von Raffaele Nostitz
Ein familiärer Hintergrund, der von Ost- und Südeuropa geprägt ist. Die eine Hälfte der Familie stammt aus der DDR, die andere Hälfte aus Süditalien. Die Suche nach Freiheit und die Suche nach Arbeit treffen in Süddeutschland aufeinander. Eine Selbstreflektion über das Gefühl von Heimat und gesellschaftliche Partizipation.
Wo beginnt eigentlich ein Migrationshintergrund? Nach Definition des Statistischen Bundesamtes dann, wenn mindestens ein Elternteil nach 1949 eingewandert oder in Deutschland als Ausländer geboren ist. Ja richtig, das ergibt sich natürlich erst in Relation zum jeweiligen Land. Doch wo beginnt Heimat? Vielleicht da, wo man Partizipation erfährt. Dabei sein, dazu gehören, Urvertrauen. Natürlich muss das Gegenteil von Heimat nicht bedeuten, mit Ausgrenzung und Ablehnung zu leben; für mich bedeutet es eben einfach das Nicht-Vorhandensein eines solchen Gefühls. Doch beginnen wir von vorn.
Daheim und doch auf Reisen
Meine Großeltern mütterlicherseits, aus dem Riesengebirge (heutiges Tschechien) und Dresden stammend, übersiedelten nach dem 2. Weltkrieg aus der DDR in die BRD. Ein kleines Dorf in Baden-Württemberg, im Dreiländereck Deutschland-Frankreich-Schweiz mitten in einem Weinanbaugebiet gelegen, wurde zu ihrer neuen Heimat. Mein Vater kam als junger Mann auf der Suche nach Arbeit ebenfalls nach Süddeutschland.
Im italienischen Dorf fing alles an.
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Später war ich oft in Italien bei den Verwandten und Bekannten in Kalabrien und Sizilien. Ich wurde hier sehr verwöhnt, die Esstische pflegten sich stets unter den Lasten der fantastischen Speisen zu biegen. Zahlreiche Kinder und Katzen wuselten überall umher, erstere nannten mich Zio Raffaele, Onkel Raffaele. Ich wurde unter sengender Hitze herum geführt wie ein Zirkuspferd, man schrie liebevoll auf mich ein, auf dass ich mit meinen spärlichen Italienischkenntnissen verriete, wie alt ich sei und ob ich noch zur Schule gehe. Es war eine flimmernde, laute und bunte Welt – irgendwie verschwommen wie eine Fata Morgana.
Ich war auch oft in Sachsen. Ich erinnere mich noch an die Häuserschluchten der Plattenbausiedlungen (Jahre später stellte ich fest, dass es sich eigentlich nur um wenige Gebäude handelte, die mir als Kind überdimensional erschienen waren) und war tief beeindruckt davon, im 11. Stock auf dem Balkon stehen und über ganz Dresden blicken zu können. Ich aß gesalzene Butter und Pfirsicheis, wurde auch hier von Verwandten zu Verwandten geschickt, die sich jedoch bis auf meine Großtante recht distanziert gaben ob des Besuchs aus dem feindlichen Westen
Daher sprachen meine Großtante und ich uns ab, glucksend vor Lachen, dass wir gleich so täten als würden wir einschlafen, wenn die verhaltenen langweiligen Gespräche wieder anfingen. Die Aktion trug jedoch auch nicht zur Auflockerung der Stimmung bei. Diese Eindrücke, die stundenlangen Grenzkontrollen, die holprige Autobahn entlang des antifaschistischen Schutzwalls, das Grau in Grau der Stadtpanoramen und nicht zuletzt die düstere Stimmung am Vorabend der Deutschen Revolution kamen mir als Kind wie eine sehr ferne und unwirkliche Welt vor.
Gleich, aber unterschiedlich, mit Verlaub!
Und zu Hause, dort wo ich aufgewachsen bin? Hier waren viele Personen nicht in der Lage, meinen Vornamen richtig zu benennen. In der vermeintlichen geschlechterspezifischen Berichtigung wurde ich also zu Rafael, oder das Geschlecht – ohnehin ja nur ein soziales Konstrukt – wurde gleich falsch zugeordnet. Der italienische Originalname hatte keinen Platz in der deutschsprachig geprägten Ordnung. Eine gewisse Ermüdung hat sich diesbezüglich bei mir eingestellt; ich versichere bei den nach wie vor vorkommenden Fehlinterpretationen meines Namens stets automatisch, kein Problem, es passiere nicht zum ersten Mal. Bei der Unterzeichnung eines Arbeitsvertrages fragte mich einmal die zuständige Sekretärin, wo ich denn her sei, ich sagte aus Berlin. Nein, wo aufgewachsen. Basel. Nicht doch, wo geboren, sie weiter. Wuppertal. Aber die Eltern! hakte sie ein weiteres Mal nach. Unterschiedlich! Meine endgültige Antwort.
Dieses und andere Ereignisse zeigen immer wieder, dass ich ein Stück weit fremd bin und fremd wahrgenommen werde. Und ja, auch das ermüdet. Und es stellt für mich die gängige Kategorisierung in InländerIn, AusländerIn in Frage. Ab welcher Generation darf man denn ohne dümmliche Fragerei beispielsweise deutsch sein? Was, wenn etwa ein polnischer Name noch von den Urgroßeltern stammt; rechtfertigt das ein lebenslanges Abverlangen von Erklärungen? „Ja, das schreibt sich so und so, richtig, kein deutscher Name, polnisch um genau zu sein, nein nein ich bin kein Pole, nur der Name, Sie verstehen.“
Bedingte Förderung
Während meine Ausbildungswünsche und -fragen in der Familie eher auf Überforderung stießen, so waren die institutionellen Unterstützungen zwar vorhanden, allerdings hauptsächlich auf einer informativ-verwaltungstechnischen Ebene. Ich kann nun nicht sagen, dass meine Zukunft durch meine Herkunft grundsätzlich verbaut gewesen wäre. Gerade in Deutschland gibt es zahlreiche Fördermöglichkeiten: Vom breiten Netz der Musikschulen, Vereine, kirchlichen Einrichtungen und vergleichbarer Institutionen, über Wettbewerbe und Studienstiftungen bis hin zum Kindergeld und BAföG – und so konnte ich sowohl meine Musikalität entfalten als auch ein Hochschulstudium aufnehmen.
Für mich war und ist der Weg aber schwerer, langwieriger, mit mehr Umwegen und inneren Konflikten verbunden. Es stand nie die Frage im Raum, ob ich dieses oder jenes tun kann, sondern wie, zu welchen Bedingungen. Die meisten Fördermaßnahmen müssen eingeworben werden, oftmals durch BetreuerInnen und WegbegleiterInnen. Und hier wiederum liegt auch die Gefahr der systematischen Benachteiligung von MigrantenInnen. Der falsche Name im Bewerbungsschreiben, gepaart vielleicht mit der falschen Postleitzahl. Der falsche Habitus, der hörbare Akzent im Gespräch.
Sphären der Partizipation
Mein Schicksal ist nicht das eines politisch Verfolgten, ich habe auch wirklich nur selten unterschwelligen Rassismus erfahren. Umso schwerer ist es zu begreifen, wie sehr diese beständigen latenten Gefühle und Unsicherheiten wiegen. Andere können wohl oft nicht nachvollziehen, welche Last das bedeuten kann, von sehr früh an auf eigene Füße gestellt zu sein, wenn es darum geht, eine Orientierung zu finden; die Kreation einer neuen, eigenen Identität von Heimat und Zugehörigkeit. Und damit verbunden die eigenständige und langwierige Erarbeitung von Zugehörigkeit.
Ich würde sagen, es gibt eine kulturelle, eine personelle und eine geistige Sphäre, die Heimatidentität und Partizipation prägen. Was nützt es, in eine Kultur gezwängt zu werden und etwa von den Eltern verordnet zu bekommen, wenn die geistige Identifikation mit dieser fehlt? Was nützt es, eine geistige Identifikation zu einer Kultur hergestellt zu haben, wenn es aber weder WegbereiterInnen noch BegleiterInnen gibt, einen dort hin zu geleiten? Und was nützt es, einen Weg zu gehen, wenngleich auch mit viel Unterstützung, der die kulturelle Identifikation verbaut? Hier gilt es für MigrantenInnen und deren Nachfahren in ganz besonderem Maße, einen Weg zu finden, der nicht blockiert, noch Verleugnung fordert. Tolerant und offen müssen dabei beide sein: die Suchenden und diejenigen, welche zur Erreichung der Ziele beitragen können oder sollten. Das ist es schließlich, was eine tolerante und offene Gesellschaft bedingt. Eine solche lebt ja in erster Linie von beständiger Erneuerung – nicht nur in kultureller Hinsicht.
Dezember 2009
Raffaele Nostitz, 28, wohnhaft in Berlin, studiert Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Potsdam. Vor seinem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Chor- und Ensembleleiter. Zur Zeit macht er ein Austauschsemester in Bozen.