von Tillmann Löhr
„Der Europäische Rat bekräftigt die Bedeutung, die die Union und die Mitgliedstaaten der unbedingten Achtung des Rechts auf Asyl beimessen.“ (1) Das erklärte der Europäische Rat, als sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1999 im finnischen Tampere auf Grundzüge für eine künftige, gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik einigten. Das Bekenntnis zur Achtung internationaler Verpflichtungen gegenüber Asylsuchenden wird seitdem von den Institutionen der EU stetig wiederholt – zuletzt etwa, als der Europäische Rat im September 2008 den Pakt zu Einwanderung und Asyl verabschiedete und darin ein „Europa des Asyls“ (2) ankündigte.
Doch dieses Versprechen bleibt leer, wenn die Europäische Union alles daran setzt, dass es niemand einlösen kann. Mit anderen Worten: Die Grenzen der Europäischen Union sind immer schwerer zu erreichen. Europas unbegrenzte Grenzen werden seit einigen Jahren bereits in den Herkunfts- und Transitstaaten ebenso wie in internationalen Gewässern gesichert. Unter dem Schlagwort des Integrierten Grenzmanagements hat die Europäische Union verschiedene Mechanismen der Grenzkontrolle aufgebaut, die eine immer effektivere Kontrolle der Grenzen ermöglichen. Wer sich für Flüchtlinge einsetzt, muss sich deshalb nicht mehr länger nur für humane Aufnahmebedingungen in Europa selbst engagieren. Denn das setzt voraus, dass die Betroffenen es überhaupt hierher geschafft haben. Vielmehr lautet die Schicksalsfrage an die künftige europäische Flüchtlingspolitik: Wie kann denen, die Schutz vor Verfolgung benötigen, der Weg nach Europa geebnet werden?
Dieser Artikel gibt einen Überblick über das europäische Grenzregime. Es wird geschildert, wie Visabestimmungen, die Haftung von Transportunternehmern, der Einsatz von Dokumentenberatern,
gemeinsame Datenbanken, der geplante Informationsaustausch über Eurosur und die Einsätze unter Koordination der europäische Grenzschutzagentur Frontex den Weg nach Europa immer beschwerlicher machen. Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Feindbilds der illegalen Migration, das kaum noch Raum für die Auseinandersetzung mit Asylsuchenden lässt. Anschließend wird die Regionalisierung des Flüchtlingsschutzes angesprochen, bevor mit Vorschlägen zur Verbesserung der Situation geschlossen wird. |
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den hier diskutierten Phänomenen findet sich im 2010 erschienenen Buch „Schutz statt Abwehr – Für ein Europa des Asyls.“ (Löhr 2010)
Zurück auf Los: Visabestimmungen, Carrier-Sanctions und Dokumentenberater
Die Regeln sind eigentlich einfach. Das sog. Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention verbietet es, einen Flüchtling dahin aus- oder zurückzuweisen, wo ihm Verfolgung droht. Ebenso verbieten die Europäische Menschenrechtskonvention, die Anti-Folter-Konvention und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte die Aus- oder Zurückweisung an einen Ort, an dem schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Doch wer in einem anderen Land als Flüchtling anerkannt werden will, muss in dieses Land einreisen oder wenigstens dessen Grenze erreichen. Einmal dort angelangt, kann er bei den Beamten des Aufnahmestaates um Asyl ersuchen. Eben das wird aber zunehmend schwieriger.
Noch bis in die späten 1990er Jahre konnte man aus etlichen Drittstaaten zumindest für einen Kurzbesuch visumfrei in europäische Staaten einreisen. Doch seit 2001 führt die EU eine gemeinsame Liste von Drittstaaten, für die Visumspflicht besteht. Mittlerweile sind 129 Staaten darin aufgeführt. Wer aus einem dieser Staaten stammt, muss vor der Einreise in die EU ein Visum beantragen. Zwei Dinge sind sicher: Erstens gibt es kaum ein Krisengebiet der Erde, das sich nicht auf dieser Liste findet. Zweitens bekommt, wer aus einem dieser Krisengebiete stammt, beinah nie ein Visum – wer aus dem Irak, Afghanistan oder Somalia einreisen möchte, dem wird vom Auswärtigen Amt meist die Annahme entgegengehalten, dass Zweifel an seiner Rückkehrbereitschaft bestünden.
Um zu verhindern, dass sich Menschen ohne Visum in Richtung Europa aufmachen, werden die Beförderungsunternehmer mit so genannten Carrier-Sanctions in Haftung genommen. Seit 2001 dürfen Transportunternehmen Reisende nur mit Visum an Bord nehmen. Lassen sie jemanden ohne Visum an Bord, müssen sie ihn auf eigene Kosten zurückbefördern. Das ist teuer genug, dass die Firmen vor dem Einchecken prüfen, ob ihre Passagiere alle Papiere besitzen. So geht die Reise für den, der keine hat, gar nicht erst los.
Doch was, wenn die Betroffenen Papiere fälschen, um diese Regelungen zu umgehen? Dann springen in vielen Staaten Dokumentenberater ein. Das sind europäische Beamte, die in Auslandsvertretungen oder an Flughäfen prüfen, ob die vermeintlich europäischen Visa echt sind. So heißt es zurück auf Los, und manch eine Flucht endet, bevor sie begonnen hat.
Gemeinsame Datenbanken
Die Mitgliedstaaten der EU bauen den Austausch von Daten stetig aus. So können etwa die für die Vergabe von Visa zuständigen Auslandsvertretungen auf das Schengener Informationssystem (SIS) zugreifen. Es enthält Fahndungsdaten einschließlich der von den Mitgliedstaaten ausgesprochenen Einreiseverbote. Wenn ein Migrant in einem Mitgliedstaat mit einem Einreiseverbot belegt ist, darf ihn kein anderer Mitgliedstaat einreisen lassen. Auch wird er an der Grenze zurückgewiesen. Das System hat derzeit noch keine ausreichende Speicherkapazität für die 2004 neu hinzu gekommenen EU-Beitrittsstaaten, doch wird derzeit intensiv am Folgesystem SIS II gearbeitet.
2008 wurde eine Verordnung für ein gemeinsames Visa-Informationssystems (VIS) verabschiedet. Mit dem VIS können bei der Einreise die vom Einreisenden vorgelegten Dokumente und seine Identität geprüft werden. Hierfür sollen biometrische Daten einschließlich Fingerabdrücke von bis zu 70 Millionen Menschen gespeichert werden. Etwa 20 Millionen Einträge werden voraussichtlich pro Jahr hinzukommen. Bei jeder Beantragung eines Visums werden künftig die biometrischen Daten des Beantragenden gespeichert, um seine Identität bei künftigen Anträgen überprüfen zu können.
Vom Informationsaustausch zum Drohnenflug: Eurosur
2008 hat die Kommission angekündigt, ein System namens EUROSUR aufbauen. Sie will damit die Überwachung der Grenzen ausbauen. In einem ersten Schritt soll der Austausch bestehender Informationen bei den nationalen Grenzschutzbehörden unter Koordination der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ausgebaut und verbessert werden. Daneben sollen Satelliten und Drohnen – also unbemannte Flugzeuge – eingesetzt werden, um Wanderungsbewegungen schnell entdecken und MigrantInnen aufgreifen zu können. Zuletzt soll langfristig ein gemeinsames EU-weites Informationssystem geschaffen werden, mit dem sich die Behörden der Mitgliedstaaten gegenseitig kurzfristig über Wanderungsbewegungen informieren können.
Frontex hütet Europas unbegrenzte Grenzen
Frontex ist die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU. Sie bildet das Kernstück der Integrierten Grenzverwaltung. 2004 durch eine EU-Verordnung geschaffen, hat die Agentur folgende Aufgaben:
- Frontex unterstützt die Mitgliedstaaten in Situationen, die eine verstärkte technische und operative Unterstützung an den Außengrenzen erfordern. Dabei handeln die nationalen Grenzschutzbehörden unter eigener Flagge, Frontex funktioniert als Koordinationsstelle. In der Praxis kann dies zum Beispiel bedeuten: Auf einer bestimmten Route im Mittelmeer werden hohe Wanderungsbewegungen beobachtet. Frontex bringt daraufhin mehrere Mitgliedstaten zusammen und erstellt einen Einsatzplan, aufgrund dessen die Mitgliedstaaten das entsprechende Gebiet über mehrere Monate hinweg kontrollieren. Wer fährt wann? Welche Geräte werden benötigt und von wem zur Verfügung gestellt? Auf welchen Routen wird kontrolliert? All dies sind Details, deren Klärung unter die Koordination von Frontex fällt. Frontex unterstützt die Mitgliedstaaten bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten. Dazu gehören gemeinsame Ausbildungsnormen ebenso wie Fortbildungen und Trainings, bei denen die Beamten der Mitgliedstaaten untereinander ihr Wissen austauschen.
- Frontex führt Risikoanalysen durch. Ziel ist es, offene Flanken an den Außengrenzen auszumachen, die durchlässig für illegale Migration sind.
- Frontex wertet die Forschung aus, die für die Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen bedeutend ist und erstellt eigene Studien. Gegenstand sind unter anderem Erkenntnisse über Migrationsrouten.
- Frontex koordiniert gemeinsame Rückführungsaktionen und die Entsendung von Dokumentenberatern.
- Frontex kann Arbeitsvereinbarungen mit internationalen Organisationen und Drittstaaten, also Nicht-EU-Staaten, abschließen. So gibt es bereits jetzt mehrere Arbeitsvereinbarungen mit afrikanischen Küstenstaaten, die es den unter Frontex-Koordination eingesetzten EU-Mitgliedstaaten erlauben, ihre Boote zu Kontrollzwecken in deren Hoheitsgewässern einzusetzen.
- Frontex unterhält eine so genannte Toolbox. Dabei handelt es sich um ein Zentralregister der technischen Ausrüstung, über die die einzelnen Mitgliedstaaten verfügen. Frontex erstellt eine Bedarfs und Risikoanalyse. Dann wird ein Mitgliedstaat angefragt und stellt auf freiwilliger Basis das entsprechende Gerät zur Verfügung.
- 2007 wurde die Frontex-VO ergänzt. Seitdem kann die Agentur so genannte RABITs bilden, Rapid Border Intervention Teams. Das sind multinationale Soforteinsatzkommandos. Frontex hat damit erstmals stärkere eigene Exekutivbefugnisse bekommen. Wenn es irgendwo an den Außengrenzen zu einem Zustrom vieler MigrantInnen kommt, kann der betroffene EU-Mitgliedstaat ein Team anfordern. Frontex wendet sich dann auf Grundlage dieser Anfrage an die Mitgliedstaaten und stellt aus den Beamten und mit der Ausrüstung der Mitgliedstaaten ein Team zusammen. Frontex unterhält zu diesem Zweck einen Ad-hoc-Einsatzpool von mehreren hundert Grenzpolizisten der Mitgliedstaaten.
Feindbild illegale Migration
Die beschriebenen Maßnahmen führen dazu, dass es stetig schwerer wird, Europas Grenzen zu erreichen. Zwar ist auf Grundlage des geltenden Völkerrechts nicht zu bestreiten, dass souveräne Staaten das Recht haben, Einwanderung zu kontrollieren. Doch es geht nicht nur um Einwanderung – es geht auch um Asyl. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich im Europarecht und im Völkerrecht dazu verpflichtet, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Daraus folgt: Grenzkontrollen dürfen nicht so ausgestaltet werden, dass sie potentiell Schutzbedürftige daran hindern, Zuflucht vor Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen zu suchen und zu erhalten. Eben hier aber schafft die Europäische Union ein Dilemma: Einerseits erklärt sie den Kampf gegen illegale Migration zu einem zentralen Ziel der europäischen Migrationspolitik. Andererseits verspricht sie denen, die um Asyl ersuchen, Schutz. Doch legale Wege für Asylsuchende, um nach Europa zu kommen, eröffnet sie nicht. Die Konsequenz: Asylsuchende sind auf illegale Wege verwiesen, um den Ort des Schutzes zu erreichen. Wo es an legalen Zugangswegen für Asylsuchende fehlt, kann es nur noch illegale MigrantInnen geben.
Das Dilemma wird deutlich an den Abfangmaßnahmen auf See. In den Booten, die sich Richtung Europa aufmachen, finden sich vielfach MigrantInnen, die zum Zwecke der illegalen Arbeit nach Europa kommen. Ebenso finden sich aber auch solche, die nach internationalem Recht schutzbedürftig sind. Werden diese abgewehrt, so wird ihr Anspruch auf Schutz vereitelt. Deshalb stehen die Maßnahmen auf See im Fokus der Kritik.
Unter Frontex-Koordination kontrollieren die Mitgliedstaaten der EU nicht nur ihre eigenen Küstengewässer. Sie kreuzen auch in der Anschlusszone und auf Hoher See, also in Gewässern, die zu keinem Staatsgebiet gehören. Ebenso befahren sie die Gewässer afrikanischer Küstenstaaten, die meist Transitstaaten für MigrantInnen und Flüchtlinge sind, die sich Richtung EU aufmachen. Hier führen europäische Grenzschützer sogenannte Abfangmaßnahmen durch: MigrantInnen werden daran gehindert, den Weg nach Europa fortzusetzen oder überhaupt erst aufzunehmen. Oftmals werden sie schon in den Küstengewässern afrikanischer Küstenstaaten an der Weiterfahrt in Richtung Europa gehindert. Und so schließen sich die Tore Europas für viele Asylsuchende bereits kurz vor Afrikas Küste.
Grenzkontrollen auf See
Seit 2004 gerieten die Grenzkontrollen auf See immer stärker in den Blick der kritischen Öffentlichkeit. Das Bundesinnenministerium (BMI) reagierte 2006 mit einer These, die die Diskussion erst richtig anfachen sollte: Das Refoulement-Verbot sollte dem BMI zufolge erst an der Grenze und im Landesinnern gelten. Folgte man dem, wären Anschlusszone und die Hohe See ein menschenrechtsfreier Raum. Europäische Grenzschutzbeamte wären hier nicht mehr an die Refoulement-Verbote gebunden. Menschenrechtsorganisationen, Rechtswissenschaftler und die im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien reagierten mit Gutachten, Stellungnahmen und Kleinen Anfragen, um die vom BMI geäußerte Ansicht zu widerlegen. (vgl. Fischer-Lescano et al., 2009)
Parallel dazu wurden auf europäischer Ebene Gespräche begonnen, um Richtlinien zum Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen auf See bei Frontex-Einsätzen zu erstellen. Im April 2010 wurden sie im Rat verabschiedet. In ihnen kommt eine Abkehr von der ursprünglich restriktiven Sicht des BMI zum Ausdruck – die erstaunlicher Weise bei den Verhandlungen vom BMI, eigenen Angaben zufolge, selbst vorangetrieben worden ist. Nunmehr stellen die Richtlinien klar, dass der Grundsatz des Non-Refoulement unabhängig vom Ort des Geschehens bei allen Einsätzen gilt und Flüchtlinge, die an Bord genommen wurden, nicht an Orte ausgeschifft werden dürfen, an denen ihnen Verfolgung oder die Weiterschiebung in Drittländer, in denen verfolgt wird, droht.
Was folgt darüber hinaus aus der in den Richtlinien enthaltenen umfassenden Anerkennung der exterritorialen Geltung des Refoulement-Verbotes? Zum einen dürfen Boote nicht an der Weiterfahrt gehindert, abgedrängt, zurückeskortiert oder zurückgeschleppt werden, wenn sich auch Asylsuchende an Bord befinden. Zum anderen gilt es zu bedenken, dass Asylsuchende nur geschützt werden können, wenn sie ihre Anträge in einem rechtsstaatlichen Verfahren vorbringen können und die Möglichkeit haben, ablehnende Bescheide in einem Gerichtsverfahren angreifen zu können. Hier sollten Grenzschutzbeamte beachten, dass solche Bedingungen weder auf Schiffen noch in den afrikanischen Transitstaaten gegeben sind. Was folgt daraus? Nehmen europäische Grenzschützer MigrantInnen an Bord, die Asyl beantragen wollen, müssen sie auf das Staatsgebiet eines EU-Mitgliedstaates gebracht werden, um dort ein Asylverfahren durchführen zu kön-nen.
Regionalisierung des Flüchtlingsschutzes
2005 erregten Vorschläge Deutschlands, Dänemarks und des Vereinigten Königreiches europa-weit Aufsehen. Der Flüchtlingsschutz sollte ausgelagert werden. In Afrika sollten so genannte Transit Processing Centres eingerichtet werden, um Asylanträge zu prüfen. Das Unterfangen wurde mit einem humanitären Ansatz beworben: So könne verhindert werden, dass Asylsuchende den lebensgefährlichen Weg über das Meer auf sich nähmen. Doch wiesen die Ansätze mehrere Merkmale auf, die sich weit weniger humanitär darstellten. Über Asylanträge sollte in be-schleunigten Verfahren entschieden werden, ohne dass Rechtsschutzmöglichkeiten gegen ablehnende Bescheide vorgesehen waren – und wer in einem solchen Verfahren abgelehnt würde, sollte, auch wenn er es auf eigene Faust in die Europäische Union schaffen würde, auf EU-Territorium von jeglichen weiteren Verfahren ausgeschlossen sein. Und so wurden die völkerrechtswidrigen Vorschläge nach öffentlichen Protesten nicht weiter verfolgt.
Und doch spielt die Zusammenarbeit mit Drittstaaten in aktuellen Diskussionen eine Rolle. Das Konzept ist nunmehr ein anderes. Drittstaaten am Rande der EU sollen funktionierende Asylsysteme aufbauen. Die EU-Kommission führt derzeit mehrere Pilotprojekte durch, in denen diese Staaten dabei unterstützt werden. Eigentlich spricht nichts dagegen – wenn Asylsysteme dort aufgebaut werden, wo es vorher keine gab, ist das eine Stärkung für den Flüchtlingsschutz. Und doch droht eine Gefahr. Nämlich die, dass ein Ring schlecht funktionierender Asylsysteme vor den Rändern der Europäischen Union installiert wird, um Flüchtlinge davon abzuhalten, Schutz in der Europäischen Union zu suchen. Eben das legen Berichte aus der Ukraine nahe. Hier wird in einem Modellprojekt der Aufbau von Asylsystemen gefördert. Doch bislang berichten Men-schenrechtsorganisationen aus der Ukraine allein von dysfunktionalen Verfahren und der Miss-handlung von Flüchtlingen. Gleichzeitig ist eine Weiterwanderung in die EU schwer möglich, weil parallel die Kontrollen der Außengrenzen unter Frontex-Koordination ausgeweitet werden. So hat das Projekt zweifelhaften Alibi-Charakter und dient als Legitimation der gleichzeitigen Abschottung an den Ostgrenzen. Echter Flüchtlingsschutz sieht anders aus.
Schutz statt Abwehr – Legale Zugangswege nach Europa eröffnen
Die oben angesprochenen Leitlinien für Frontex-Einsätze sind ein erster Fortschritt. Doch es kann nicht dabei bleiben, dass Asylsuchende gefährliche, illegale Wege auf sich nehmen, um das völkerrechtliche Versprechen auf Schutz einzulösen. Deshalb gehört zum einen die restriktive europäische Visa-Politik auf den Prüfstand.
Zum anderen muss über so genannte Schutz-Visa diskutiert werden. Dabei geht es um Verfahren, mit denen in Auslandsvertretungen ein Visum beantragt werden kann, um in einen potentiellen Aufnahmestaat einzureisen und dort ein Asylverfahren zu beantragen. Die verfahrensrechtlichen Details müssen genau abgestimmt werden, damit es nicht zu einer rechtsstaatlich bedenklichen Auslagerung des Flüchtlingsschutzes kommt. Und dennoch, einige Staaten praktizieren solche Verfahren bereits – dies könnte ein Schritt sein, um das oben aufgezeigte Dilemma aufzulö-sen.
Zuletzt muss die Bundesregierung Resettlement-Programme aufbauen. Es handelt sich hierbei um institutionalisierte Wiederansiedlungsprogramme. Staaten verpflichten sich gegenüber dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen, in Zusammenarbeit mit diesem jährliche Quoten von Flüchtlingen aus dem Ausland aufzunehmen. Das Besondere ist, dass diese Flüchtlinge im Ausland selbst abgeholt und in den Aufnahmestaat gebracht werden. Dabei geht es um besonders schutzbedürftige Personen, die aus ihrem Herkunftsstaat geflohen und in einem ersten Aufnahmestaat gestrandet sein müssen, in dem sie keinerlei Perspektive haben. Das kann der Fall sein, wenn der Erstaufnahmestaat kein Asylsystem hat oder wenn die Betroffenen auch dort zu verfolgten oder marginalisierten Minderheiten gehören. Schlösse Deutschland sich einem solchen Programm an, würde es einem europäischen Trend folgen. Denn im Schengen-Raum führen bereits Dänemark, Frankreich, Irland, Island, die Niederlande, Schweden und das Vereinigte Königreich solche Programme durch.
All das würde eines voraussetzen: Die Mitgliedstaaten müssten sich wieder in Erinnerung rufen, dass es um den Schutz, nicht um die Abwehr von Flüchtlingen geht. Wer die Debatten über Flüchtlingspolitik verfolgt, gewinnt hingegen den Eindruck, dass es oftmals eher umgekehrt ist – Abwehr, nicht Schutz scheint im Vordergrund zu stehen. Das beschriebene europäische Visa- und Grenzregime steht beispielhaft dafür. Auch in Deutschland ist die Diskussion seit der Debat-te ums Asylrecht in den 1990er Jahren vor allem von Misstrauen geprägt – Misstrauen, dass Asylantragsteller sich Zugang zu Sozialsystemen erschleichen wollten, Misstrauen, dass generösere Gesetze weitere Flüchtlinge anziehen würden, Misstrauen, dass Antragsteller nicht die Wahrheit sagen. All dies schafft ein Klima der Abwehr, das viel zu oft Schutz für die vereitelt, die ihn dringend benötigen. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten stehen in der Pflicht, das zu ändern.
Endnoten
(1) Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999, abge-druckt in: Europäische Asylpolitik, Verlag Österreich: Wien 2003, Rn. 13.
(2) Rats-Dok. Nr. 13440/08 vom 24. September 2008, S. 11.
Literatur
Tillmann Löhr, Schutz statt Abwehr – für ein Europa des Asyls, Wagenbach, Berlin 2010.
Fischer-Lescano/Löhr/Tohidipur, Border Controls at Sea: Requirements under International Human Rights and Refugee Law, in: IJRL 21 (2009), S. 256 – 296.
Dr. Tillmann Löhr, Jurist, arbeitet als Referent im Deutschen Bundestag. Während des Referendariats arbeitete er beim Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen. Anschließend promovierte er an der Universität Frankfurt a.M. über Kinderflüchtlinge.