Kunst als öffentlicher Raum - Deutsch ist nicht die Eintrittskarte

Buchtitel "Deutsch für alle"

Gesellschaftliche Teilhabe erfolgt nicht unbedingt über das Erlernen der deutschen Sprache. Es geht auch anders. Verschiedene künstlerische Strategien erproben Alternativen für eine öffentliche Mitsprache von Migrant_innen.

Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Integration liegt - so die allgemein akzeptierte Ausfassung deutscher Integrationspolitik - im Erlernen der deutschen Sprache. Berater_innen, sogenannte „Integrationslotsen“, begleiten in speziellen Förder- und Forderprogrammen den Integrationsprozess. Direkt damit verbunden ist das Versprechen auf politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe an der deutschen Gesellschaft.

Mit dem Heranwachsen einer Generation von Kindern mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren sind, lässt sich die Einhaltung dieses politischen Versprechens überprüfen. Kritiker_innen des deutschen Integrationsdiskurses sehen in einem perfekten Deutsch jedoch keine Eintrittskarte in die deutsche Gesellschaft. Man kann eine Sprache sprechen, aber auf politischer Ebene trotzdem nicht gehört werden.

Um wirksam sprechen und somit agieren zu können, so der serbisch-österreichische Autor Ljubomir Bratic, müssen sich Migrant_innen in jenen Räumen ansiedeln, in denen das Sprechen dieser Sprache auf Resonanz stößt. Erst wenn sich migrantische Perspektiven in den politischen Entscheidungsebenen etabliert haben kann man von einer aktiven Teilhabe sprechen. Zu einer umfassenden Einschätzung der deutschen Gesellschaft ist es mittlerweile zwingend, eben solche Perspektiven mit einzubeziehen.

Aber auch positive - wenn auch noch seltene - Beispiele können genannt werden: Deutsch-türkische Unternehmer_innen und Politiker_innen zeigen wie sie die Gesellschaft aktiv mitgestalten und teilweise migrantische Themen durchfechten. Die CDU-Politikerin Aygül Özkan spricht hier von einem Signal das an einer wichtigen Stelle gesetzt werden muss. Diese wichtigen Stellen sind politischer, ökonomischer oder sozialer Natur und müssen ständig neu ausgehandelt werden, je nachdem wie sich die Gemengelage und die Kräfteverhältnisse einer Gesellschaft ändern.

Es ist das sich ständig wandelnde Ergebnis eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses, der geführt wird von Politiker_innen, Lobbyist_nnen, Medienmacher_innen und Bürger_innen, von denen mittlerweile jedeR Fünfte einen Migrationshintergrund aufweisen kann.

An diesem Diskurs beteiligen sich aber auch immer wieder Künstler_innen. In Zeiten der Globalisierung und der damit verbundenen Migration sind kulturelle Identität, Differenz und Minorität Begriffe, die im kulturellen Feld aufgegriffen und mitgestaltet werden. Normierte und verfestigte Vorstellungen von nur einer denkbaren Identität wurden schon immer von Künstler_innen hinterfragt und untergraben. Somit eröffnen Kunstwerke im besten Sinn Räume, in denen normative Annahmen in Frage gestellt werden und andere, mitunter auch ungewohnte Aussagen Platz finden. Auf künstlerischer Ebene erlangen Themen wie Migration oder Belange von Minderheiten Aufmerksamkeit, um in einem zweiten Schritt in eine politische Debatte eingespeist werden zu können.

So gibt es sowohl Künstler_innen, die auf globaler Ebene zwischen den Kulturen arbeiten oder aber solche, die kritisch nach den Lebenswirklichkeiten und normativen Werten ihres Landes fragen. Künstlerische Performances, die das „Rollenspiel“ in sich tragen, bringen darüber hinaus andere mögliche Realitäten zur Sprache.

Ai WeiWei als globaler und interkultureller Künstler

Das Werk des chinesische Künstlers Ai WeiWei reflektiert beispielsweise neue länderübergreifende und technologische Realitäten. Ai Weiwei arbeitet und denkt aus einer chinesischen Tradition heraus – seine Biografie ist davon tief geprägt. Seine Erfahrungen und Äußerungen beziehen sich jedoch sowohl auf China als auch auf den Westen. Seine künstlerische Arbeitsweise macht weder vor einem großen Spektrum an medialen Ausdruckmöglichkeiten noch vor geographischen und kulturellen Grenzen Halt. Sein Formenverständnis schöpft er aus einer jahrhundertealten chinesischen Tradition und verknüpft sie mit Themen von globaler Bedeutung.

Für die Arbeit „Sunflower Seeds“, die er 2010 in der Tate Modern zeigte, ließ er beispielsweise chinesische Arbeiter_innen mehrere Millionen Sonnenblumenkerne in Porzellan anfertigen. Allein die Arbeitsbedingungen in China ermöglichten es ihm eine solch umfangreiche Massenanfertigung in Auftrag zu geben. Gleichzeitig thematisierte er damit die Frage nach Reproduktion und Original und griff damit große kulturelle Unterschiede im westlichen und chinesischen Verständnis zu Kopie und Einzelstück auf.

Während der Westen immer wieder die Einzigartigkeit eines Kunstwerkes und die Subjektivität des Künstlers beschwört, ist das chinesische Denken eingebunden in die Vorstellung von wiederkehrenden zyklischen Ereignissen. Eine exakte Reproduktion eines beispielsweise antiken Kunstwerkes wird in China nicht als Fälschung angesehen, sondern zeugt von hoher Könnerschaft.

Immer wieder lässt Ai kulturelle Vorurteile und Vorstellungen beider Kulturkreise aufeinander prallen, so auch während derDokumenta 12 in Kassel, als er 1001 Chines_innen nach Kassel einlud. Zwar ging es hier natürlich um das kulturelle Kennenlernen, wie es der Arbeit übergreifend in den Medien attestiert wurde, trotzdem könnte man darüber hinaus annehmen, dass Ai hintersinnig und humorvoll mit den Ängsten des Westens vor den „gelben Massen“ spielt, wie sie sich immer wieder in der medialen Debatten offenbart, wenn von der „Überschwemmung der Märkte durch chinesische Massenproduktion“ gesprochen wird.

Seine zahlreichen Blogs und Interviews sind demnach nicht von seinem künstlerischen Ansatz zu trennen: hier testet er die Grenzen und Regeln der Kunst aus und bedient sich neuer technischer Errungenschaften, die seine Haltung zu transparenter Öffentlichkeit und Anregung zur Verantwortungsübernahme eines jeden Einzelnen vertreten. Immer ist seine Zielrichtung grenzüberschreitend. Denn: nicht nur China hat es nötig, sich „aufklären“ zu lassen zu Demokratie und persönlicher Mitbestimmung – darüber sollten sich auch die westlichen Staaten sowie jeder westliche Bürger bewusst werden. Ai Weiwei kratzt sowohl an der westlichen Arroganz, sich anderen Kulturen überlegen zu fühlen, als auch an der chinesischen Staatshaltung, alles zu unterdrücken, das dem Mehrheitswillen entgegensteht.

Ländertypische Normen und Werte aus künstlerischer Sicht

Anders als Ai beschäftigen sich einige Künstler_innen eher ausschließlich mit den Wertvorstellungen ihres Heimat- oder Gastlandes. Mit der wachsenden Zahl von legalen und illegalen Migrant_innen in die Europäische Union begann in den 90er Jahren endlich die Debatte um eine gemeinsame Integrationspolitik. Die deutsche Diskussion um Migration und Identität wurde somit in einen größeren Kontext eingebunden. Zugleich wuchs das Bewusstsein um ein gemeinsames Gefühl des Europäischseins auf Seiten der seit Jahren in europäischen Städten fest verwurzelten MigrantInnen. Auf eine längere Migrationsgeschichte blicken die USA, deren Gesicht durch die vielen Einwanderungswellen die im Laufe der Jahrhunderte gebildet wurde.

Die Videoarbeit „“N“ as in Nancy“ des amerikanischen Künstler Matt Keegan zeigt zwei Bildschirme. Auf dem einen Bildschirm spricht die Mutter des Künstlers, eine Englischlehrerin, englische Begriffe aus, die als spanische Übersetzung im Untertitel erscheinen. Die aufgesagten Begriffe sind als fotografisches Pendant auf dem zweiten Bildschirm zu sehen. Diese Fotos werden in Amerika als Karten eingesetzt, um die gelernten Wörter zu verbildlichen. Die Arbeit behandelt die implizierte Wertevermittlung der amerikanischen Leitkultur beim Sprachunterricht für Migrant_innen, wenn beispielsweise beim Begriff „Familie“ eine weiße Mittelklasse-Familie mit einem Sohn und einer Tochter glücklich beim Frühstück sitzt.

Die deutsche Kultur ist Thema der Arbeit „Lerne Deutsch mit Petra von Kant“ des aus Singapur stammenden Künstlers Ming Wong. 2007 zog er nach Berlin. Die Vorbereitungen für seinen Aufenthalt fielen besonders aus: In seiner Überzeugung, dass der beste Einblick in eine fremde Kultur über Filme zu erhalten sei, wählte er Fassbinders Film „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ als kulturellen Leitfaden für deutsche Eigenheiten. In einem zehnminütigen Video ersetzt er die Rolle der Petra von Kant, indem er ihre Texte spricht ohne ein Wort Deutsch zu können. In seiner Rolle spielt er Bewegungen und Gefühle durch, mit denen er sich als 35jähriger, schwuler und einer Minorität angehöriger Künstler für Berlin vorbereitet. Ernsthaft tastet er sich an die „deutsche Kultur“ heran und bietet dem Betrachter eine andere Perspektive auf Deutschland, indem er mit Geschlechterrollen, Homosexualität und postkolonialen Mustern spielt.

Kunst im öffentlichen Raum

Ein weiterer Schritt zu Resonanzräumen, in denen politische Forderungen formuliert werden, sind künstlerische Aktionen im öffentlichen Raum. Feridun Zaimoglus Fahneninstallation „Kanak Attack. Die dritte Türkenbelagerung“ konfrontierte 2005 die Besucher der Kunsthalle Wien mit uralten europäischen Ängsten. Durch die komplette Verkleidung der Fassade des Ausstellungsgebäudes mit 420 türkischen Flaggen wies der deutsch-türkische Autor und Künstler symbolisch und öffentlichkeitswirksam auf die Präsenz der 50.000 in Wien lebenden Mitbürger_innen mit türkischem Migrationshintergrund hin.

Dass die Aktion zu öffentlichkeitswirksamen Kontroversen führte wie beispielsweise der Slogan der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). „Wien darf nicht Istanbul werden“, wurde vom Künstler mit den Worten kommentiert: „Der Turban-Osmane während der Türkenbelagerung ist nicht irgendein Kapitel in den Geschichtsbüchern, sondern im Volksbewusstsein sehr präsent.“ Und weiter sagt er: „Insofern ist die Aktion eine Erweckung der guten und der bösen Geister. Jetzt reiben sich die Wiener die Augen und fragen sich: „Haben wir das alles getan, damit nun irgendein verrückter Deutsch-Türke daherkommt und die Insignien der feindlichen Macht aufhängt?”

Ähnlich direkt auf die politische Situation der EU geht die serbisch feministische Performancekünstlerin Tanja Ostojic in ihrer Arbeit „Looking for a Husband with EU-Passport“ ein. So machte sich das Internet zunutze, um auf die Situation der Frauen aus Südosteuropa hinzuweisen, denen die europäischen Grenzen lediglich im Falle einer Heirat mit einem EU-Bürger offen stünden. Im Jahr 2000 veröffentlichte sie im Netz ihre Arbeit, in der sie sich mit abrasierten H sich 2005 – ebenfalls in einer Performance – aaren präsentierte. Die „Annonce“ führte zu der Heirat mit einem Kölner Künstler, von dem siewieder scheiden ließ. Hier werden politische Vereinbarungen und Handlungsfelder als künstlerische Methoden eingesetzt, um auf Missstände hinzuweisen.

Nicht angepasst

Eine jüngere Künstler_innengeneration, der viele Migrant_innen angehören, hat ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft verändert und uminterpretiert und ist so exemplarisch für politische Auseinandersetzungen mit einer Mehrheitsgesellschaft, die sich den neuen Realitäten stellen muss. Kinder aus migrantischen Familien, die in Europa geboren sind und die hiesige Sprache als Muttersprache sprechen, fügen sich nicht mehr in die Rolle der assimilierten und brav integrierten Migrant_innen, sondern beteiligen sich aktiv am Diskurs um das kulturelle, politische und soziale Miteinander.

Frei im Sinne des Philosophen Ernst Cassierers stellen sie die Vorstellung einer statischen Idee und Verabsolutierung von Kultur in Frage. „Kultur ist kein einfaches Geschehen, kein ruhiger Ablauf, sondern ein Tun, das stets von neuem einsetzen muss und das seines Ziels niemals sicher ist [...] Alles was sie aufgebaut hat, droht ihr immer wieder in den Händen zu zerbrechen.“ Und so tragen die heutigen Kulturenwandler dazu bei, dass eine vermeintliche Idee von Kultur durch die neu hinzugekommenen Aspekten unseres gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Zusammenlebens ständig aufs Neue in Frage gestellt wird.

 

 Ausstellung zum Thema Migration und Sprache:

• Found in Translation, Deutsche Guggenheim Berlin, 28.1 bis 29.4.2012
• Die Notwendigkeit und die Schwierigkeit, sich über kulturelle und historische Schranken hinweg zu verständigen, ist heute ein unvermeidlicher Aspekt des Lebens.
• Yto Barrada: Riffs, Deutsche Guggenheim,15.4 bis 19.6. 2011
• Yto Barrada setzt sich in ihren Arbeiten seit über einem Jahrzehnt intensiv mit den politischen Realitäten in Nordafrika auseinander. Sie thematisiert die zentralen Fragen der globalen Gesellschaft
• Heimatkunde. 30 Künstler blicken auf Deutschland, Jüdisches Museum Berlin,16.9. 2011 bis 29.1. 2012
• Die Ausstellung geht der Frage nach, wie diese Gesellschaft nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und dem Eingeständnis Deutschlands, ein Staat mit heterogener Bevölkerung zu sein, kollektive Selbstvergewisserung definiert.
• Quartier für Vielflieger, 29.8 bis 12.9.2010, Kreuzberg Museum, Berlin
• Die türkische Künstlerin Secil Yaylali baute mit Kreuzberger Kindern Nistkästen für Zugvögel - als Zeichen der Gastfreundschaft und um Verständnis für Menschen zu wecken, die an mehreren Orten Zuhause sind.

 

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Su-Ran Sichling studierte Kunst an der Hochschule für Bildende Künste. Bis 2012 ist sie Meisterschülerin bei Professor Martin Honert. Im Moment studiert sie Kulturjournalismus in einem Masterstudiengang der Universität der Künste Berlin.