von Thomas Quehl und Paul Mecheril
Sprechen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft-Sprechen über das „Wir“
Seit etwa acht Jahren steht der Begriff ‚Einwanderungsland‘ dem offiziellen Sprachgebrauch in Deutschland zur Verfügung. Anders als zuvor ist es nunmehr legitim, gesellschaftliche Wirklichkeit mit Hilfe dieser Vokabel zu beschreiben1. In diesem Zusammenhang wird verstärkt auch die - in der erziehungswissenschaftlichen Fachöffentlichkeit im Übrigen seit mehr als drei Jahrzehnten festgestellte und von hier aus aber ohne große bildungspolitische und öffentliche Resonanz kommunizierte - Benachteiligung von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund in und durch das System formaler Bildung thematisiert. Nach Jahrzehnten weitest gehender Ignoranz hat die mediale Inszenierung der Ergebnisse internationaler Bildungsvergleichsstudien die Öffentlichkeit für die in Deutschland besonders enge Koppelung von sozialer sowie ethnischer Herkunft und dem Abschneiden in formalen Bildungsabläufen nicht nur sensibilisiert, sondern geradezu beunruhigt.
Im Zuge dieser Beunruhigung kommt dem Thema „Sprache“ eine außerordentlich große diskursive Bedeutung zu. Man spricht über Sprache und Sprachen. Man spricht über die deutsche Sprache, die Sprachen der als Andere Geltenden, über die anderen Sprachen, über die Frage, wie mit diesen anderen Sprachen umzugehen sei, ob sie in Räumen in Deutschland, die dadurch zu deutschen Räumen werden (sollen), zu verbieten sind oder ob es keine Gefahr, keinen unangemessenen Aufwand (an Personal und Sachmitteln) oder gar ob es ein erstrebenswertes Gut darstelle und pädagogisch sinnvoll sei, die anderen Sprachen anzuerkennen.
Es wird also über die Sprachen der ‚Migrantinnen‘, der „Menschen mit Migrationshintergrund“, über die Sprachen natio-ethno-lingual Anderer in Relation zum Kriterium Deutsch-Sprechen-Können und damit sehr schnell über Mängel und - mit einem defizitären Ausdruck - über sogenannte Sprachdefizite gesprochen. Spiegelbildlich wird zunehmend, zumindest in der pädagogischen Fachdiskussion, über Mehrsprachigkeit und die Erfordernis mehr- und zweisprachiger Ansätze in den Schulen und in der Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen, nicht zuletzt Primarschullehrern, gesprochen sowie über die sogenannte ‚Sprache der Schule‘, die Bildungssprache. Dabei werden die Mängel nicht der natio-ethno-lingual Anderen, sondern jene der deutschen Schule thematisiert, die erst allmählich beginnt, didaktische Konzepte zur Vermittlung der für den Schulerfolg erforderlichen Bildungssprache unter faktischen Bedingungen einer Migrationsgesellschaft, also unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit, zu entwickeln und dadurch zu einer Schule in Deutschland wird.
Das seit dem medialen PISA-Hype unablässige Sprechen über die Sprache der Anderen, über das Erfordernis, dass sie die deutsche Sprache erlernen sollen und müssen und über die Frage auf der anderen Seite, ob es nicht die Schule in Deutschland ist, die neue Sprachen zu erlernen habe, hat einen diskursiven Kern: In der Auseinandersetzung um andere Sprachen geht es um die Frage, wer „wir“ sind, um die Frage, nicht nur welche Sprache(n) wir sprechen, sondern auch, aufgrund welcher Sprache(n) wir uns konstituieren, welche Sprache also gewissermaßen uns spricht, welche Sprache uns gewissermaßen besprechen darf.
In der politischen und alltagsweltlichen Diskussion um das Thema Migration, etwa um die „Sprachdefizite“ der Anderen, geht es immer auch darum, wie eine nationalstaatliche Gesellschaft ihre unter anderem über Sprache(n) definierte und imaginierte, symbolische Grenze festlegt und wie sie innerhalb dieser Grenze mit Differenz, Heterogenität und Ungleichheit umgeht. Durch Migration werden Zugehörigkeitsverhältnisse befragt; sie werden brüchig und schwach, zugleich gestärkt und gesichert. Diese Problematisierung bezieht sich auf die Frage, wie „wir“ leben und sprechen möchten, eine Frage, in deren Antwort das (immer imaginäre) „Wir“ sich vollzieht und konstituiert.
Schule produziert (il)legitime Sprachen und Zugehörigkeiten
In der Auseinandersetzung um Sprache geht es also immer um mehr als bloß „technische“ Fragen. Es geht in einem sehr grundsätzlichen Sinne um Zugehörigkeiten und Identitäten. Im Disput über die Sprache(n), die als legitime Sprache(n) der Migrationsgesellschaft gilt (gelten), artikuliert sich ein Kampf um Zugehörigkeiten: Wer gehört zu uns? Aber noch viel mehr: Wer sind wir? Sind wir auch die, die in erster Linie Russisch sprechen? Sind wir auch die, die eine Art Deutsch-Türkisch sprechen? Sich mit dieser Eingebundenheit in die Machtbeziehungen auseinanderzusetzen, ist für den Umgang mit Sprachen in Bildungsinstitutionen bedeutsam. Denn die Schule ist die Institution, die die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen auf differenzielle Weise anspricht, aufnimmt oder auch ignoriert. Schließlich überführt sie die Sprachpraxen ihrer Schüler in unterschiedliche gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Positionen. Die Schule kann dabei gesellschaftliche Ungleichheiten re-produzieren oder - so der Anspruch jedes pluralistisch-demokratischen Bildungswesens - bestrebt sein, sie zu überwinden.
Historisch war ein monolinguales Schulwesen, das in das offizielle Deutsch einführt, sowohl Ausdruck als auch Akteur deutscher Nationenbildung. Daher mag es nicht überraschen, dass zu einem Zeitpunkt, zu dem Fragen nach der gesellschaftlichen Partizipation natio-ethno-kulturell-lingualer Anderer die Negierung der Migrationstatsache abzulösen beginnen, die öffentliche Auseinandersetzung um Sprache zunimmt. Die Schule als Ort und Gegenstand dieser Auseinandersetzungen ist hierbei nicht allein mit einer außerhalb der Schule produzierten, sozusagen importierten Ungleichheit konfrontiert; eher ist es so, dass die Schule auf der Ebene der Schulorganisation, der curricularen und didaktischen Aspekte und schließlich auch auf der Ebene des Handelns der einzelnen Lehrer und Lehrerinnen als Teil des Gesamtzusammenhangs verstanden werden muss, der die (Wert-)Differenzen zwischen den sprachlichen Praxen der Migrationsgesellschaft produziert.
Dies zeigt sich etwa darin, dass die Schule im Wesentlichen auf die Ausbildung des als legitim geltenden Sprachvermögens Wert legt. Schüler und Schülerinnen werden in der offiziellen Sprache, dem als Hochdeutsch geltenden Deutsch unterrichtet und gebildet. Die Selbstverständlichkeit der Bevorzugung der einen Sprache hängt historisch eng mit dem Prozess der Erfindung der Nation zusammen. In den "Reden an die deutsche Nation" behauptet Johann Gottlieb Fichte noch beschwörend, was später durch Erziehungs- und Bildungsanstalten zu einer allgemein gewissen Fiktion werden sollte: die Reinheit und Ursprünglichkeit der deutschen Sprache als jenem Grundzug gemeinsamer Kultur, der die Einheit der Deutschen als „Volk“ anzeige.
Die wechselseitig konstitutiven Prozesse der Vereinheitlichung von „Sprache“, „Kultur“ und „Volk“, in deren institutionellem Zentrum die nationale Schule steht, arbeiten mit imaginativen, auf Vorstellungen und Mythen gegründeten Verfahren und produzieren einen wirkungsreichen Glauben an das „Wir“. Ab dem 18.Jahrhundert setzt in den Schulen der Prozess ein, der darauf gerichtet ist, die sprachlichen Unterschiede der bis dahin polyethnischen Bevölkerung zu überwinden. Der allgemeine Schulbesuch wird zu einem der wichtigsten Instrumente, mit denen Ethnizität als Sprachgemeinschaft konstituiert wird. Wie sehr die Vorstellung des - seine Kontingenz verhüllenden - Zusammenhangs von Sprache, Nation und Kultur als wechselseitig sich hervorbringende Einheiten auch heute Grundlage vieler Affekte und Argumentationen bezeichnet, können wir an den Ängsten ablesen, die bei der Vorstellung kommuniziert werden, die deutsche Sprache könne in Deutschland ihre Vorrangstellung verlieren. Man muss sich hierbei aber vergegenwärtigen, dass diese Ängste historisch letztlich ein relativ junges Phänomen, nämlich die Korrespondenz von sprachlicher, nationaler und staatlicher Einheit, in der sich Sprache, Nation und Staat erst konstituieren, anzeigen, ein Phänomen, das alles andere als „natürlich“ ist.
Mit im 18. Jahrhundert einsetzenden Verhältnissen der Entsprechung zwischen der nationalen Einheit des Arbeitsmarktes und der Einheit des Bildungs- und Sprachmarktes (die die Einheit der Bildungstitel produziert) wird es zu einer „Selbstverständlichkeit“, die als legitim geltende, offizielle Sprache sprechen zu müssen. „Selbstverständlich“ heißt hier: Der durch Entsprechungsverhältnisse bewirkte Zwang zu der einen Sprache wird auch von jenen, die an diesem Zwang scheitern, mit Sinn versehen und als unzweifelhafter, zuweilen „natürlicher“ Zusammenhang betrachtet. Wichtig ist hierbei, dass es sich bei der im offiziellen Kontext der Schule gesprochenen und in ihr gelehrten Sprache um eine handelt, die von der alltagsweltlichen Sprachwirklichkeit der Schüler relativ weit entfernt ist. Sie wird als „Bildungssprache der Schule“ bezeichnet. Diese hat mit den Regeln schriftsprachlicher Kommunikation mehr gemeinsam als mit der alltagssprachlichen mündlichen Verständigung.
Die nationale Schule begründet und befördert die Vorrangstellung der offiziellen Sprache. Mit dieser Praxis der Unterweisung im Offiziellen - dem, was Pierre Bourdieu die legitime Sprache nennt, das legitime Sprechen, dem legitime Identitäten zugeordnet sind - werden von Beginn an Ansprachen der Schüler und Schülerinnen verknüpft, die bestehende Unterschiede zwischen den Sprechweisen bestätigen, bekräftigen und in soziale Ungleichheiten verwandeln bzw. bestehende soziale Ungleichheiten ratifizieren. Dass die deutsche Schule Schülerinnen erwartet, die Deutsch in einer bereits differenzierten Weise sprechen können, und dass sie die offizielle schulische Kommunikation in einer Weise strukturiert, die oftmals nicht an alltagsweltliche Sprachwirklichkeiten der Schülerinnen anschließt, sondern an eigenen Gesetzmäßigkeiten einer an Schriftsprachlichkeit orientierten Fachsprache, betrifft alle Kinder.
Für bestimmte Schülerinnen aber, die nicht über die von der Schule erwarteten lingualen, materialen und sozialen Ressourcen verfügen, haben diese Verhältnisse der „Nicht-Passung“ gravierende Konsequenzen, da aus ihnen Benachteiligungen in schulischen und außerschulischen Sphären resultieren - für Kinder aus Migrantenfamilien beispielsweise. Das System der Schule trägt auch durch seine sprachlichen Erwartungen und Anforderungen zu einer systematischen Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit bei. Dies gilt in einem besonderen Sinn für das hochselektive und segregierende deutsche Bildungssystem: Auch mit verbundenen Augen, würde man hören, ob es sich um eine Hauptschule oder ein Gymnasium handelt. Vermutlich wäre es sogar möglich, dass durch die sogenannte freie elterliche Wahl noch klarer verteilte Prestige unterschiedlicher Grundschulen in dieser auf die akustische Wahrnehmung lingualen Kapitals fokussierten, methodisch blinden Weise anzugeben: Tonfall, Modulation, die Worte, der Code ... Schulische Segregation ist auch eine Segregation sprachlicher Praxen.
Ziel: Handlungsfähigkeit - politische Referenz: maximal unabgeschlossenes Wir.
Die sprachenbewusste und diskriminierungskritische Schule
Durch ihren Auftrag steht die Instituti on Schule immer schon in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch gesellschaftlicher Reproduktion und dem Anspruch der individuellen Handlungsbefähigung ihrer Schülerinnen. Eine Schule, die ihr Ziel, individuelle Handlungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen zu sichern und zu erweitern, ernst nimmt, muss erkennen, dass die von ihr zu reproduzierende Gesellschaft nicht einsprachig ist. Auch die Schülerinnen und Schüler tragen immer schon ihre eigenen Sprechweisen und ihre unterschiedlichen Sprachen mit in die Schule hinein. Das Problem, so könnte man es ironisch formulieren, dem sich die Schule mit ihren Konzepten und Kompetenzen gegenübersieht, besteht darin, dass die Schüler „Gesellschaft“ in die Schule einbringen. Es ist daher eine ideologische Vereinfachung, wenn gesellschaftliche Reproduktion und individuelle Handlungsbefähigung als Gegensätze gesehen werden.
Die Institution Schule ist gefordert, konzeptionell zu klären, wie sie Sprache versteht und wie ihr Unterricht Sprachvermittlung pädagogisch und didaktisch umsetzt. Für eine solchermaßen sprachenbewusste Schule kann es sinnvoll sein, sich damit auseinanderzusetzen, wie im Aspekt der Handlungsfähigkeit Sprache und Macht in grundlegender Weise miteinander verschränkt sind: Sprache ist dem Einzelnen und seiner Sprachpraxis stets vorgängig. Im Prozess der Sprachaneignung erweitert die Einzelne fortlaufend ihre individuelle, soziale und schließlich politische Handlungsfähigkeit. Parallel bietet die Sprache der einzelnen Person eine Orientierung, die sie in den sozialen Kontext, dem jene Sprache zugeordnet ist, einbindet. Im sprachlich-kommunikativen Austausch wird dabei dieser soziale Rahmen beständig reproduziert und modifiziert. Als Individuum muss der Einzelne zugleich „seine Stimme“ finden, die ihn für sich selbst und für andere unterscheidbar macht.
Ohne Sprache und das Vermögen, sich mitzuteilen wie dabei die Erfahrung zu machen, erkannt und anerkannt zu werden, ist die individuelle Handlungsfähigkeit zumindest bedroht und infrage gestellt. Für die pädagogische Beziehung, die zwischen den Lehrkräften und den Schülern und Schülerinnen aufzubauen ist, bedeutet dies, Sprache nicht ausschließlich und verkürzt in ihrer instrumentellen Eigenschaft zu verstehen. Pädagoginnen einer sich sprachenbewusst verstehenden Schule in der multilingualen Migrationsgesellschaft müssen berücksichtigen, welche Bedeutung die Sprache für den Subjektstatus derer hat, die dieser Sprache mächtig sind und über das Sprachvermögen sowohl soziale Anerkennung finden als auch zu sozialem Handeln befähigt werden.
In den Sprachverhältnissen der Schule wirken gesellschaftliche Dominanzverhältnisse. Dies geschieht nicht im Sinne einer einfachen Reproduktion, sondern durch Aushandlungsprozesse, welche - durch den institutionellen Rahmen geformt und beispielsweise durch die Bedingungen des hoch selektiven deutschen Schulsystems häufig genug überformt - in den Interaktionen zwischen Pädagogen und Schülerinnen oder auch deren Eltern stattfinden. Den grundsätzlichen Zusammenhang von Sprache und Macht im Hinblick auf die Handlungsbefähigung des einzelnen Kindes oder Jugendlichen bei der Gestaltung der schulischen Sprachverhältnisse mitzubedenken, bietet die Chance, sich die Grundlagen der pädagogischen Beziehung in der Schule zu vergegenwärtigen und zugleich die Faktizität zwei- und mehrsprachiger Lebenswelten der Schüler/innen und ihrer Eltern zu respektieren. Sogenannte Sprachstandserhebungen, die bei Kindern, deren erste Sprache nicht Deutsch ist, allein den Sprachstand im Deutschen erheben, sind diagnostisch nicht nur fragwürdig, sondern Instrument und Ausdruck eines hegemonialen Wir und konkrete Praxis der Respektlosigkeit und Missachtung.
Nach dem Grundgesetz ist die deutsche Sprache nicht konstitutiv für die Bundesrepublik Deutschland, doch kennt das Grundgesetz in Artikel 3 ein Verbot der Bevorzugung oder Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer Sprache. Es ergibt sich die Notwendigkeit, eine sprachenbewusste und diskriminierungskritische Perspektive in der Schule der multilingualen Migrationsgesellschaft miteinander zu verbinden: Schulen müssen Bedingungen bereitstellen, die ihren Schülern und Schülerinnen Gelegenheit geben, ihre Erstsprache und ihre Zweitsprache für ihr Lernen und eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildungsprozessen zu nutzen. Das Gebot umfassender gesellschaftlicher Partizipation verlangt, dass Schulen curriculare und didaktische Anstrengungen unternehmen, Deutsch als Bildungssprache fortlaufend als Bestandteil des Fachunterrichts zu vermitteln. Unter diskriminierungskritischer Perspektive ist es aber auch erforderlich, dass Schulen trotz der Vermittlung der Bildungssprache und ihrer normativen Schriftlichkeit als Voraussetzung für Bildungserfolg die potenziell diskriminierbare Unterscheidung unterschiedlicher Sprachpraxen, verschiedener Sprachen und mehrerer Varianten von Schriftsprachgebrauch, die Bestandteil der Lebenswelten ihrer Schülerinnen und Schüler sind, immer wieder kritisch hinterfragen und dadurch einen Beitrag zu gerechteren Verhältnissen leisten.
Die Verschränkung der sprachenbewussten und diskriminierungskritischen Perspektiven ist darüber hinaus unter einem anderen Gesichtspunkt relevant: Schule ist nicht nur der Ort, an dem für den Einzelnen die Voraussetzungen zukünftiger gesellschaftlich-ökonomischer Teilhabe geschaffen werden. Sie ist zudem der Ort, an dem für alle sichtbar gemacht wird, was eine Gesellschaft als ihr ‚offizielles‘ Wissen betrachtet und reproduzieren möchte. In der mehrsprachigen Schule der Migrationsgesellschaft existieren somit nicht nur Sprachverhältnisse, über die Sprachverhältnisse und die (unterschiedlich) Sprechenden wird vielmehr auch Wissen hergestellt. Dieses Wissen unterliegt wiederum Aushandlungsprozessen. So können beispielsweise Grenzziehungen zwischen einsprachig und zweisprachig aufwachsenden Kindern und Jugendlichen gezogen oder aber überwunden werden und Zweisprachigkeit kann in der Schule als ‚Normalität‘ gestaltet oder aber ausgeblendet werden. Unter einer sprachenbewussten und diskriminierungskritischen Perspektive und unter Einbezug der Überlegungen zu dem übergeordneten Ziel einer umfassenden Handlungsbefähigung steht die Schule vor der Herausforderung, den pädagogischen Raum aktiv so zu gestalten, dass ihre zweisprachig aufwachsenden Schülerinnen ihre Lebenswirklichkeit auch in der Schule als ‚Normalität‘ wahrgenommen und respektiert sehen.
Systematische Kenntnisse und didaktische Kompetenzen bezogen auf individuelle Sprachlagen, in denen Deutsch nicht die Erstsprache ist und als Zweitsprache erworben wird, sowie die Vermittlung von Sprachkenntnissen nicht nur in Deutsch und Englisch, sondern auch in einer der weiteren größeren oder kleineren Sprachen, die in Deutschland gesprochen werden und eine soziale Spur hinterlassen haben, wären Aspekte einer Lehrerinnenausbildung, der eine andere als eine nationale Sprach- und Zugehörigkeitspolitik zugrunde liegt. Diese alternative Politik zielt nicht darauf, ein ethnisches oder eng kulturalistisch gefasstes und imaginiertes Wir durch Bildung zu reproduzieren und natio-ethno-kulturell-lingual(-....) Andere unangemessen zu disziplinieren und an die Ränder (der Schulen, der Städte, der Statistiken ...) zu schieben, sondern spricht sich für ein maximal unabgeschlossenes und gesellschaftlichen, migrationsgesellschaftlichen und insofern mehrsprachigen Verhältnissen ent-sprechendes Wir aus, für ein Wir, das - verhindert durch Politiken der Einschwörung auf Homogenität - die Einheit in der Differenz, seine Einheit in seiner Differenz womöglich erst noch finden muss, in diesem Suchprozess aber gerechten Verhältnissen näher kommt.
Verwandte Überlegungen haben wir an anderem Ort ausführlicher dargestellt: Mecheril, P. & Quehl, Th. (2006). Sprache und Macht. Theoretische Facetten eines (migrations-)pädagogischen Zusammenhangs. In dies. (Hrsg.). Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule (S. 355-381). Münster: Waxmann [dort auch Literatur].
Anmerkungen
1 Der Rede von Einwanderungsgesellschaft ist unseres Erachtens der Ausdruck „Migrationsgesellschaft“ vorzuziehen, weil der Begriff Migration weiter als der der Einwanderung ist und dadurch einem breiteren Spektrum an Wanderungsphänomenen gerecht wird (Übersetzung oder Vermischung als Folge von Wanderungen, Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten, Phänomene der Zurechnung auf Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus, Konstruktionen des und der Fremden oder auch die Erschaffung neuer Formen von Ethnizität etc.); diese Präferenz wird durch die weitere Verengung der offiziellen Redeweise von Einwanderungs- hin zu Zuwanderungsgesellschaft noch bekräftigt.
Thomas Quehl ist Grundschullehrer in Duisburg. Seine Arbeitsschwerpunkte: Zweitsprachendidaktik und rassismuskritische Schulpädagogik. Paul Mecheril ist Professor an der Uni Innsbruck. Gemeinsam herausgegeben haben sie das Buch „Die Macht der Sprachen".