Der Rassismus des Migrationshintergrunds

von Lalon Sander


Am 1. Juli 2009 erstach im Dresdner Landgericht ein deutscher Mann mit einem Küchenmesser eine ägyptische Frau. Der Mord gilt als der erste islamfeindliche Mord in Deutschland, vermutlich weil es der erste ist, bei dem der Täter seine rassistische Einstellung so offen äußerte: Zuvor hatte er sein Opfer als ‚Islamistin’ und ‚Terroristin’ beschimpft, und Nichteuropäern und Muslimen ein Lebensrecht in Deutschland abgesprochen.

Ein klarer Fall, doch diese Geschichte kann man auch anders erzählen: Bei beiden Menschen handelt es sich nämlich um Menschen mit Migrationshintergrund. Sie, das Opfer, war ägyptische Staatsbürgerin, die auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland lebte; Er, der Täter, war Spätaussiedler, deutscher Staatsbürger, aber erst vor wenigen Jahren aus Russland in die Bundesrepublik gezogen. Sie hatte in Alexandria Pharmazie studiert und arbeitete entsprechend in einer Dresdner Apotheke, ihr Sohn ging in den Kindergarten nebenan – immerhin war sie so integriert, dass sie von ihrem Recht Gebrauch machte und ihren späteren Mörder anzeigte, als er sie beschimpfte. Er hingegen war in seinem Übergangswohnheim schon ‚problematisch’ aufgefallen, war arbeitslos und hatte schon mehrmals Menschen mit einem Messer bedroht. Gut integriert versus schlecht integriert. Guter Migrant, schlechter Migrant.

Man kann diese Geschichte auch ein drittes Mal erzählen und sie von ihren rassistischen Untertönen säubern. Denn eigentlich hat der Mord an der Apothekerin nichts mit ihrem Aussehen, ihrer Identität als Muslima, ihrer ägyptischen Staatsbürgerschaft zu tun – sie hat etwas mit dem Verständnis vom Deutsch-Sein ihres Mörders zu tun, mit seinem Bild von Muslimen und nicht-weißen Menschen. Eine Frau wurde von einem rassistischen Mann erstochen, könnte man auch erzählen.

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Erfolgreicher Mensch mit Migrationshintergrund: Nobelpreisträger Thomas Mann hatte eine brasilianische Mutter (Foto: Bundesarchiv)
Quelle: Wikimedia, CC-Lizenz BY-SA

Das „Othering“

Diese drei Erzählungen zeigen wie sehr die Identität von Menschen mit Migrationshintergrund verwoben ist mit den Geschichten, die über sie erzählt werden. Während diese Geschichten im wissenschaftlichen oder amtlichen Diskurs sicherlich differenzierter sind – hier ist der Begriff „Migrationshintergrund“ relativ scharf definiert – sind sie es im alltäglichen, im medialen und im politischen Diskurs auf sehr wenige Topoi eingeschränkt: Integration, das „Leben zwischen den Kulturen“, Gewalt in Form von Angriffen durch Jugendliche oder Terroristen, islamischer Fundamentalismus, Unterdrückung von Frauen, rückständige Wertesysteme. In liberaleren Kreisen ist der Begriff des „Migrationshintergrunds“ positiver aufgeladen: Menschen mit Migrationshintergrund haben ungeahnte andere Fähigkeiten, sprechen viele Sprachen, können exotisch kochen, toll musizieren und tanzen und machen die Welt einfach bunter.

Beiden Argumentationen liegt jedoch dieselbe rassistische Taktik des „Othering“ zugrunde: Menschen mit Migrationshintergrund sind irgendwie anders, sie ticken anders, es gibt Mentalitätsunterschiede – auf jeden Fall sind sie nicht so wie „die Deutschen“. Der Begriff „Deutscher mit Migrationshintergrund“ wird so zu einem politisch korrekt ausgedrückten „Nicht-Deutscher, der sich so gut benommen hat, dass wir ihm mal einen deutschen Pass gegeben haben“. Integration bedeutet nicht auffallen, Anpassung, im besten Fall Assimilierung.

Spannend ist hier auf welcher Basis Menschen mit Migrationshintergrund im Alltag identifiziert werden. Die offensichtlichsten Merkmale des Anders-Seins werden zu Rate gezogen: Hautfarbe, gelegentlich auch Haarfarbe, Aussprache und oft auch ein fremd wirkender Vor- und/oder Nachname. Eine weiße Deutsche mit polnischer Mutter wird nicht als Frau mit Migrationshintergrund wahrgenommen, solange sie einen deutschen Akzent und den Nachnamen ihres Vaters hat. Ihr „Migrationshintergrund“ wird – wenn überhaupt – sehr viel später thematisiert werden als bei einem sich prügelnden jungen Mann mit nicht-weißem, türkischem Vater.

Kurz, wenn nicht-weiße Menschen, oder Menschen mit einem fremd klingendem Akzent oder Namen problematisch auffallen, werden die Gründe für diese Probleme in ihrem wie auch immer vorhandenen Migrationshintergrund gesucht. Dass diese Hintergründe oft gar nicht existieren spielt keine Rolle, denn die Suche nach Gründen hat wenig mit der Realität zu tun. Dadurch werden nur die Probleme bestimmter Menschen sichtbar und in einem tückischen Zirkelschluss beginnen dann Menschen mit Migrationshintergrund, die problematisch auffallen, die „problematischen Menschen mit Migrationshintergrund“ zu repräsentieren – wobei das Adjektiv „problematisch“ beschreibend und nicht qualifizierend genutzt wird.

Defizitäre Erfahrungen

Dieser Zirkelschluss gipfelt dann in Aussagen, wie beispielsweise die von Thilo Sarrazin im Oktober 2009 über „70 Prozent der Türken und 90 Prozent der Araber“. Die Folge ist, dass der Begriff „Migrationshintergrund“ nicht länger bestimmte Erfahrungen beschreibt, sondern sie von vorneherein strukturiert. Migrationsbiographien werden an sich als problematisch verstanden und die oben genannten Topoi – mangelnde Integration, Identitätskrisen usw. – als Hauptmerkmale solcher Biographien. Es wird suggeriert, dass Menschen mit Migrationshintergrund an sich nicht integriert sind und erst Leistungen, wie beispielsweise das Erlernen der deutschen Sprache, erbringen müssen, bevor sie es sein können.

Diese alltägliche Grundannahme von Menschen mit Migrationshintergrund als defizitär wird elegant durch eine relativ aktuelle Studie von SINUS Sociovision gekontert: Demnach ist der Anteil von Leistungsträgern unter Migranten höher als in der gesamtdeutschen Bevölkerung. Problematische Migrationserfahrungen können deutlich in bestimmten Milieus verortet werden, wobei diese Milieus nicht mit bestimmten Herkünften korrespondieren und sogar Entsprechungen in gesamtdeutschen Milieus haben. Die Grundannahme ist also falsch.

Leider setzt das positiv besetzte Verständnis vom Migrationshintergrund – meist in linksliberalen Kreisen – genau an dieser Grundannahme an: Der Erfolg von Menschen mit Migrationshintergrund wird als besondere Leistung zelebriert, die aber aus Sicht der Betroffenen gar nichts besonderes ist. Er entsteht hier weder wegen, noch trotz des Migrationshintergrunds, sondern ist in etwa genau so wahrscheinlich wie in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Wo sozialer Aufstieg trotz Schwierigkeiten stattfindet, ist er vergleichbar mit dem eines weißen, deutschen Arbeiterkindes zum Bundeskanzler.

Natürlich haben Menschen mit Migrationshintergrund trotzdem andere Erfahrungen als Menschen ohne. Diese sind sich aber weder ähnlich, noch sind sie vielfältiger als jene. Neben der alltäglichen Reduktion vom Migrationshintergrund auf problematische Migrationserfahrungen findet gleichzeitig eine Pauschalisierung dieser Erfahrungen statt, die schon im amtlichen Begriff beinhaltet ist. Zu Menschen mit Migrationshintergrund werden nicht-deutsche Staatsbürger – auch diejenigen, die ihr Leben lang in Deutschland gelebt haben –, Menschen mit Eltern, die nicht-deutsche Staatsbürger sind, eingebürgerte deutsche Staatsbürger oder auch zugewanderte deutsche Staatsbürger – wie Aussiedler – gezählt. Die schwammige Definition führt dazu, dass jede fremd erscheinende Biographie als Migrationshintergrund markiert wird.

Gleichzeitig verleugnet der Migrationshintergrund die vielfältigen Kulturen innerhalb des deutschen Staates und Migrationserfahrungen die beispielsweise Ost-West Migranten, Land-Stadt Migranten oder Diplomaten- und Missionarskinder machen. Diese Erfahrungen haben genauso ihre Besonderheiten und würden den Begriff Migrationshintergrund verdienen, wenn der Begriff nicht so unscharf wäre.

Der im Alltag genutze Begriff „Migrationshintergrund“ richtet sich also nach Äußerlichkeiten (Hautfarbe, Akzent usw.), beschreibt entsprechende Erfahrungen (sogar bei positiver Besetzung) als defizitär und pauschalisiert (sogar im amtlichen und wissenschaftlichen Gebrauch) sehr vielfältige Erfahrungen. Zudem ist er eine Fremdbezeichnung, denn kein Mensch mit Migrationshintergrund würde sich selbst so nennen. Das ist struktureller Rassismus!

Wenn nun Menschen mit Migrationshintergrund im Beruf oder in Bezug auf Machtpositionen systematisch schlechter gestellt sind, hat das nichts mit ihnen zu tun sondern mit der Bevölkerung, die sie so nennt. Wie bei der toten Ägypterin geht es nicht um ihre Identität sondern um das Verständnis vom Deutsch-Sein, das die gesamtdeutsche Gesellschaft hat, wen sie einschließt und wen sie ausschließt. So wie bei dem rassistischen Mörder in Dresden wird eine Hierarchie der Menschen aufgestellt, deren Kern ein rassistisches, eurozentrisches Weltbild ist.

Dezember 2009

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Der Deutsch-Bengale Lalon Sander kam mit 19 Jahren nach Deutschland und liegt als Journalistik-Student dem Steuerzahler auf der Tasche. Während sein Großvater Offizier der Wehrmacht war, engagiert er sich gegen den völkisch-deutschen Nationalismus.