Was wird unter Integration verstanden? Über diffuse Begriffe und populistische Stimmungsmacherei

von Kamuran Sezer

Thilo Sarrazin, der mit seinem Buch für heftige Kontroversen in Deutschland gesorgt hat, führt an, dass Türken und Araber, die nach Deutschland eingewandert sind, schlechter integriert seien als osteuropäische und asiatische Einwanderer. Die empirischen Daten über die in Deutschland lebenden MigrantInnen lassen aber eine solche Wertaussage nicht zu. Denn hierfür müsste man wissen, was unter Integration eigentlich verstanden wird.

Wenn ich Ihnen die Frage stellen würde, woran Sie ein Quadrat erkennen, fällt Ihnen die Antwort möglicherweise leicht. Bereits in der Schule hat man gelernt, dass ein Quadrat eine geometrische Form darstellt, die durch Merkmale wie gleichseitig, gleichwinklig, drehsymmetrisch usw. erkannt werden kann. Der Empiriker unter Ihnen würde im Zweifel einen Geodreieck hervorholen, um mit diesem zu überprüfen, ob die besagte geometrische Form alle objektiven Merkmale eines Quadrats erfüllt.

Schwieriger ist hingegen die Frage zu beantworten, woran man eine erfolgreich integrierte Person mit Migrationshintergrund erkennen kann. Je nach Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund, Einkommen usw. fallen die Antworten auf diese Frage sehr unterschiedlich aus. Sie wären genauso individuell und vielfältig wie die Menschen in unserer Gesellschaft.

Im Gegensatz zum Quadrat existiert vor allem in Deutschland keine allgemeingültige und anerkannte Definition für Integration. Dies ist nicht nur ein Makel in der deutschen Integrationspolitik sondern ihr zentrales Problem, das die in der Öffentlichkeit geführten Debatten kompliziert macht und willkürlich wirken lässt. Jeder, der sich in der Integrationsdebatte zu Wort meldet, hat irgendwo und irgendwie Recht. 

Es gibt in Deutschland lediglich eine Übereinkunft über den kleinsten gemeinsamen Nenner, was erfolgreiche Integration auszeichnet. Demnach ist ein Migrant oder eine Migrantin erfolgreich integriert, wenn er oder sie die deutsche Sprache beherrscht, einen Bildungsabschluss besitzt und erwerbstätig ist. Ein solcher Integrationsbegriff ist aber äußerst problematisch. Wendet man ihn an, so müsste auch über Mohammed Atta, einer der Todespiloten vom 11. September, als integriert beurteilt werden. Er beherrschte die deutsche Sprache sehr gut. So gut sogar, dass er in Deutschland einen akademischen Abschluss erlangte. Eine solche Operationalisierung, also die Messbarmachung des Integrationserfolgs birgt außerdem eine geringe Aussagekraft und ist im Hinblick auf die gesellschaftspolitische Steuerung dieses politischen Handlungsfeldes wenig praktikabel.

Wendet man die Schablone dieses Integrationsbegriffs beispielsweise auf meine Eltern an, würden sie als schlecht integriert gelten. Sie haben höchstens die Grundschule absolviert und beherrschen kaum bis gar nicht die deutsche Sprache. Wie kann es dann sein, dass alle ihre Söhne eine Ausbildung abgeschlossen haben, die deutsche Sprache sehr gut beherrschen und erwerbstätig sind!?

Die Familie eines sehr guten Freundes von mir weist eine ähnliche Entwicklung auf. Sein Vater ist als Gastarbeiter nach Deutschland eingewandert. Seine Mutter ist Hausfrau. Während seiner Ausbildung holte der Freund sein Abitur nach, um Jahre später sein BWL-Studium mit Bestnoten abzuschließen. Ich kenne auch einige türkische Familien, die alle Kriterien des Integrationsbegriffs erfüllen. Im perfekten Deutsch werden aber antisemitische Positionen vertreten oder in nationalistisch gefärbten Tönen die strikte Assimilierungspolitik von ethnischen Minderheiten in der Türkei gefordert.

Als Analytiker beobachte ich die unterschiedlichen und vielfältigen Lebenskonzepte in unserer Gesellschaft. Der Versuch aber, die im Alltag repräsentierten Lebenskonzepte von MigrantInnen anhand der oben erwähnten Kriterien für ihre tatsächliche Integration einzuordnen und zu kategorisieren, ist zum Scheitern verurteilt. Es funktioniert nicht!

Mit anderen Worten: In Bezug auf die praktische Integrationsarbeitet bietet ein solcher Integrations-Begriff so viel Erkenntnis- und Nutzwert wie die Aussage, dass Nahrungsaufnahme sowohl wichtig für den Körper ist als auch Übergewicht verursachen kann. Integration muss offensichtlich mehr sein als die Beherrschung der deutschen Sprache, der Besitz eines Bildungsabschlusses und Erwerbstätigkeit.

Wie man sich mit Rankings verrenken kann
Es gibt in Deutschland einige Quellen mit empirischen Daten, die die Lebens-, Bildungs- und Arbeitsmarktlage von MigrantInnen statistisch erfassen. Eine zentrale Quelle ist der Mikrozensus. 2005 wurde erstmals auch der Migrationshintergrund der Bevölkerung erhoben. Seitdem wissen wir, dass fast jeder Fünfte einen Migrationshintergrund hat. Auch das Ausländerzentralregister ist eine solche Quelle für Forschung und Politik. Der Sozioökonomische Panel oder die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, der Integrationsbericht der Bundesregierung und der Integrationsbarometer des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Migration und Integration zählen zu diesen wichtigen Quellen. Sie alle lassen aber keine Wertaussage a la Sarrazin zu, dass eine Migrantengruppe besser integriert sei als eine andere.

Wie man mit dem Versuch scheitern kann, anhand des Mikrozensus‘ eine vergleichende Wertaussage über den Integrationserfolg von MigrantInnen zu treffen, demonstrierte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung im Januar 2009. In seiner Studie „Ungenutzte Potenziale – Zur Lage der Integration in Deutschland“ haben die AutorInnen die Daten aus dem Mikrozensus ausgewertet, um den Integrationserfolg von Migrantengruppen zu messen und – noch merkwürdiger – diesen Erfolg in ein Ranking zu pressen. Die vielfache Kritik an der Studie durch das Fachpublikum war berechtigt. Ihr seichtes Driften an den Rand der Integrationsdebatte ebenso. 

Das Fehlen einer Definition für Integration bestimmt die Art, wie die verfügbaren Daten gelesen werden müssen. Denn: Ohne Definition, keine Operationalisierung. Ohne Operationalisierung, keine Messung. Ohnen Messung, keine (vergleichenden) Wertaussagen.

Ein Ergebnis aus dem Mikrozensus 2005 lautet, dass 27,52 Prozent der Männer aus der Ukraine Arbeitslosengeld 1 und 2 beziehen. Damit sagt dieses Ergebnis eben nur aus, dass 27,52% dieser Männer aus dieser Community ihr Leben auf diese Weise bestreiten. Eine qualitative Aussage hinsichtlich des Integrationserfolgs lässt ein solches Ergebnis nicht zu. Solange keine Definition für Integration existiert, beschreiben solche empirischen Daten lediglich einen IST-Zustand. Sie bieten aber keinen Raum für qualitative Interpretationen zum (Miß-) Erfolg von Integration.

Um aufbauend auf den vorliegenden empirischen Datenmaterialien eine Wertaussage formulieren zu können, wird eine anwendbare und praktikable Definition von Integration als Norm bzw. als normative Referenz benötigt um anhand der beobachtbaren und messbaren Abweichung zur Norm urteilen zu können, ob einE MigrantIn bzw. eine Migrantengruppe integriert ist oder nicht.

Solche normativen Referenzen und Normen existieren bereits in anderen gesellschaftspolitischen Handlungsfeldern. Eine Vollbeschäftigung existiert, wenn eine Arbeitslosenquote niedriger als 3% beobachtet werden kann. Ein anderes Beispiel ist die Definition der Armutsgrenze. Hier gibt es keine bundesweit einheitliche Definition, da die Lebenshaltungskosten je nach Region in Deutschland sich unterscheiden. So wird zwischen Städten und ländlichen Gebieten aber auch zwischen Ost- und Westdeutschland unterschieden. Dabei handelt es sich nicht um ein zeitloses Fixum, sondern die Definition unterliegt einem permanenten politischen Aushandlungsprozesses.

Es ist also nicht unmöglich, solche definitorischen Grenzmarken zur Messung des angestrebten Wirkungsziels auch für die Integration zu konzipieren. Warum klappt es dann nicht!?

Der Witz ist, es klappt! Wir befinden uns inmitten eines solchen Aushandlungsprozesses, der sehr kontrovers, emotional und hitzig verläuft. Erschwerend ist, dass an diesem parteipolitische Interessen aber auch Ängste und Verunsicherungen verkittet sind. Dieser Prozess ist im vollen Gange - und das ist gut so!

Der Fortschritt ist eine Schnecke
Die Bestimmung einer solchen Norm bzw. normativen Referenz erfolgt nämlich nicht aus dem Diktat eines Obrigkeitsstaates, sondern ist in einer modernen, multipolaren und pluralistischen Gesellschaft das Ergebnis eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses. Hierzu gehören Politiker, Wissenschaftler, Lobbyisten, Medienmacher und selbstverständlich die Bürgerinnen und Bürger. Zu erwähnen ist auch das Engagement einer Stiftung wie der Heinrich-Böll-Stiftung, die im Dossier „Ethnic Monitoring – Datenerhebung mit oder über Minderheiten“ über Grenzen und Rahmenbedingungen solcher Integrationsindikatoren diskutiert.

Es wäre hilfreich und zweckdienlich, wenn der Integrationsgipfel und die Islamkonferenz der Bundesregierung rehabilitiert werden würden. Denn sie bieten politische Arenen an, in denen dieser Aushandlungsprozess effektiver stattfinden kann als der Austausch über den freien Meinungsmarkt, der auch von Profit- und Machtinteressen getrieben wird.

Solange eine praktikable Definition in der deutschen Integrationsdebatte fehlt, verwundert die weit verbreitete Meinung nicht, dass Sarrazin mit seinen Thesen irgendwo und irgendwie Recht habe. Manchmal ist es auch einfacher, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, auch wenn die empirische Realität ganz anders aussieht.

 

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Kamuran Sezer ist Sozialwissenschaftler und Gründer des futureorg Instituts, eine Denkfabrik für Integration, Migration und Ethnic Business, bekannt durch die Langzeitstudie über die türkischen Akademiker und Studierenden in Deutschland (TASD).