Auswege aus dem Gewaltdilemma - Was die Schule in benachteiligten Stadtteilen gegen Gewalt leisten kann

von Helmut Hochschild

Eine Dramatisierung des „Gewaltdilemmas“ verstellt den Blick für sachbezogene Lösungsansätze
Verfolgt man die aktuellen Printmedien, Rundfunk und Fernsehen, so gewinnt man den Eindruck, dass die Gewalt in nie dagewesener Form eskaliert. Dementsprechend sind die Reaktionen der handelnden Institutionen und vor allem die Forderungen der Politik. So werden schärfere Gesetze als Allheilmittel in populistischer Art gefordert, während Personal und Finanzen für die bestehenden Unterstützungssysteme wie Schule und Jugendamt gekürzt werden. Bei genauem Hinsehen werden die zur Verfügung stehen-den rechtlichen Mittel zur Prävention und Eindämmung von Gewalt in vielen Fällen nicht oder nicht effektiv genug genutzt. Bei der Analyse der Lebensläufe von zwölf- bis 16-jährigen Intensivtätern in Berlin-Neukölln im Jahr 2007 konnten viele Versäumnisse im Erziehungsprozess ausgemacht werden, bei deren Vermeidung die Jugendlichen recht-zeitig vom problematischen Weg hätten abgebracht werden können.

Die Tatsache, dass es immer Gewalttendenzen Jugendlicher und Interesse an Gewalt-darstellungen gegeben hat, entbindet uns nicht von der Verantwortung, den aktuellen Entwicklungen keinen freien Lauf zu lassen, sondern so müssen gerade Pädagogen solchen Tendenzen etwas entgegen setzen. Medienpädagogische Projekte sind nur ein Beispiel.

Wie Schule ein aggressionsarmes Lernklima schafft
Schaut man sich das Umfeld Jugendlicher genauer an, so wird man Aspekte erkennen, die Aggressionen und Gewalt nicht eindämmen, sondern im Gegenteil herausfordern. Einige davon sind kurzfristig kaum zu beheben, müssen aber Beachtung finden: Es sind dies das selektive Schulsystem, in dem die Schülerschaft mit größeren Lernproblemen – darunter überproportional viele Migrantenkinder – in Hauptschulen oder Förderzent-ren zusammengefasst werden und ihnen damit die positiven Vorbilder für ihre Peargroups vorenthalten bleiben, die fehlende berufliche Perspektive, bei einer von ho-her Jugendarbeitslosigkeit geprägten Arbeitsmarktsituation und einer daraus resultie-renden geringen Lernmotivation, die mangelhafte, auf Fachausbildung ausgerichtete Lehrerausbildung, die auf viele gesellschaftliche Probleme, die sich in Schulen wider-spiegeln, nur selten eine Antwort gibt, die Abschlussorientierung der schulischen Aus-bildung und dem damit verstellten Blick auf die Bedürfnisse der Gesellschaft bzw. der Bedürfnisse für die Ausbildung in den Betrieben, die mangelnde Zusammenarbeit zwi-schen Schule und Elternhäusern sowie der weit verbreitete Blick auf die Defizite der Schülerschaft, der das Erkennen der Stärken oft verhindert.

Trotzdem können Bedingungen geschaffen werden, durch deren Erfüllung Kinder und Jugendliche zu besseren Erfolgen geführt und damit das vorhandene, zur Gewalt füh-rende Aggressionspotenzial gemindert wird.

Eine Bedingung für bessere Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit Lernprob-lemen, die innerhalb der Schule nur schwer zu beeinflussen ist, ist die Schaffung der Möglichkeit, sich an Besseren – an positiven Vorbildern - zu orientieren und sich von diesen unterstützen und motivieren zu lassen. Das heißt, dass das selektive Schulsys-tem durch ein integrierendes abgelöst werden muss.

Drei Möglichkeiten, wie innerhalb der Schule durch Veränderungen günstigere Voraus-setzungen für ein leistungsorientiertes Lernen und ein besseres, aggressionsärmeres Lernklima geschaffen werden können:

Eltern und Schule müssen eng zusammenarbeiten. Die gegenteilige Realität wird gera-de in sozial problematisch strukturierten Gebieten beschrieben. Tatsächlich kommen wir oft auf dem traditionellen Weg nicht weiter. Frontal und mit Vorträgen organisierte El-ternversammlungen werden vor allem von jenen, die die deutsche Sprache nur schlecht oder gar nicht verstehen, weiterhin kaum besucht werden. Also gehen wir neue oder vernachlässigte Wege der Kommunikation mit den Eltern, reden sehr intensiv mit ihnen in deren Haushalten. Bei Hausbesuchen wird Verständnis für die Lebenssituation er-zeugt, werden Vorbehalte und Kommunikationsbarrieren in für die Eltern vertrauter Um-gebung abgebaut. Diese fühlen sich respektiert, ernst genommen und werden nach solch einem Besuch schneller zum Telefonhörer greifen oder in die Schule kommen. Dadurch wird eine Willkommens- und Kommunikationskultur erzeugt, die die erzieheri-schen Möglichkeiten von Elternhaus und Schule wieder zielgerichtet zum Guten des Jugendlichen miteinander verknüpft. Eine Schulsozialarbeiterin formulierte kürzlich auf einer Tagung, dass ein Hausbesuch vier Elternabende ersetzen würde; damit wäre auch eine Antwort auf die Frage nach dem Zeitmanagement gegeben.

So müssen die verbleibenden Elternabende völlig anders organisiert werden: Fremd-sprachige oder vielleicht sogar analphabetische Eltern können nicht mit schriftlichen Einladungen erreicht werden. Der persönliche, mindestens telefonische Kontakt ist hier unabdingbar. Wechselnde Gesprächssituationen in kleinen Gruppen oder im Dialog sind Kommunikationssituationen, die bei Eltern-Lehrer-Treffen möglich sein müssen. Jeder bringt einen kleinen Imbiss mit und dann werden alle Beteiligten mehr übereinan-der erfahren, als dies bei jeder Klassenelternversammlung in frontaler Tischkonstellati-on jemals möglich ist. Brechen wir in der Elternarbeit Traditionen und gehen Wege der modernen Kommunikation, dann werden wir auch sozial benachteiligte Eltern erreichen. Auf diese Weise erfahren Kinder und Jugendliche ein gemeinschaftliches, von Respekt geprägtes erzieherisches Handeln von Schule und Elternhaus als Vorbild für aggressi-onsfreie Kommunikation und problematische Entwicklungstendenzen der Heranwach-senden können schneller korrigiert werden.

Wenn die Arbeit in der Schule auch von den Lehrkräften nicht nur im Sinne der Wis-sensvermittlung, sondern auch im Sinne von Erziehung und als Schulsozialarbeit ver-standen wird und dabei die Profession von Sozialpädagogen genutzt werden kann, wird Erziehung im Sinne der gesellschaftlichen Eingliederung und eines aggressionsfreien Umganges miteinander erfolgreicher sein.

Dabei bedarf es aber auch eines anderen Verständnisses von Unterricht. Wenn im Un-terricht nicht nur das Erreichen punktueller Lernziele, sondern das Ausbilden umfas-sender gesellschaftsrelevanter und sozialer Kompetenzen im Mittelpunkt steht, werden sich Lernmotivation und damit auch die Leistungen verbessern. Am Beispiel von Schü-lerfirmen lässt sich die Ausrichtung auf einen ganzheitlichen Bildungsbegriff aufzeigen.

Selbst habe ich während der Leitung der Paul-Löbe-Hauptschule den Aufbau von acht Schülerfirmen begleitet sowie in der Rütli-Schule den Einstieg mit initiiert.

„Fürs Leben lernen“ neu gedacht
Mit dieser Art der Unterrichtsorganisation werden viele Ziele gleichzeitig erreicht: Die meisten Kompetenzziele  zum Thema Schülerfirmen findet man in den Rahmenplan-richtlinien Berlins für das Fach Arbeitslehre. In dieser Art der Firmen übergeben die Lehrkräfte einen großen Teil der Verantwortung für die Planung und Durchführung des Unterrichtes an die Schülerschaft. Es werden gesellschaftsrelevante Schulstrukturen aufgebaut, Kompetenzen aus verschiedenen Fachbereichen gefordert, entwickelt und gefördert. Schüler arbeiten nicht für den Inhalt eines später nicht mehr benötigten Hef-ters, sondern für ein Unternehmensziel. Waren und Dienstleistungen werden angebo-ten, Preise dafür kalkuliert, die Herstellung von Produkten geplant und durchgeführt, an den Kunden innerhalb und außerhalb der Schule gebracht und die Einnahmen und Ausgaben dokumentiert. Es werden Werbung für das Angebotene konzipiert und reali-siert, dabei werden Texte erstellt, kreativ Plakate gestaltet und teilweise potenzielle Kunden direkt angesprochen. Aus welchen verschiedenen Fächern hier Anforderungen einfließen, kann schnell erkannt werden. So wird vernetztes Denken und fächerüber-greifendes Lernen praktiziert. Die Schülerschaft lernt realitätsnah und wird dadurch bei Einstellungsgesprächen Vorteile haben. Damit werden Erfolge erzielt und Motivation erzeugt.

Wenn Schulleitungen und Lehrerkollegien gemeinsam mit den Eltern in der Lage sind, solche Erfolge in die Öffentlichkeit zu bringen und Unternehmen auf die entwickelten Kompetenzen aufmerksam zu machen, haben Schülerinnen und Schüler wieder eine größere Chance, Ausbildungsplätze zu finden. Nicht zuletzt werden die Forderungen von Lernpsychologen nach vernetztem Lernen auf diese Weise erfüllt.

Davon profitieren alle Schülerinnen und Schüler. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen nur den Mut aufbringen, Kompetenzen abseits ihrer ursprünglichen Lehrerausbildung für den Schulalltag zur Verfügung zu stellen. Parallel dazu muss sich die Schule öffnen und unterstützende Kompetenzen von Wirtschaftsunternehmen, freien Trägern der Ju-gendhilfe und anderen Institutionen für die Schülerschaft nutzbar machen. Die Schullei-tung, die dies zulässt, wird sich wundern, welche Angebote im Schulumfeld auf die Nut-zung warten. Diese Angebote müssen in den Schulalltag integriert werden. Wenn dies gelingt, sind sie langfristig für die Lernprozesse nutzbar und werden sich im gewaltfrei-en Alltag etablieren. Bald wird dann festgestellt, dass die Frage „wann machen wir denn aber wieder richtigen Unterricht“, damit beantwortet wird, dass projektorientierter, fä-cherübergreifender, zusammen mit anderer gesellschaftlichen Gruppen organisierter Unterricht der bessere Unterricht ist, der positive Perspektiven bietet und Aggressionen und daraus folgende Gewalt zurückdrängt.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version eines Vortrags, den der Autor anlässlich der Tagung „Schlagkräftige Bilder – Jugendgewalt und Medien“ am 18. Dezember 2007 an der Evang. Akademie Tutzing gehalten hat.

 

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Helmut Hochschild ist Kommissarischer Schulrat in der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Berlin. Davor leitete er von März bis November 2006 die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln.