von Yasemin Dayioğlu-Yücel
Einen Türken bauen – Selbst- und Fremdinszenierung von Identität
Der österreichische Erfinder Wolfgang von Kempelen baute im 18. Jahrhundert einen Türken. Dabei handelte es sich um einen getürkten Schachautomaten in doppeltem Sinne. Zum einen war der Automat aufgemacht wie ein Mann in traditioneller türkischer Kleidung, mit Turban und allem was nach damaliger Vorstellung noch dazu gehörte, zum anderen war es gar kein Automat: Versteckt im Automaten wurde die sichtbare, künstliche Hand des Türken bedient. Es handelte sich also um einen Betrug, einen Trick.
Weder der Türke noch der Automat waren das, was sie vorgaben zu sein. Ob die deutsche Redewendung „einen Türken bauen“ tatsächlich auf dieser Begebenheit beruht ist nicht eindeutig festzustellen, aber plausibel. Genauso plausibel ist, dass ein solch provokativer Künstler wie Feridun Zaimoglu mit der Doppeldeutigkeit dieser Aussage spielt, wenn er behauptet: „Wenn Politiker über Integration reden, dann bauen sie sich erstmal einen Türken.“
Egal, ob es sich um Selbst- oder Fremdbeschreibungen, - erzählungen oder -inszenierungen handelt, Identität ist immer noch ein Schlüsselbegriff, wenn es um die Beschäftigung mit deutscher Migrationsliteratur geht. Wurde dabei zunächst die problematisch gewordene Identität und die Identitätssuche in den Vordergrund gerückt, überwiegen nun Forschungsarbeiten, die gerade die Hybridität der literarischen Figuren hervorheben. Beide Ansätze sind problematisch, wenn sie – was bei modischen literaturwissenschaftlichen Themen durchaus passieren kann – Theorien an Texten erproben wollen und nicht andersherum vorgehen.
Im vorliegenden Beitrag soll nach einem Exkurs in die Parallelwelt einer Online Community der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Attribute Identitätsproblematik und Hybridität auf türkisch-deutsche Migrationsliteratur in ihren jeweiligen Etappen zutreffen und auf alternative Kategorien und Analyseverfahren, vor allem auf den Begriff Integrität aufmerksam gemacht werden.
Lebensweltliche Inszenierung von Identität – Die Online Community vaybee!
Inszenierungen von Identitäten, Anerkennungskonflikten und Integritätsstandards finden nicht nur in der Literatur statt. Das Internet bietet für jeden einzelnen ganz real die Möglichkeit zum Spiel mit der Identität. Besonders anschaulich verdeutlicht das Sherry Turkle anhand einer Karikatur aus dem New Yorker, in der ein Hund, die Vorderpfoten auf der Tastatur eines Computers, einem Artgenossen gegenüber bemerkt: „Dort weiß niemand, dass Du ein Hund bist.“(Turkle 1998, 14)
Obwohl in Online Communities wie vaybee!, die sich speziell an junge türkisch-deutsche InternetnutzerInnen richtet, die Möglichkeit besteht, die eigene Identität frei zu wählen und anonym zu bleiben, bestehen bestimmte lebensweltliche Einbindungen fort. So entwickeln sich im Internet Gemeinschaften mit neuen kulturellen Symbolen, die gemeinsame Werte und Regeln ausbilden wie beispielsweise ein eigenes Strafsystem. Denn auch wenn ein Verweis im Internet keine realweltlichen Folgen hat, kann ein Verstoß gegen die „Netiquette“ einen Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeuten. Neben den Regeln, die die Teilnahme an Online-Diskussionen lenken, gibt es auch Inklusions- und Exklusionsstragien innerhalb der Community, wenn es beispielsweise darum geht, ob die NutzerInnen sich eher der deutschen oder der türkischen Gesellschaft zugehörig fühlen.
Dabei wird eines deutlich: Was die NutzerInnen eigentlich verbindet, ist, dass sie sich von der deutschen Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. Das verbindet sie, auch wenn sie höchst unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was es bedeutet türkisch zu sein. Hier werden sowohl klassische Zugehörigkeitssymbole wie Sprache, Religion und Geschichte herangezogen wie auch der Lifestyle, der ohnehin in der Online Community eine große Rolle spielt. Alles in allem also Phänomene, die sich sowohl in der Gesellschaft als auch in literarischen Inszenierungen wiederfinden lassen.
Polarisierung oder Hybridität? Vom Wandel der literaturwissenschaftlichen Analysekategorien
Wenn beschrieben wird, wie sich die Migrationsliteratur seit ihrer Entstehung verändert hat, muss unterschieden werden zwischen Selbstaussagen von MigrationsautorInnen und der Beurteilung der Texte in Rezensionen und wissenschaftlichen Abhandlungen. Hauptkriterium für die Beschreibung des Wandels sollte aber der Wandel in Thematik und literarischer Inszenierung sein. Dass dies in Bezug auf die Migrationsliteratur häufig übersehen wird, zeigte jüngst die Plagiatsdebatte um Zaimoglus Roman Leyla und Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei, in der vielfach versucht wurde, auffällige Parallelen zwischen beiden Texten pauschal mit einem gemeinsamen kulturellen Kapital zu begründen und die ästhetische Umsetzung außen vor ließ.(Vgl. dazu Dayioglu-Yücel 2008)
Wurde in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Gastarbeiterliteratur die polarisierende Darstellung fester Identitätszuschreibungen weitestgehend unkritisch aufgenommen, so wurde in einer zweiten Phase angenommen, dass gerade die zweite Generation mit nicht zu vereinbarenden Teilidentitäten zu kämpfen hatte, die sie nirgends zugehörig werden ließ. Mit dem Eintritt Emine Sevgi Özdamars in das deutsche literarische Feld veränderte sich die Rezeption der Migrationsliteratur.
Literaturwissenschaftliche Arbeiten, die von postkolonialen Theorien aus dem angloamerikanischen Raum beeinflusst waren, in denen Texte von ehemals kolonialisierten AutorInnen im Zuge des writing back untersucht wurden, übertrugen deren Konzepte auf die Migrationsliteratur. Auch wenn hier kein postkoloniales Verhältnis im eigentlichen Sinne vorliegt, lässt sich dieses Vorgehen dadurch rechtfertigen, dass die Konstellationen in Migrationstexten häufig durch Machtverhältnisse von Einheimischen und Zugewanderten geprägt sind. Besondere Popularität jedoch erlangte der von Homi K. Bhabha in die postkoloniale Theorie eingebrachte Begriff der Hybridität.
Fast ausschließlich wird in aktuellen Untersuchungen zu Migrationstexten behauptet, dass hybride Figuren und Lebensweisen dargestellt, klare Zuschreibungen ad absurdum geführt und gezeigt wird, dass Kulturen per se nicht rein, sondern durch zahlreiche historische und soziokulturelle Entwicklungen vermischt sind. Auch Individuen zeichnet ihre Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen Kollektiven aus. Problematisch hierbei ist, dass Hybridität weitestgehend positiv konnotiert wird, weil sie die Hinfälligkeit von Essenzialisierungen verdeutlicht. Vernachlässigt wird dabei häufig, dass Hybridität nicht bloß eine Vermischung von Kulturen meint, sondern dass es sich um eine spannungsreiche Mischung unter Machtkonstellationen handelt.( Vgl. dazu Mecklenburg, 113)
In Bezug auf Individuen von Hybridität zu sprechen ist Teil eines sich verändernden Identitätsdiskurses. Während die Identität einer Person noch in der Aufklärung als bei der Geburt angelegt und im weiteren Leben entfaltet galt, setzte sich im 20. Jahrhundert mit George Herbert Mead die Erkenntnis durch, dass Identität sich im gesellschaftlichen Interaktionsprozess ausbilde, und zwar immer unter Berücksichtigung der angenommen Haltung der Gesellschaft, der „verallgemeinerten Anderen“(Mead 1973, 239). Noch herrschte aber die Vorstellung einer einheitlichen Identität vor.
Dagegen stehen zum Ende des 20. Jahrhunderts hin Positionen, die dieses einheitliche Bild aufbrechen, die Stabilität von Identität in Frage stellen und das Vorhandensein von fragmentierten, teilweise auch pluralen, Identitäten, die auch in Widerspruch zueinander stehen können, feststellen. Zur individuellen Leistung jedes einzelnen wird es dann, die eigene Identität durch eine „Selbsterzählung“ (narrative of the self), so Stuart Hall, zu konstruieren.(Hall 1996, 277) Anthony Giddens betont zudem, die Wahlfreiheit in Bezug auf die eigene Identität infolge der Loslösung von sozialen Zwängen in posttraditionalen Gesellschaften. Jeder Mensch habe die Möglichkeit seine eigene „Flugbahn“ (trajectory) auszusuchen.(Giddens 1991, 14)
Literarisch verhandelte Integritätsstandards
Im Identitätsdiskurs wird nach wie vor vorrangig verhandelt, wie Identifikationsprozesse ablaufen und mit welchen symbolischen Ressourcen Kollektive sich nach außen abgrenzen bzw. die Zugehörigkeit zu ihnen verhandeln. Es beinhaltet also noch immer eine – wenn auch vorläufige – Festlegung und damit einen Aspekt, den zumindest der postkoloniale und hoch- bzw. postmoderne Identitätsdiskurs eigentlich negiert. Ein Blick auf Texte der Migrationsliteratur zeigt aber, dass gerade in Migrationstexten weniger die Identifizierung selbst als problematisch inszeniert wird, als die Anerkennung der Identität. Deswegen ist es höchst fraglich in Bezug auf die Migrationsliteratur von einer Identitätssuche zu sprechen. Vielmehr geht es um die Anerkennung der – wie auch immer inszenierten – Identität und damit um die Integrität. Das gilt im Übrigen sowohl für die fiktionale Literatur als auch für die Verortung der Migrationsliteratur im deutschen literarischen Feld.1
Integrität in Bezug auf Personen bezieht sich im allgemeinen Sprachgebrauch auf die körperliche und moralische Unversehrtheit. Axel Honneth unterscheidet drei Formen der Integritätsverletzung: Erstens die „persönliche Erniedrigung“ durch die Verletzung der leiblichen Integrität durch Gewaltzufügung; zweitens die „persönliche Missachtung“ durch die Verweigerung allgemeingültiger Rechte; drittens die Herabwürdigung individueller und kollektiver Integrität durch die Verweigerung „sozialer Zustimmung“.
Selbst wenn die eigene Identität gemäß posttraditionaler Theorien frei gewählt sein kann, führt der „Entzug bestimmter Identitätsansprüche“ zu Integritätsverletzungen.(Vgl. Honneth 1994, 212-225) Eine mögliche Strategie, um dieser Integritätsverletzung zu entgehen, wäre es, folgt man Giddens, seinen frei gewählten Identitätsentwurf zu modifizieren. Allerdings ist das nicht immer möglich, beispielsweise wenn die Identitätszuschreibung unter Machtbedingungen von außen festgelegt wird. Bedeutungsschwer formulierte Hannah Arendt: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen.“
Was als integer gilt, kann sich – im Gegensatz zum heute geläufigen Verständnis im Sinne einer allgemeinen Unbescholtenheit – in unterschiedlichen sozialen Kontexten verändern. Die jeweils geltenden Integritätsstandards können Anerkennungskonflikte unterschiedlichen Ausmaßes auslösen. Um Anerkennungskonflikte dieser Art handelte es sich auch im Fall Fereshda Ludin. Gerichtlich wurde verhandelt, ob die Lehrerin islamischer Herkunft in der Schule ein Kopftuch tragen dürfe.
In Weiterführung Axel Honneths unterscheiden Andrea Albrecht und Horst Turk unterschiedliche „Normen und Standards der Anerkennung von Integritätsansprüchen“. Dazu zählen sie „Modalitäten der Integritätsgewährleistung“ wie Gesetze, Normen und Konventionen; die Art der Gewährleistung der Integrität wie körperliche Unversehrtheit, Ehre oder Rechtsgleichheit; die „gewährleistenden Institutionen“ wie Familie, Stamm, Kirche, Staat sowie die „symbolischen Manifestationen, die den Status der Unverletzlichkeit ausdrücken“.(Vgl. Turk 2005, 162) Letztere fließen auch in literarische Texte ein, wenn Anerkennungskonflikte und die Verhandlung von Integritätsstandards literarisch inszeniert werden.
Die Figur des Sascha Muhteschem aus der Gefährlichen Verwandtschaft (Şenocak 1998) beispielsweise ist in ihrer Anlage hybrid, gemäß des Romantitels als Jüdisch-Deutsch-Türke oder Türkisch-Jüdisch-Deutscher sogar höchst gefährlich hybrid. Doch im wiedervereinigten Deutschland werden ihm klare Identitätszuschreibungen abverlangt. „Gehörte ich noch hierher?“, fragt er sich nach der Rückkehr aus der amerikanischen „Prärie“(Şenocak 1997) in das wiedervereinigte Deutschland, in dem nationale Kategorien eine stärkere Bedeutung erfahren zu haben scheinen. Damit wird in der Gefährlichen Verwandtschaft angespielt auf die Debatten um den verstärkten Nationalismus nach der Wende und den Umgang mit der Nazi-Vergangenheit. Besonders die Auseinandersetzung mit kollektiver Schuld wird als Integritätsstandard für die deutsche Gesellschaft inszeniert.
Da die Hauptfigur so angelegt ist, dass sie aufgrund ihrer teilweise jüdischen Herkunft zur Opferseite zählt, findet über die Involvierung des türkischen Großvaters in die Armenierdeportationen während des Ersten Weltkrieges eine andere Art Auseinandersetzung mit kollektiver Schuld und darüber eine (Re-)Integration in die deutsche Gesellschaft statt. Ein ähnliches lebensweltliches Verhalten postuliert Viola Georgi für Migrantenkinder in Deutschland: „Die Erinnerungsarbeit gewinnt […] nicht selten verpflichtenden Charakter. Es geht darum, sich durch ein bereitwilliges Antreten des ‚negativen historischen Erbes‘ der Deutschen als ‚vollwertiger‘ Deutscher zu legitimieren und zu qualifizieren.“(Vgl. Georgi 2003, 320)
Im Fall der Protagonistin der Özdamar-Trilogie – zu dieser gehören Das Leben ist eine Karawanserei, Die Brücke vom Goldenen Horn und Seltsame Sterne starren zur Erde (Özdamar 2006) – nimmt die Zugehörigkeit zu einem nationalen oder ethnischen Kollektiv kaum Raum ein, vielmehr ist es das Kollektiv der ‚Theaterfamilie’. Der in der Karawanserei als „Stadtmädchen“ und „Mundhure“ eingeführten Protagonistin geht es hauptsächlich darum, ein akzeptierter Teil dieser Theatergemeinschaft zu sein. Die Anerkennung durch dieses Kollektiv ist ihr wichtiger als die ihrer genetischen Familie. So handelt sie gegen den in ihrer Familie geltenden Integritätsstandard der Jungfräulichkeit und entledigt sich ihres „Diamanten“, weil sie gelernt hat, dass sie mit diesem keine gute Schauspielerin sein könne. Neben dem Theater dienen Sprache und Geschichte als weitere Felder der Integritätsgewährleistung auf der gestalterischen Ebene.
Die Theaterarbeit der Erzählerin zeichnet sich auch in der Erzählweise ab, die geprägt ist durch szenisches Erzählen. Ein Onkel, Mehmet-Ali-Bey, führt beispielsweise eine regelrechte Performance auf einem Granatapfelbaum durch und stellt dabei die Integrität der Geschichtsschreibung vollkommen in Frage:
Mehmet Ali Bey blätterte in dem Buch, über dem Buch hockend, und drückte mit seiner rechten Hand auf seinen Bauch und furzte, furtfurt auf die Blätter. […] Er sagte zum Geschichtsbuch: „Man spuckt einem schamlosen Mann ins Gesicht, der aber sagt: „Oh, es regnet wieder“.2
Mehmet Ali Bey klettert auf dem Granatapfelbaum hinauf und hinunter, steht mal mit runtergelassenen Hosen, mal mit zugeschnalltem Gürtel vor den Kindern, mal umarmt er den Granatapfelbaum, mal wirft er die Früchte auf seine Zuschauer hinab – all dies dient zur allegorischen Veranschaulichung seiner ‚Counterhistory‘.
„Aufstand der Vorzeige-Exoten“?3
Aspekte der Identitätszuschreibung und Integritätsverhandlung kommen auch zu tragen, wenn es um die Verortung der Migrationsliteratur im deutschen literarischen Feld geht. Dabei zeigt sich eine ambivalente Haltung ihrer AutorInnen, die Antje Weber in einem mit „Aufstand der Vorzeige-Exoten“ betitelten Artikel aus dem Jahre 1999 zu Ausdruck brachte:
„Das ist ohnehin eines der großen Probleme der zweiten (Schriftsteller-) Generation: Die Vereinnahmung als Ausländer, die Zuordnung zur „Ausländer-Literatur“. Dabei wollen diese Autoren gerade nicht als Vorzeige-Exoten bei Multikulti-Wochen herhalten. Einfach scheint das nicht zu sein, und manchmal tragen die Autoren wohl auch selbst dazu bei.“
Vereinnahmt, klassifiziert und identifiziert wollen Autoren wie Zafer Şenocak nicht werden, oder kritisieren wie Jose F.A. Oliver, das man zum Ausländer gemacht werde, so wie man auch zum Vertreter der Frauen- oder Schwulenliteratur stilisiert werde.(Vgl. Amirsedghi 1997, 119) Allgemein überwiegt der Protest gegen diese Fremdidentifikation, denn sie geht mit einer Ausgrenzung aus dem deutschen literarischen Feld einher. Selbst im Fall von Emine Sevgi Özdamar, die 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis für Auszüge aus der Karawanserei erhielt, ließ sich eine solche Ausgrenzung in der orientalisierenden Rezeption ablesen – bei gleichzeitigem Einschluss in das deutsche literarische Feld durch die Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises.
Mittlerweile hat sich die Autorin, die jüngst – zusätzlich zu zahlreichen anderen Literaturpreisen – den Fontane-Preis verliehen bekam, fest im deutschen literarischen Feld etabliert. Ebenso wie ihre Romanfiguren wenig über Identifizierungen räsonieren, hält auch sie sich mit Aussagen dazu, welcher Literatur sie sich zugehörig fühle zurück, während Feridun Zaimoglu, der im Literaturbetrieb immer mehr an Popularität gewinnt, das Spiel der Inszenierung auch in Bezug auf diese Zugehörigkeit weiter spielt. Auch wenn sich die Frage weiterhin stellt, ob MigrationsautorInnen als „Vorzeige-Exoten“ behandelt werden, zeigt der Fall Özdamar, dass es möglich ist, sich mit dem literarischen Werk in das deutsche literarische Feld einzuschreiben. Stünde nicht mehr die Herkunft der AutorInnen im Vordergrund, sondern tatsächlich ihre Literatur, würde der für die postkoloniale Literaturwissenschaft wichtige Aspekt der Selbstrepräsentation eine geringere Rolle spielen. Wenn die Werke der heute noch als MigrationsautorInnen bezeichneten gemeinsam mit Texten wie Sten Nadolnys Selim oder die Gabe der Rede (Nadolny 1990) oder Martin Mosebachs Die Türkin (Mosebach 1999) genannt würden, dann könnten auch ‚deutsche‘ AutorInnen einmal mit dem Argument der Bereicherung der Migrationsliteratur zugezählt werden.
Endnoten
1 Für einen detaillierten Überblick zu den Identitätstheorien und dem Bezug zur Integrität vgl. Yasemin Dayioglu-Yücel 2005.
2 Diese Redewendung ist gleichzeitig eine der vielen idiomatischen Ausdrücke die Özdamar in die deutsche Literatursprache einfließen lässt.
3 Vgl. Weber 1999.
Literatur
- Nasrin Amirsedghi/Thomas Bleicher (Hgg.): Literatur der Migration Mainz: Donata Kinzelbacher, 1997.
- Yasemin Dayioglu-Yücel: Die Plagiats-Debatte um Zaimoglus Leyla und Özdamars Karawanserei – kulturelles Kapital oder geistiges Eigentum? In: Alman Dili ve Edebiyatı Dergisi. Studien zur Deutschen Sprache und Literatur 20 (2008), in Druck.
- Ders.: Von der Gastarbeit zur Identitätsarbeit. Integritätsverhandlungen in türkisch-deutschen Texten von Şenocak, Özdamar, Ağaoğlu und der Online-Community vaybee!, Göttingen: Göttinger Universitätsverlag, 2005.
- Viola Georgi: Entliehene Erinnerung: Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg: Hamburger Edition, 2003.
- Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge: Polity Press, 1991.
- Stuart Hall: The Question of Cultural Identity. Paul du Gay/Stuart Hall (Hgg.): Modernity and its
Futures. Cambridge: Polity Press, 1996. - Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte.
Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994. - George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1973.
- NorbertMecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde.
- Martin Mosebach: Die Türkin. Berlin: Aufbau-Verlag, 1999.
- Sten Nadolny: Selim oder die Gabe der Rede. München: Piper, 1990.
- Emine Sevgi Özdamar: Sonne auf halbem Weg: Die Berlin-Istanbul-Trilogie. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2006.
- Zafer Şenocak: Gefährliche Verwandtschaft. München: Babel, 1998.
- Zafer Şenocak: Die Prärie. Hamburg: Rotbuch, 1997.
- Horst Turk/Andrea Albrecht: Integrität. Europäische Konstellationen im Medium der Literatur, Einleitung. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, Special Issue: Integrität, Hgg. v. Hans Adler/Andrea Albrecht/Horst Turk, 97 (2005) 2, S. 161-167.
Sherry Turkle: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet. Reinbek: Rowohlt, 1998. - Antje Weber: Der Aufstand der Vorzeige-Exoten. In: Süddeutsche Zeitung, 17.04.1999.
Yasemin Dayioğlu-Yücel promovierte an der Universität Göttingen über türkisch-deutsche Migrationsliteratur und ist zurzeit als DAAD-Lektorin an der Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur der Istanbul Universität tätig.