Leistungsmessungen mit neuen Formen der Schulfinanzierung (aufgabenspezifische Personalwirtschaft, pädagogische Förderkonzepte, besondere Organisationsformen) verknüpfen.

Lokales Bildungs- und Integrationsmanagement

Seit Jahren haben die Kommunen die traditionelle Arbeits- und Finanzierungsteilung zwischen Land und Kommunen mit der Zuständigkeit des Landes für die inneren und der Kommunen für die äußeren Schulangelegenheiten in Frage gestellt. Die Kommunen richten ihr Interesse und Engagement schon lange auf die lokale und regionale Bildungslandschaft. Während die Länder untätig blieben oder in bildungspolitischen Grabenkriegen (pro oder contra Gesamtschule, Ganztagsschule etc.) verharrten, haben sie sich der Probleme und des sozialen Drucks vor Ort annehmen müssen und damit neue Aufgaben übernommen: Ob die Finanzierung der Schulsozialarbeit und der Betreuungsangebote, die Einrichtung von Eltern- oder Schülercafés und Kantinen, die Ausgestaltung der Ganztagsangebote, die Koordination der Kooperation mit Vereinen und anderen außerschulischen Initiativen, die Hausaufgabenbetreuung und besondere Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund oder die psychologische Beratung – die Gemeinden und Kreise sind heute aktiv an der „inneren“ Gestaltung der Schulen, an der Entwicklung ihres Profils und ihrer Qualität beteiligt. Gleichzeitig öffnen sich Schulen immer mehr gegenüber ihrem Umfeld und ihrer Kommune und erkennen, wie notwendig es ist, sich in den Sozialraum des Quartiers, Stadtteils oder Ortes zu integrieren. Die moderne Schule ist die demokratische Schule in der Demokratie.

Die demographische Entwicklung wird den Handlungsdruck auf die Kommunen noch verstärken. Der schon heute spürbare, bald jedoch dramatische Rückgang der Zahl der Schülerinnen und Schüler, das Schulwahlverhalten der Eltern stellen viele Schulstandorte – insbesondere Hauptschulen, aber mittelfristig auch manche Realschulen und Gymnasien – in Frage. Mit sinkendem Besuch können sie nicht mehr in sinnvollen Betriebsgrößen aufrecht erhalten werden. Der Erhalt von Schulen oder ihre Umgestaltung wird zum dringlichen Thema.

Gerade weil die Kommunen unmittelbarer als die Landesregierungen mit den Problemlagen vor Ort konfrontiert sind, erkennen sie, dass eine lokale und regionale Schulentwicklungsplanung unerlässlich ist, um ein von den Eltern akzeptiertes, attraktives und wohnortnahes Schulangebot erhalten zu können. Sie lernen zum Beispiel, dass ein flexibles Neudenken erforderlich ist, wenn immer mehr Kinder nach der Grundschule den Ort verlassen und mit den von der Kommune finanzierten Schulbussen auf weiterführende Schulen in die Nachbarorte fahren, während die Hauptschule trotz Wohnortnähe immer weniger Akzeptanz bei den Eltern findet.4  Deshalb wird die Zusammenlegung verschiedener Schularten wie die Entwicklung neuer integrativer Schulmodelle gerade auf kommunaler Ebene diskutiert und auch schon mit eigenen Modellvorschlägen vorangetrieben.

Good Governance wird diese Entwicklungen aufgreifen und mit der Leistungsorientierung und Leistungsmessung verknüpfen. Sie wird dabei berücksichtigen, dass die Veröffentlichung von leistungsbezogenen, einzelschulischen Daten Abwanderungsbewegungen auslösen oder verstärken kann. Werden auch die Grundschuleinzugsbezirke freigegeben, kann dies verstärkt zur Entwicklung von Brennpunktschulen mit negativer Homogenisierung führen. Aber gibt es eine Alternative zu Transparenz, Wahlfreiheit und Elternengagement und damit zur Aktivierung der Ressourcen aller Beteiligten? Gibt es eine Alternative zur kommunalen Demokratie, in der gerade auch Migrantenfamilien viel bessere Mitspracherechte und Gestaltungsmöglichkeiten haben?

Schulleistungen müssen nicht nur getestet und in die Schulen kommuniziert werden, die Testergebnisse sollen auch, und zwar unter Angabe der Ausgangsbedingungen der einzelnen Schule und in Verbindung mit Unterstützungsangeboten, publiziert werden und gegebenenfalls mit Abwahl einer Schule quittiert werden können. Da sie gleichzeitig auch kooperieren und Erfahrungen austauschen können sollen, darf die durch Transparenz entfachte Konkurrenz wieder nicht zu weit getrieben werden. Deshalb gehört neben der Veröffentlichung von Leistungsergebnissen auch die Erhebung stadtteil- und schulbezogener Daten über die Bildungsbeteiligung verschiedener Bevölkerungsgruppen zu einem regionalen Bildungsmonitoring.5 

Good Governance benötigt die politische Kompetenz der Kommunen und Kreise für die Schule und sie braucht die direkte Beteilung aller Familien, also auch der Migrantenfamilien. Zur ihr gehört die Steuerung über Wissen, das vom Monitoringsystem zur Verfügung gestellt wird, und die Steuerung über finanzielle Ressourcen, die auch zum Ausbau von kompensatorischen Magnetschulen führen kann, deren unbeabsichtigte Nebeneffekte, etwa die Stigmatisierung dieser Schulen und die Abwanderung der Mittelschichten,  wiederum zeitnah beobachtet und im Rahmen der kommunalen Demokratie beurteilt werden können. In diesem Rahmen können auch multikulturelle Gemeinschaftsschulen als alleinige Schulform oder als Schulform neben anderen vereinbart werden. Als Schulen der Bildungsintegration können sie mit Hilfe interner Differenzierungen lernförderliche Umgebungen schaffen, die auch den individuellen Bedürfnissen der Migrantenkinder und –jugendlichen gerecht werden, sie zur Anstrengung motivieren und ihre Leistungen belohnen.

Anmerkungen

Siehe die Website Migration – Integration – Diversity der Heinrich-Böll-Stiftung: http://www.migration-boell.de/web/diversity/48_1240.asp
2. Im Gegensatz zur Aufwertung der europäischen Erzählung von der Europäischen Einigung zum wirkungsgeschichtlichen Rahmen für schulische Lernprogramme bei Wilfried Meier, „Können Individuen nur individuell lernen? Schule, Common Sense und Kulturelles Gedächtnis“. Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Die Verfasstheit der Wissensgesellschaft, Münster 2006, 250-265.
 3. „Die bereits zitierte Vermutung, dass offene Unterrichtskonzepte vor allem Kindern aus bildungsnahen Milieus entgegenkommen, stammt aus der Leseforschung der Achtzigerjahre und kann als gut belegt gelten.“ Jürgen Oelkers, Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA, Weinheim 2003, 138.
 4. Ernst Rösner, Hauptschule am Ende. Ein Nachruf, Münster 2007.
 5. Vgl. dazu den Beitrag von Frank-Olaf Radtke, „Lokales Bildungs- und Integrationsmanagement - Plädoyer für eine zielorientierte Schulentwicklungsplanung“, in: http://www.migration-boell.de/web/integration/47_1484.asp

Februar 2008

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Dr. Andreas Poltermann ist Referent für Bildung und Wissenschaft in der Heinrich-Böll-Stiftung.