von Mark Terkessidis
Als die Redaktion der Zeitschrift Spex, bei der ich zu Beginn der 1990er Jahre gearbeitet habe, eine Umfrage startete zu den besten Alben aller Zeiten, da habe ich 'Planet Rock' von Africa Bambaataa auf Platz Eins gesetzt. Ich hatte mir überlegt, dass das Kriterium für meine Liste der Aspekt der Neuheit sein sollte, also die Frage: Was hat mich förmlich umgehauen, als ich es zum ersten Mal gehört habe? Und die Maxis von 'Planet Rock' und 'Looking for the Perfect Beat', die später auf jenem Album landeten, waren in meiner Jugend ein wirklich nachhaltig prägendes Erlebnis.
Damals war HipHop noch neu und der brachiale Rhythmus, der kalte Synthie-Sound und der Rapstil von Bambaataa öffneten mir ein ganzes Universum. Zu jener Zeit war HipHop eine noch nie da gewesene Mischung aus schwarzem amerikanischem Bewusstsein, Berichten von der Straße, Kritik, Party und musikalischem Experiment. Diese Mischung hat sich lange gehalten, bis weit in die 1990er Jahre hinein, aber irgendwann ist der Faden gerissen. Obwohl es immer wieder interessante KünstlerInnen gibt, ist der Mainstream dieser Musik in den Vereinigten Staaten ziemlich auf den Hund gekommen – formelhafte Beats, Rapskills ohne Innovationskraft und Videos mit möglichst viel Gangstergetue und Arschgewackel.
Auch in Deutschland ist HipHop einen weiten Weg gegangen von den Rappern, Breakern und Sprayern der frühen Jahre mitten hinein in den kulturellen Mainstream. Und auch hierzulande ist gerade jener HipHop besonders erfolgreich, der von gewalttätiger Konkurrenz auf der "Straße" handelt, vom Leben in der "Unterschicht", von Sex mit "Schlampen" oder der Suche nach dem "Engel unter 1000 Huren". Zwar wird diese Art Musik aufgrund der offensiven Texte eher selten im Radio gespielt, doch etwa der Rapper Bushido ist längst zu einer höchst prominenten Person geworden – sogar seine Autobiographie verkauft sich extrem gut.
HipHop und Straße
Nun wird in Deutschland häufig darüber debattiert, ob die Texte der erfolgreichen Rapper insbesondere bei den Jugendlichen in den berüchtigten "sozialen Brennpunkten" alles noch schlimmer machen, als es ohnehin schon ist. Zu ihrer Verteidigung haben die Macher des HipHop-Labels 'Aggro Berlin' behauptet, die Musik schildere einfach mit der Hilfe von bestimmten künstlerischen Mitteln die vorhandene Realität. Bushido sieht das ein wenig anders. In einem Interview zu Beginn des Jahres stellte er fest: "Natürlich spiele ich eine Rolle. Wenn ich immer nur den coolen Rapper präsentieren müsste, müsste ich zum Psychiater".
Ausgehend von der Mischung, die HipHop einmal war, stellt sich mir die Frage, warum ausgerechnet diese Rolle in Deutschland so begehrt ist. Was motiviert Jugendliche aus Unterschichtmilieus dazu, stets die Rolle des bösen Buben zu spielen oder sie spielen zu wollen? Soziologische Erklärungen greifen hier zu kurz. Rapper produzieren Kultur, und daher halte ich es für angebracht, einmal Ursachenforschung im Bereich der Kultur zu betreiben.
Wenn man den Blick in diese Richtung wendet, dann zeigt sich bald, dass Jugendliche aus der Unterschicht, ob nun mit oder ohne Migrationshintergrund, in diese Rolle geradezu hineingedrängt werden. Zum einen, weil bei diesen Jugendlichen vielfach davon ausgegangen wird, dass sie "so" sind und dass Rappen über die Zustände auf "der Straße" ihre einzige kulturelle Ausdrucksmöglichkeit ist. Und zum anderen, weil die hoch subventionierten Institutionen der Hochkultur sich überhaupt nicht dafür interessieren, diese Jugendlichen an eine andere Ästhetik heranzuführen als jene der angeblichen Straße.
Seit mindestens 15 Jahren gehört zum Repertoire jedes fortschrittlichen Jugendzentrums der Rap-Workshop. Zweifellos entstammten diese Kurse einem Bedürfnis. Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund haben sich schon früh für HipHop aus den USA interessiert, weil es sich um die exemplarische Musik einer Minderheit handelte. Allerdings ist dieses Bedürfnis auch von PädagogInnen erzeugt worden. Rappen gilt demnach als erprobtes Instrument in Sachen "kultureller Bildung". In den Tagen der Begeisterung für "Multikulti" wurde Rap vielfach gefördert – die Rapper der ersten Stunde durften sich als Beispiele für kulturelle Bereicherung feiern lassen. Überhaupt stehen kulturelle Projekte mit Jugendlichen aus so genannten bildungsfernen Schichten stets im Zeichen einer größeren Aufgabe.
Im Grunde geht es hier nicht um Kunst, sondern um Sozialarbeit. Kultur soll den armen, zumeist perspektivlosen Jugendlichen helfen, sich nicht so marginalisiert zu fühlen, sie soll helfen, den Dialog zu fördern, den sozialen Frieden zu wahren und am Ende sogar noch Fundamentalismus und Terroranschläge zu verhindern.
HipHop zwischen Realness und Fiktion
Nun gab es jedoch von Beginn an das Problem, dass die "Straße", der Inbegriff von HipHop, in Deutschland weniger aufregend war als in den Vereinigten Staaten. Es hab nicht annähernd vergleichbare Ghettos, keine Drive-By-Shootings mit großer Artillerie und auch keine Tradition eines schwarzen Style. Die eigenen Erlebnisse mit Kleinkriminalität, Drogen und Knast ließen sich nur bedingt mit Glamour umgeben. Was lag da näher, als sich aus dem Repertoire der US-Rapper zu bedienen?
Bis heute klingt ein großer Teil des deutschen HipHop schlecht und abstrakt, sowohl musikalisch als auch textlich. Eben so, als würde einem dürftigen Erfahrungskosmos mit Hilfe der im Jugendzentrum erworbenen Rap-Skills die ganz große Westcoast-Lackierung verpasst. Am Ende hat jene Mischung aus pädagogischer Bemühung und medialem Einfluss mit Bushido und seinen Kollegen genau den Typ Gangster erzeugt, vor dem sich das Bürgertum fürchtet – nicht zuletzt, weil er als Abbild des gefährlichen kriminellen Ausländerjugendlichen gilt.
Mit Realität hat das Ganze nur sehr eingeschränkt etwas zu tun. Das Gegenteil wird aber allgemein angenommen. Rappen scheint für Jugendliche aus "sozialen Brennpunkten" deswegen so geeignet zu sein, weil vorausgesetzt wird, dass diese Jugendlichen zu nichts anderem in der Lage sind, als vollkommen authentisch zu sein. Insbesondere im Fall von Einwandererkindern gilt: Egal was sie reden oder tun, immer ist es entweder ein Ausdruck der jeweiligen Tradition oder es ist eben ein Bericht vom Leben auf "der Straße". Zu einer echten künstlerischen Bearbeitung ihrer Erlebnisse scheinen diese Jugendlichen nicht in der Lage zu sein; sie können nichts darstellen - immer erzählen sie die Geschichte ihres eigenen Lebens.
Jugendprojekte in der Hochkultur
Und so greifen auch die Versuche, die Jugendlichen an die Hochkultur heranzuführen, fast grundsätzlich auf den Rohstoff "der Straße" zurück. Seit den 1990er Jahren werden in pädagogischen Theaterprojekten Rap-Musicals oder Revuen über "die Straße" inszeniert. Das war anfangs eine gute Idee: Ausgehend vom konkreten Alltag konnten sich Jugendliche mit popkulturellen Ausdrucksmitteln wie eben Rap, Breakdance oder auch schmeichelnden R'n'B-Gesangsparts eine klassische Form der E-Kultur aneignen. Allerdings hat sich diese Herangehensweise in den vergangenen Jahren kaum verändert.
In Berlin ist kürzlich unter der Ägide des Komponisten Todd Fletcher (siehe das Interview in diesem Dossier) das Stück 'Streets of Wedding' entstanden. Wieder einmal geht es um "die Straße". Zu Beginn des kreativen Prozesses wurden die Jugendlichen dazu aufgefordert, selbst Themen für das Stück einzubringen. Derweil wissen Jugendliche aus "Problemvierteln" aber sehr genau, was von ihnen erwartet wird. Von erwachsenen Profis mit der Forderung konfrontiert, mal über sich zu berichten, reproduzieren sie oft kaum mehr als die Klischees ihrer Schwierigkeiten. "Mobbing, Macho-Kultur, Parallelgesellschaft, Probleme zuhause", zählt Todd Fletcher auf – eben "von der Straße auf die Bühne", wie es in der taz hieß.
Jüngst haben nun auch die städtischen Theater die Jugendlichen aus der Unterschicht entdeckt. Dabei ging es ganz bewusst darum, die Mauern der Schauspielhäuser zum sie umgebenden urbanen Raum zu durchbrechen. An den Münchener Kammerspielen beispielsweise gab es bereits 2004 das Projekt 'BunnyHill' mit BewohnerInnen des Stadtteils Hasenbergl, am Essener Grillo-Theater entstand das Stück 'Homestories' mit Jugendlichen aus Katernberg.
In letzter Zeit wurde im Berliner Hebbel Theater (HAU) 'Hell on Earth' gezeigt, das die Choreographin Constanza Macras zusammen mit ihrer Tanzcombo und Teeangern aus Neukölln erarbeitet hat. Vom Prinzip her ähnlich war auch das ungemein erfolgreiche Stück 'Schwarze Jungfrauen' von Günther Senkel und Feridun Zaimoglu, das nach Angaben der Autoren auf Interviews mit "Kopftuch-Trägerinnen" basierte. Man kann diese Öffnung der Hochkultur-Institutionen gar nicht genug würdigen, doch als Problem bleibt, dass auch hier die Unterschichtsjugendlichen zumeist auf "die Straße" reduziert werden bzw. dass ihr Leben als Rohstoff zur Erfrischung des Theaters dient. Sie selbst haben wenig davon. Irgendwann endet das Projekt und kaum einer von den Mitwirkenden wird als SchauspielerIn am Theater bleiben. Zudem geht es auch weiterhin um die ästhetischen Bedürfnisse eines bildungsbürgerlichen Publikums, denn es gelingt mit solchen Stücken nur sehr begrenzt, die "bildungsfernen" Schichten ins Theater zu locken.
Aber auch auf umgekehrtem Wege können die Jugendlichen der Festlegung auf Authentizität nicht entgehen. In der 'Creative Factory' am Gemeinschaftszentrum in Mannheim-Jungbusch inszeniert die Dramaturgin Lisa Massetti mit Jugendlichen Stücke von Friedrich Schiller – angepasst an deren Ausdrucksformen und Interessenslagen. Die Qualität der Arbeit hat dazu geführt, dass die Gruppe seit 2003 mehrfach zur Teilnahme an den Schiller-Tagen im Nationaltheater eingeladen wurde. Es gab viel Anerkennung.
Doch fast erwartungsgemäß titelte der Mannheimer Morgen: "Viel mehr als nur Theater: 'Creative Factory' bringt die Straße auf die Bühne". Dementsprechend wird die Arbeit an Schiller auch nicht aus Töpfen der Kultur gefördert, sondern vom Programm 'Lokales Kapital für soziale Zwecke'. Und im Gegensatz zu den anderen Companys erhielt die 'Factory' bei den Schiller-Tagen kein Honorar. Die Veranstalter haben guten Willen gezeigt und der pädagogischen Arbeit eine Bühne geboten – das muss offenbar genügen.
Ausblick
Sollen nun Unterschichtsjugendliche in Zukunft immer weiter die Rolle des Bushido spielen? Soll ihr Horizont niemals über "die Straße" hinweg reichen? Zweifellos brauchen Jugendliche Anregung und auch Anleitung. Hier sind die Schulen und die Institutionen der Hochkultur gefragt – und zwar im Sinne einer konsequenten interkulturellen Öffnung. Dabei kann es nicht nur darum gehen, den Alltag der Jugendlichen abzubilden, sondern sie müssen auch an die ästhetischen Qualitäten und auch den Kanon der Hochkultur herangeführt werden. "In Schul-AGs ist Theater voll langweilig", meinte eine Mitwirkende bei der genannten 'Creative Factory', "da kriegen nur die Besseren eine große Rolle. Hier gibt es keine Hauptrollen."
Die Möglichkeiten zur Partizipation sind im Feld der Hochkultur immer noch gering. Ein beträchtlicher Teil der Bildungsarbeit im Bereich Theater ist vergleichsweise traditionell und hierarchisch strukturiert, und bevorzugt Leute, die von Hause aus schon die nötigen Voraussetzungen mitbringen.
Hier braucht es mehr Phantasie und vor allem Ergebnisoffenheit. Es geht darum, andere Ausdrucks- und Bewegungsqualitäten nicht einfach als Defizite zu betrachten, sondern als Motor der Veränderung.
Peer Damminger vom Kinder- und Jugendtheater KIT´Z etwa wollte mit SchülerInnen einer Realschulklasse in Ludwigshafen 'Romeo und Julia' aufführen, aber der Text war einfach zu schwierig. Anstatt aufzugeben, sattelte man um. In einem Film erzählen die Jugendlichen nun die Handlung nach und diskutieren über die für sie wichtigen Szenen. Das eigentliche Stück wird als reines Action-Theater inszeniert – mit dem Körper, weitgehend ohne Worte. So wird die Hochkultur auf erstaunliche Weise in Bewegung versetzt. Und viele der bereits genannten Beispiele zeigen ja durchaus, dass in der Hochkultur viel ausprobiert wird, was die Einbeziehung von Jugendlichen betrifft - allerdings fehlt dabei ein schlüssiges Konzept.
Und HipHop? Zunächst einmal muss auch jenen Jugendlichen, die nicht aus einheimischen Familien mit mittelständischem Hintergrund stammen, zugestanden werden, dass sie zu symbolischem Ausdruck fähig sind. Dass ihre Kleidungsgewohnheiten, Frisur- und Bartkreationen, musikalischen Interessen, alternativen Wissensbestände durchaus das Ergebnis von individuellen ästhetischen Entscheidungen darstellen – eben mehr sind als wahlweise Tradition oder "Straße".
Zudem beschränken sich ihre Möglichkeiten nicht auf Rap und Breakdance. Aber wenn es um Rap und Breakdance geht, dann gilt es, diese Kunstformen ernst zu nehmen und sie nicht von vornherein auf ihre Tauglichkeit für pädagogische Maßnahmen abzuklopfen. Das Ziel von HipHop-Kultur in Jugendzentren sollten nicht abstrakte Vorstellungen von "Multikulti" oder "Integration" sein, sondern die Verbesserung von HipHop selbst. Was auch bedeutet, dass es Räume geben sollte, in denen Jugendliche ohne Anleitung und Betreuung experimentieren können.
Im Grunde braucht die ganze Szene eine institutionelle Unterstützung, die eben auf jene Kultur selbst abhebt. Bei den Nachbarn in Großbritannien oder Frankreich genießt so genannte U-Kultur eine deutlich höhere Wertigkeit, und so sind die Ergebnisse oftmals besser – da steht in Deutschland der Ausbruch aus den Schablonen des bildungsbürgerlichen Denkens letztlich immer noch bevor.
Zudem ist Kultur keine "Gärtnerarbeit" und man sollte das Steuerungspotential von Kulturpolitik nicht überschätzen. Mehr als eine langfristige und geduldige Investition in so etwas wie eine kulturelle Infrastruktur ist nicht möglich. Rapper wie Bushido zur Verantwortung aufzurufen oder durch allerlei Sprechverbote einzuschränken kommt mir sinnlos vor. Das erlaubt solchen Rappern, sich als Außenseiter zu inszenieren und gerade durch diese Ablehnung an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Sicher wäre es erfreulich, wenn sich Politik und Medien auch für etwas anderes interessieren würden als für Gewalt und Porno im HipHop.
Aber das sind fromme Wünsche. Doch während Bushido prominent wird, lässt das Interesse an dieser Art von Rap gleichzeitig merklich nach – wie Bushido einmal in einem Interview realistisch feststellte, sind irgendwann schlicht "alle Mütter gefickt". Das schafft Platz. Und wie interessant und durchaus erfolgreich ein anderes, erweitertes Verständnis von HipHop sein kann, das hat sich 2007 etwa an dem Album "Chefa" von Miss Platnum gezeigt. Plötzlich bildeten Migrationshintergrund, Emanzipationsansprüche, musikalische Experimente und Party doch wieder eine ganz unerwartete Einheit. Zu Pessimismus besteht jedenfalls kein Anlass.
Dezember 2008
Mark Terkessidis ist Psychologe und freier Autor. Seine Themenschwerpunkte sind Populärkultur, Migration und Rassismus. Zuletzt erschien (gemeinsam mit Tom Holert): Fliehkraft - Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Toristen.