Politik der Vielfalt in Toronto

Junge mit Plakat und der Aufschrift "My Toronto inculdes everyone"

 

von Ahmed Allahwala

In diesem Beitrag möchte ich anhand der Erfahrung der Stadt Toronto den qualitativen Wandel kanadischer Integrationspolitik nachzeichnen, der sich mit dem Aufkommen des Diversity-Begriffs in migrationspolitischen Debatten der letzten zwei Jahrzehnte vollzogen hat. Ein Verständnis des historischen Kontexts, in dem Diversity in den politischen Diskursen auftauchte, ist gerade auch für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff äusserst notwendig.

Kanadische Einwanderungspolitik

Im Kontext von Einwanderung und Multikulturalismus nimmt Kanada im internationalen Vergleich eine herausragende Sonderstellung ein. Die offizielle jährliche Einwanderungsquote liegt bei einem Prozent der Gesamtbevölkerung, was bei 33 Millionen KanadierInnen über 300.000 neue EinwanderInnen pro Jahr bedeutet. Prognosen zeigen, dass sich bereits ab dem Jahr 2011 der gesamte Nettozuwachs an Arbeitskräften aus Einwanderung speisen wird.

In der Politik wird Immigration parteiübergreifend begrüßt, denn schon allein schon aus wahlstrategischen Gründen kann es sich keine der etablierten Parteien mehr leisten, Einwanderung in Frage zu stellen. Wie in kaum einem anderen Land wird in Kanada die nationale Wettbewerbsfähigkeit in offiziellen Diskursen derart explizit an Einwanderung geknüpft. Dieser sowohl quantitative als auch qualitative Unterschied hat Auswirkungen auf die Ausgestaltung städtischer Integrationspolitiken.

Die kanadische Diskussion beschäftigt sich weniger mit der für Deutschland noch recht typischen Frage „Einwanderung, ja oder nein?“ sondern vielmehr mit der Frage „Welche Art von Einwanderung?“ Gerade hier mag ein Vergleich der kanadischen Situation für die Diskussion in Deutschland von Interesse sein.

Das zentrale Dilemma gegenwärtiger kanadischer Einwanderungs- und Integrationspolitik ist die Unterbeschäftigung (underemployment) hochqualifizierter EinwanderInnen. Ein Großteil der aufgrund ihrer Bildung und Berufserfahrung ausgewählten EinwanderInnen hat große Schwierigkeiten ihrem Ausbildungsgrad angemessene Arbeit (Skills Commensurate Employment) zu finden.

Oftmals werden die im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse und Lizenzen von den hiesigen ArbeitgeberInnen und Berufsverbänden nicht anerkannt. Viele der qualifizierten EinwanderInnen finden sich daher im unteren Segment des lokalen Arbeitsmarktes wieder.

Dabei kommt es langfristig zu einer Dequalifizierung, da sich die Aufwärtsmobilität aus dem Niedriglohnsektor äusserst schwierig gestaltet. Die Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen (Credential Recognition) und der Zugang zu regulierten Berufsfeldern (Access to Professions and Trades) sind daher derzeit die dominierenden Themen kanadischer Integrationspolitik.

Das kanadische Integrationssystem unter Druck

In einem klassischen Einwanderungsland wie Kanada gehört der Politikbereich Integration (Settlement) zu einer der tragenden Säulen des Wohlfahrtsstaates. In historischer Perspektive zeichnet sich das kanadische Integrationsmodell dadurch aus, dass Gelder des Bundesstaates und der Provinzen an lokale – oftmals ethno-spezifische –  Non-Profit-Organisationen vergeben werden, welche damit integrationsspezifische soziale Dienstleistungen für EinwanderInnen auf Stadtteilebene anbieten. So entstand gerade in Toronto in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine erfolgreiche und vielfältige soziale Infrastruktur lokaler Non-Profit-Organisationen, die sich gezielt um die Anliegen und Bedürfnisse der MigrantInnen kümmern konnten.

Als Teil des Sozialstaates blieb aber auch der Settlement Sektor von drastischen Finanzkürzungen im Zuge des allgemeinen neoliberalen Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Leistungen nicht verschont. So kürzte die konservative Regierung der Provinz Ontario Mitte der neunziger Jahre die Finanzmittel für Non-Profit-Organisationen um knapp 50 Prozent.

Desweiteren wurden im Sinne neoliberaler „Effizienzsteigerung“ die Finanzierungsmethoden dahingehend verändert, dass nun die lokalen Organisationen vermehrt miteinander um die knappen und stärker projektgebundenen Mittel konkurrieren müssen. Dies führte nicht nur zu einer stärkeren finanziellen, sondern auch politischen Kontrolle der Organisationen durch ihre staatlichen Geldgeber und zu einer qualitativen Veränderung ihrer Tätigkeit, die nunmehr ihre Funktion als Dienstleister hervorhebt und politisches Engagement zu unterbinden versucht.

Die Reduzierung staatlicher Fördermittel bedeutet, dass MigrantInnen die Kosten ihrer Integration in die kanadische Gesellschaft weitgehend selber tragen müssen. In den letzten Jahren kam es jedoch durch einen politischen Machtwechsel in Ontario zu einer relativen Entspannung der Finanzsituation der Settlement Organisationen in Toronto. Festzuhalten bleibt jedoch, dass der Übergang zu einer von Diversity Management geprägten integrationspolitischen Debatte in einer Zeit stattfindet, in der die Institutionen des Wohlfahrtsstaates weitestgehend ausgehebelt worden sind.

Competing on diversity? Vielfalt als Standortfaktor in einer globalisierten Weltwirtschaft

Seit in den sechziger Jahren die explizit rassistischen Selektionskriterien im kanadischen Einwanderungssystem abgeschafft wurden und durch das sogenannte Point System potenzielle EinwanderInnen nunmehr, unabhängig ihres Herkunftslandes, aufgrund ihrer Berufsausbildung und Arbeitserfahrung ausgewählt werden, veränderte sich ihre ethnische Zusammensetzung grundlegend.

Toronto, wo sich gut die Hälfte aller EinwanderInnen nach Kanada niederlässt, wandelte sich seither von einer angelsächsisch-protestantischen „Kleinstadt“, in der Vielfalt eher als Bedrohung empfunden wurde, zu einer Metropole, in der ethno-kulturelle Vielfalt zum prägenden Merkmal städtischen Alltagslebens gehört. Mitterweile ist die Hälfte aller Torontonians ausserhalb des Landes geboren und gehört den im offiziellen Sprachgebrauch als Visible Minorities bezeichneten Gruppen nicht-europäischer Herkunft an. Das offizielle Motto der Stadt lautet seit den neunziger Jahren daher nicht umsonst „Diversity, our strength“.

Die Begriffe Diversity und Diversity Management erfreuen sich zunehmender Beliebtheit in stadtpolitischen Debatten. Der an der Universität von Toronto lehrende Geograph Richard Florida popularisierte die Einsicht, dass ethnische, kulturelle und sexuelle Vielfalt ein wichtiger Faktor des wirtschaftlichen Erfolgs von Stadtregionen darstellt1. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade auch in Toronto, einer der ethnisch vielfältigsten Metropolregionen überhaupt, Diversity in den letzten Jahren zu einer zentralen Wettbewerbsstrategie des Wirtschaftsstandortes erhoben wurde.

Die Privatwirtschaft wird in diesem Zusammenhang oft als Vorreiterin neuer Diversitätsstrategien gelobt, denn sie scheint schon früher als die Politik erkannt zu haben, dass Vielfalt einen strategischen Wettbewerbsvorteil für Wirtschaftsbetriebe im Zeitalter der Globalisierung darstellt. Das Aufkommen von Diversity Management wird dabei oft als Übergang von einer defizit- zu einer chancenorientierten Einwanderungs- und Integrationspolitik bewertet.

Diversity Management als stadtpolitisches Projekt muss in einem größeren historischen Kontext verstanden werden.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren kanadische Kommunen ausführende Organe eines zentralisierten, an den Prinzipien keynesianischer Makroökonomie ausgerichteten, nationalen Wohlfahrtsstaates. Integraler Bestandteil keynesianischer Regulation war der Ausgleich territorialer Ungleichheit auf subnationaler Ebene.

Heutzutage entsteht durch den zunehmenden Wegfall von Ausgleichszahlungen und nationaler Wohlfahrtsstandards ein Wettbewerb subnationaler Wirtschaftsräume. Stadtpolitik nimmt in Form einer angebotsorientierten Standortförderung in diesem Zusammenhang zunehmend unternehmerischen Charakter an.

Genau in diesem historischen und politischen Kontext wird der Begriff Diversity als „harter“ Standortfaktor diskutiert: Eine ethnisch-kulturell vielfältige Bevölkerung wird als Wettbewerbsvorteil gewertet, denn sie erlaubt es den örtlich ansässigen Firmen, aufgrund des kulturellen Humankapitals der Bevölkerung, neue Märkte im Ausland und auch neu entstehende „ethnische“ Nischen im kanadischen Markt zu erschliessen.

Vielfalt wird darüber hinaus aber auch als „weicher“ Standortfaktor interpretiert, denn „multikulturelles Flair“ und Offenheit tragen zur allgemeinen Attraktivität und Lebensqualität der Stadt bei. Auf lokaler Ebene entstehen in diesem Kontext neue Akteurskonstellationen und Governance Initiativen. So formierte sich vor gut fünf Jahren die "Toronto City Summit Alliance", eine Koalition wirtschaftlicher, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich die Lösung der Probleme Torontos und die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Stadt zur Aufgabe gemacht hat. Dabei wurde auch die Unterbeschäftigung qualifizierter EinwanderInnen als zentrales Problem identifiziert.

Um Toronto zum „centre of excellence for integrating immigrants“ zu machen, wurde der "Toronto Region Immigrant Employment Council" (TRIEC) ins Leben gerufen. Dieser von der Wirtschaft dominierte Rat bemüht sich seitdem politisch und praktisch um die Arbeitsmarktintegration hochqualifizierter EinwanderInnen. Durch bezahlte Praktika und sogenannte Mentorship Programme werden diese in die an den Programmen freiwillig teilnehmenden Betriebe integriert. Eine Einstellungsverpflichtung ergibt sich für die Betriebe aufgrund ihrer Teilnahme nicht. Ziel dieser Programme ist es, den EinwanderInnen den Erwerb kanadischer Arbeitserfahrung zu ermöglichen, denn deren Mangel wird oft von ArbeitgeberInnen als Grund für negative Einstellungsentscheidungen genannt.

KritikerInnen weisen darauf hin, dass diese Maßnahmen lediglich auf eine ohnehin schon privilegierte Einwandererschicht abzielen. Politisch getragen werden diese Initiativen von Seiten der EinwanderInnen auch hauptsächlich von einer professionellen Mittelklasse, deren politisches Ziel nicht notwendigerweise die Förderung substantieller Gleichstellung ist, sondern vielmehr die Eliminierung der Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt und die Wiederherstellung des Klassenstatus’, den sie in ihren Heimatländern genossen haben.

Von Equity zu Diversity: Ein qualitativer Wandel staatlicher Integrationspolitik

Der Aufstieg der Begriffe Diversity und Diversity Management ging in Toronto mit einem qualitativen Wandel staatlicher Integrationspolitik einher. Während frühere Debatten um Gleichstellung (Equity) strukturell bedingte und gruppenspezifische Ungleichheiten wie Rassismus und geschlechtsspezifische Diskriminierung hervorhoben und somit auch gruppenspezifische Lösungsansätze einforderten, ist der heutige Diskurs um Diversity weitgehend individualisiert.

Dieser Wandel ist bemerkenswert denn aufgrund erfolgreicher politischer Mobilisierung der Frauenbewegung und verschiedener anti-rassistischer Initiativen, nahm die Provinz Ontario zu Beginn der neunziger Jahre unter sozialdemokratischer Führung eine Vorreiterrolle in der kanadischen Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik ein. Als kanadisches Novum wurde ein Gleichstellungsgesetz (Employment Equity Act) eingeführt, welches auch für die Privatwirtschaft und nicht wie sonst üblich lediglich für den öffentlichen Dienst galt.

Die Privatwirtschaft aber stand einer gesetzlichen Verordnung betrieblicher Gleichstellungsmaßnahmen kritisch gegenüber. Sie wurde als wettbewerbshemmend und bürokratisch abgelehnt. Ironischerweise ist es jetzt gerade die Privatwirtschaft, die den Diskurs um Diversity Management trägt und Maßnahmen zur Stärkung von Diversity als wettbewerbsfördernd preist.

Das Gleichstellungsgesetz wurde von der neoliberal-konservativen Regierung Ontarios, die Mitte der neunziger Jahre an die Macht kam, in einer ihrer ersten Amtshandlungen kurzerhand – und mit Genugtuung der Wirtschaft – wieder abgeschafft. Wenige Jahre nach dem Ende des Employment Equity Acts wurde auch das Ontario Anti-Racism Secretariat aufgelöst. Die derzeitige konservative Bundesregierung beendete letztes Jahr die staatliche Förderung wichtiger Gleichstellungsprogramme wie zum Beispiel Status of Women Canada und das Courts Challenges Program.

Wir sehen also einerseits die Reduzierung staatlicher Förderung zur Gleichstellung traditionell marginalisierter Gruppen und andererseits das simultane Ausrollen privatwirtschaftlich getragener Diversity Management Strategien. Dabei steht die unmittelbare ökonomische Verwertbarkeit des Humankapitals der ImmigrantInnen und die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes klar im Vordergrund. Gleichstellung – definitorisch reduziert als Vielfalt –  wird nunmehr als „gute Wirtschaftsstrategie“ diskutiert.

An diesen Beispielen zeigt sich deutlich, dass der Begriff Diversity, so wie er im gegenwärtigen Stadtentwicklungsdiskurs verwendet wird, recht wenig mit traditionellen Gleichstellungsmaßnahmen im Sinne von Equity zu tun hat. Das mag auch damit zusammenhängen, dass ein auf Humankapitaltheorie basierender Diversity Management Begriff wenig oder gar nichts über strukturelle gesellschaftliche Ungleichheit auszusagen vermag. Dabei ist aber doch allein schon der Zugang zu Bildung, d.h. die Aneignung von Humankapital, von struktureller Ungleichheit und Diskriminierung geprägt.

Durch diese theoretische Ausblendung von Fragen gesellschaftlicher Reproduktion bricht der Diversity Management Begriff nicht mit zentralen Elementen neoliberaler Politik. Gerade hier muss auch eine feministisch-antirassistische Analyse humankapitaltheoretischen Argumenten kritisch gegenüberstehen.

Fazit

Es bleibt zum Schluss festzuhalten, dass Strategien zur Förderung substantieller Gleichstellung und zur Eliminierung struktureller Ungleichheit auch ökonomische Umverteilung beinhalten müssen. Es ist daher wichtig, dass sich die aktuellen Debatten um Diversity auch damit auseinandersetzen, dass sich substantielle Gleichstellung einer unmittelbaren ökonomischen Verwertbarkeit zuweilen entziehen mag.

Charakteristisch für die Sozialpolitik der unternehmerischen Stadt ist aber gerade die Kopplung sozialer Fragen an die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes.

Wenngleich der Begriff Diversity im Sinne einer chancen- und potentialorientieren Einwanderungspolitik für die politische Diskussion in Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt strategisch wertvoll sein mag, so zeigt die kanadische Erfahrung aber auch, dass mit Diversity Management ein qualitativer Wandel bzw. Rückzug staatlicher Integrationspolitik einhergeht, der gerade im Sinne einer emanzipatorischen Gleichstellungspolitik als nicht unproblematisch zu betrachten ist.

 

Endnote

1 Siehe hierzu die Besprechung des Buches "The Rise of the Creative Class" von Richard Florida.

 

Bild entfernt.

 

Ahmed Allahwala studierte Politikwissenschaft an der FU Berlin. Derzeit promoviert er an der York University in Toronto. Als Mitglied der Gewerkschaft Canadian Union of Public Employees engagiert er sich im Bereich Gleichstellung und Antirassismus.