Diversität respektieren, Diskriminierung widerstehen - Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung im Rahmen von KINDERWELTEN

"Expert_innen erzwingen Eindeutigkeit" Illustration aus dem Buch "machtWorte!"

 

von Petra Wagner

Im Unterschied zur Schule haben Kindertageseinrichtungen oder Kindergärten in Deutschland eine längere Geschichte im Umgang mit Heterogenität. Der Zwang zur Homogenisierung, der Schüler_innen nach Leistung selektiert, entspricht einem Bewegungsgesetz der Schule, das im Kindergarten zwar kurz vor der Einschulung der Kinder spürbar wird, ihn aber traditionellerweise nicht durchdringt. Dennoch bedeutet dies nicht automatisch, dass sich im Kindergarten eine reflektierte Kultur der Wertschätzung von Unterschieden entwickelt hat.

„Automatisch“ setzt sich eher die dominante Kultur der gesellschaftlichen Mehrheit durch. Weil in ungleichen Machtverhältnissen ohne bewusste Steuerung das Zusammensein von Menschen mit unterschiedlichen Familien- und Kommunikationskulturen mit großer Wahrscheinlichkeit die herrschenden Machtverhältnisse reproduziert. Zu der alle beitragen, die Dominanten wie die Unterdrückten. Ohne sich dessen bewusst zu sein.

Begegnungen mit dem Anti-Bias Approach aus Kalifornien

Es war Ende der neunziger Jahre, als uns diese These verblüffte. Wir waren eine Gruppe von Aktiven in der interkulturellen Frühpädagogik und beschäftigten uns mit dem Anti-Bias-Approach für die Arbeit mit jungen Kindern, der über eine Stiftung in den Niederlanden (Bernard van Leer Foundation) den Weg aus Kalifornien zu uns gefunden hatte. Mit Blick auf unsere langjährigen Erfahrungen mit gemischten Kindergruppen in Kitas konnten wir dieser These nur zustimmen: Tatsächlich, die Zusammensetzung alleine war es nicht, die den Unterschied im Lernklima einer Gruppe ausmachte. Und das, obwohl seit Jahren mit Inbrunst die Rede vom „idealen Mischungsverhältnis“ war!

Dass die Frage nach dem Umgang mit Verschiedenheit konsequent mit Machtfragen zu verknüpfen sei, war eine unserer ersten Lektionen aus der Begegnung mit dem Anti-Bias-Approach. Eine weitere war, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse auch in der Kita wirksam sind, über institutionelle Strukturen wie auch über die Personen, die hier tätig sind und ihre Verinnerlichung von Dominanz- und Unterdrückungsverhältnissen mit sich herumtragen. Die Aussage war: Niemand agiert außerhalb der Verhältnisse, jede und jeder von uns erhält sie aufrecht über unser Funktionieren in ihnen. Dies aufzudecken und zu verstehen, worin unsere Verstricktheit in die Aufrechterhaltung von ungleichen Machtverhältnissen besteht, ist eine Anforderung an uns alle. Eine Aufgabe, die schwierig und unangenehm zugleich ist: Was selbstverständliche Basis des eigenen Denkens und Handelns ist, versteht sich ja von selbst und ist zunächst als Erkenntnisgegenstand nicht zugänglich. Es bedarf einer bewussten Anstrengung, häufig eines starken Impulses von außen, um das zu hinterfragen, was „normal“ und nicht weiter erklärungsbedürftig erscheint. Tut man das, so ist die Erkenntnis, Teil von Ungleichverhältnissen zu sein, deren negative Implikationen man eigentlich ablehnt, häufig verbunden mit starken Gefühlen von Schuld und Scham, die sich wiederum „mildern“ lassen mit Rechtfertigungsstrategien und Schuldzuweisungen an andere. Auch diese gehören zum Repertoire an Erkenntnis- und Verantwortungsabwehr, das aufgedeckt werden muss.

Ein langer Weg der Auseinandersetzung

Im Anti-Bias-Ansatz wird zugestanden, dass diese Aufdeckungsarbeit mühsam ist, langwierig und nur mit anderen zusammen gelingen kann, denn nur in der Konfrontation mit anderen Sichtweisen verliert sich das Selbstverständliche der eigenen und wird analysierbar als eine unter anderen. Etwas offenzulegen, was üblicherweise ignoriert oder verdeckt wird, ist außerdem mit Anfechtungen verbunden, denen man am ehesten mit Unterstützung anderer die Stirn bieten kann, einer „support group“, wie uns Louise Derman-Sparks, die Mitbegründerin des Anti-Bias-Approach, dringend empfahl. Ihre Empfehlung war verknüpft mit ihrem Bild von der Anti-Bias-Arbeit als einer nicht endenden Reise:    

„Anti-Bias-Arbeit ist wie eine lebenslange Reise, die in uns selbst beginnt. Sie verläuft auf zahlreichen Pfaden und keiner dieser Pfade ist gerade oder bequem. Wir können damit rechnen, auf Hindernisse und Fallen zu stoßen und hin und wieder festzustellen, dass wir in die falsche Richtung gehen. Dann müssen wir einen neuen Weg ausprobieren. Anti-Bias-Arbeit ist verbunden mit Verwirrung, mit Konflikten und Schmerz und fast jede und jeder denkt an einem bestimmten Punkt daran aufzugeben. (…) Es ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis, dass wir die Anti-Bias-Reise nicht alleine unternehmen können. Wir müssen den Weg gemeinsam mit anderen gehen, die unsere Träume von einer gerechten Welt teilen. Wir müssen voneinander lernen, gemeinsam Strategien entwickeln und uns gegenseitig emotionale Unterstützung geben.“ (in Preissing/ Wagner 2003, 10).

Die persönlichen Begegnungen mit Louise Derman-Sparks haben wir als Unterstützung und Bestärkung erlebt. Wieder waren wir erstaunt: Unsere spontane Neigung, auch die Auseinandersetzung mit Dominanz und Unterdrückung in ein Bewertungssystem einzufügen, wonach manche eben „weiter“ sind auf dem Anti-Bias-Weg und andere eben noch „hintendran“ und „weniger bewusst“, lief in der Begegnung mit Louise Derman-Sparks ins Leere. Da war nichts von Überlegenheit oder Überheblichkeit im Auftreten, sondern ein Interesse an dem gemeinsamen Aufdecken von Einseitigkeiten, an hierarchiekritischer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit anderen. Und ein Anerkennen, dass jede und jeder von seinem Ausgangspunkt aus in diese Auseinandersetzung einsteigt, die nicht linear verläuft und daher auch nicht verbissen oder rechthaberisch geführt werden sollte, sondern mit Geduld und Humor:

„Anti-Bias-Arbeit erfordert Engagement, Mut, Geduld und Beharrlichkeit. Sie erfordert auch, dass wir die Entwicklungsdynamik persönlicher Wachstumsprozesse anerkennen und dass wir den vielen Höhen und Tiefen mit Humor begegnen.“ (ebd.)

Im Vordergrund stand die Einladung, an der Lerngemeinschaft teilzuhaben, in der es mit den Worten von Louise Derman-Sparks darum gehe, „gleichzeitig kritisch und freundlich“ zu sein, mit sich und mit anderen, bestärkt durch Gleichgesinnte auf internationaler Ebene. (1)

Dabei geht es ausdrücklich nicht nur um die Anerkennung von Diversität, sondern gleichzeitig um das Sich-Positionieren gegen Unrecht und Diskriminierung. Man müsse, so Louise Derman-Sparks, die Spannung zwischen dem "Respektieren von Unterschieden" und dem "Nicht-Akzeptieren von Vorstellungen und Handlungen, die unfair sind" wahrnehmen und kreativ austragen (Derman-Sparks/ A.B.C. Task Force 1989, X).

Vom Anti-Bias-Approach zum Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung

Der Anti-Bias-Approach als pädagogischer Ansatz für Bildungsgerechtigkeit und Inklusion hat seine Wurzeln in der US-amerikanischen „social justice“ Bewegung, die für Bürgerrechte und gegen Diskriminierung einsteht, insbesondere gegen rassistische Diskriminierung. Die Adaption des Anti-Bias-Approach auf Verhältnisse in Deutschland im Rahmen von mehrjährigen KINDERWELTEN-Projekten bestand zunächst darin, den Ansatz zu verstehen und zu übersetzen.

Neben einer überzeugenden theoretischen Fundierung sowie einer klaren Werteorientierung im Leitbild, die sich orientiert an den Menschenrechten und an der UN-Kinderrechtskonvention, besticht der Anti-Bias-Approach durch seine Praxisorientierung. Es bleibt nicht bei vollmundigen Absichtserklärungen, die in zahlreichen Pädagogik-Publikationen zu finden sind und derer Erzieher_innen inzwischen zu Recht überdrüssig sind. Im Anti-Bias-Approach sind es gut durchdachte Ziele und elaborierte Prinzipien, die einen Prozess der Praxisentwicklung strukturieren. Sie sind klar und orientierend und lassen gleichzeitig Raum, um sie auf den jeweiligen Kontext zu beziehen und mit praktischen Schritten zu realisieren, die hierfür passen.

Die vier Ziele

Der Ansatz bezieht alle Vielfaltsaspekte ein, die im Leben von Kindern bedeutsam sind und orientiert auf vier Ziele (vgl. Derman-Sparks/ Olsen 2010):

Ziel 1: Alle Kinder in ihren Identitäten stärken
Jedes Kind findet Anerkennung und Wertschätzung, als Individuum und als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe. Dazu gehören Selbstvertrauen und ein Wissen um seinen eigenen Hintergrund.

Ziel 2: Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen
Auf der Basis einer gestärkten Ich- und Bezugsgruppen-Identität wird Kindern ermöglicht, aktiv und bewusst Erfahrungen mit Menschen zu machen, die anders aussehen und sich anders verhalten als sie selbst, so dass sie sich mit ihnen wohl fühlen und Empathie entwickeln können.

Ziel 3: Kritisches Denken über Gerechtigkeit und Fairness anregen
Das kritische Denken von Kindern über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierung anzuregen heißt auch, mit ihnen eine Sprache zu entwickeln, um sich darüber verständigen zu können, was fair und was unfair ist.

Ziel 4: Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung.
Kritisch denkende Kinder werden ermutigt, sich aktiv und gemeinsam mit anderen für Gerechtigkeit einzusetzen und sich gegen einseitige oder diskriminierende Verhaltensweisen zur Wehr zu setzen, die gegen sie selbst oder gegen andere gerichtet sind.  

Die Ziele bauen aufeinander auf. Sie setzen an Alltagserfahrungen von Kindern und Familien an und realisieren sich im Alltag. Anti-Bias-Arbeit ist „wie eine Linse, durch welche alle Interaktionen, Lehrmaterialien, Aktivitäten geplant und betrachtet werden müssen“ (Derman-Sparks 2001, 15). Sie setzt auf einen langfristigen Prozess der nachhaltigen Veränderung, am besten, indem sich ein ganzes Team einer Einrichtung dazu verpflichtet. Damit verbindet der Ansatz individuelles und organisationales Lernen und trägt der Erkenntnis Rechnung, dass individuelles Lernen nicht automatisch Veränderungen in einer Institution bewirkt und dass andererseits gemeinsames Lernen zu Synergien führen kann, die bessere Ergebnisse hervorbringen als die Addierung der Leistungen Einzelner.

Der Anti-Bias-Ansatz ist ein Konzept der Praxisentwicklung von Einrichtungen mit Kindern ab zwei Jahren. Er wurde entwickelt für „early childhood settings“ und beansprucht, in diesem Praxisfeld wirksam zu sein (2).  Er geht davon aus, dass die Auseinandersetzung mit Biases (= Einseitigkeiten) und Diskriminierung zunächst von den Erwachsenen, allen voran pädagogischen Fachkräften, zu führen ist. Sie tragen Verantwortung für eine Lernumwelt, die gesellschaftliche Abwertung und Ausgrenzung nicht affirmiert, sondern diese hinterfragt und herausfordert. Sie sind aufgefordert, ihren Umgang mit Unterschieden kritisch zu reflektieren und für Einseitigkeiten, Vorurteile, Diskriminierung und deren Folgen sensibler zu werden. Die Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften ist der Bereich, in dem der Ansatz vermittelt wird. Das Konzept der Aus- und Fortbildung sieht neben der Wissensvermittlung zu Diversität und Diskriminierung die kritische Selbstreflexion im Zusammenhang mit der Reflexion pädagogischer Praxis vor (vgl. Derman-Sparks/Phillips 1997).

Solche Sensibilisierungs-Workshops sind kein Selbstzweck. Sie begleiten die Entwicklung einer Anti-Bias Praxis mit jungen Kindern. Damit unterscheidet sich der Ansatz wesentlich von Diversity-Trainings, die nicht auf eine bestimmte Zielgruppe und auf die Qualitätsentwicklung eines bestimmten Praxisfeldes ausgerichtet sind. Er unterscheidet sich darin auch von der Anti-Bias-Arbeit, die von Kalifornien über Südafrika den Weg nach Deutschland gefunden hat. Sie wird insbesondere von der Anti-Bias-Werkstatt in Oldenburg vertreten, die Ziel Fortbildungen für unterschiedliche Zielgruppen anbietet. Sie verknüpfen politische Bildung mit Selbsterfahrung, eine systematische Praxisentwicklung wie im Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung wird nicht angestrebt:

„Ziel der Anti-Bias-Arbeit ist die intensive erfahrungsorientierte Auseinandersetzung mit Macht und Diskriminierung sowie die Entwicklung alternativer Handlungsansätze zu unterdrückenden und diskriminierenden Kommunikations- und Interaktionsformen.“ ( Zugriff am 3.6.2012).

Die KINDERWELTEN-Projekte

In drei mehrjährigen KINDERWELTEN-Projekten wurde der Anti-Bias-Approach für die Arbeit mit jungen Kindern nach Louise Derman Sparks bundesweit in Kitas implementiert. Zunächst vier Berliner Pilotkitas, dann dreißig Kitas in drei verschiedenen Bundesländern, dann Kitas, Grundschulen und Erzieherfachschulen in acht Regionen arbeiteten mit fachlicher Begleitung jeweils zweieinhalb bis drei Jahre daran, ihre Praxis nach dem Motto „Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen“ zu reflektieren und zu verändern. Die Systematik war vorgegeben über die vier Ziele des Anti-Bias-Approach, konkretisiert für vier Handlungsfelder in der Kita (Lernumgebung, Interaktion mit Kindern, Zusammenarbeit mit Eltern, Zusammenarbeit im Team) und wurde mit den Jahren weiterentwickelt zu einem Qualitäts-Handbuch, das ein Instrument für Interne Evaluationen bereitstellt.

Eine Form der Aneignung des Anti-Bias Approach bestand auch darin, eine deutsche Bezeichnung dafür zu finden. Nach einigem Hin und Her einigten wir uns darauf, unsere Adaption „Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung“ zu nennen. Der Ansatz umfasst die systematische Praxisentwicklung in Kitas auf der Grundlage des „Qualitätshandbuchs zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung“ und versteht sich als Beitrag zu einer wertebezogenen Organisationsentwicklung, die auf Inklusion zielt. Mit dem Aufkommen der Fachdebatte um Inklusion bezeichnen wir den Ansatz auch als „inklusives Praxiskonzept“ für Kitas.

Nach zehnjähriger Entwicklung und Verbreitung in Projekten wird seit 2011 die Fachstelle KINDERWELTEN aufgebaut, die Expertise zum „Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung“ vorhält, in Form von Publikationen, Beratung, Fortbildungen, Veranstaltungen, Materialien, Praxisprojekten. Der Ansatz wird nachgefragt und inzwischen breit rezipiert, wohl auch in Ermangelung anderer inklusiver Praxisansätze, die ähnlich fundiert und praxiserprobt sind. Die Verbreitung hat auch Schattenseiten: Immer häufiger findet sich das Adjektiv „vorurteilsbewusst“ in Darstellungen und Projektbeschreibungen, ohne wirklich auf den Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung Bezug zu nehmen. Damit verbunden ist häufig das Anmahnen einer entsprechenden „Haltung“ bei den pädagogischen Fachkräften und Lehrer_innen – ohne dass genauer ausgeführt wird, was die Haltung kennzeichnet und wie sie zu erwerben sei.

Mit dem Anti-Bias-Approach und dem „Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung“ haben solche Verkürzungen nichts zu tun. Beide beanspruchen nicht, in erster Linie Haltungsänderungen bei Anderen zu bewirken. Beide sind im Gegenteil machtkritische Konzepte, die den Gebrauch von Macht auch in Aus- und Fortbildungssettings hinterfragen. Bei beiden geht es nicht in erster Linie um Haltungen und Einstellungen, sondern um eine pädagogische Praxis, die Kindern und Familien gerecht wird. Es sind Konzepte zur Qualitätsentwicklung und damit zur Überprüfung von pädagogischer Praxis, bei der individuelle, institutionelle und gesellschaftlich-strukturelle Einseitigkeiten aufgedeckt und verändert werden, um Kindern und Familien einen guten Lernort zu bieten, der Verschiedenheit wertschätzt und Ausgrenzung auf Grund von Identitätsmerkmalen nicht erlaubt. Damit verbunden sind konkrete Anstrengungen und langfristiges Engagement. Zeit und fachliche Ressourcen müssen investiert werden, Routinen und Redeweisen müssen auf den Prüfstand, mit Widerspruch und Widerstand muss gerechnet werden. In diesem Verständnis bezeichnet das Adjektiv „vorurteilsbewusst“ nicht einfach eine Qualitätstendenz, sondern eine systematische Praxisentwicklung, mit der konkrete und kollektive Arbeit im Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz verbunden ist. 

Soziale Identitäten und institutionelle Vor- und Nachteile

Eine Besonderheit des Anti-Bias-Approach im Unterschied zu zielgruppenunspezifischen Ansätzen ist seine entwicklungspsychologische Fundierung (3): Es wird danach gefragt, wie junge Kinder in gesellschaftlichen Verhältnissen aufwachsen, die von Ungleichheit und Diskriminierung gekennzeichnet sind und welche Auswirkungen dies auf ihr Selbstbild und auf ihre Vorstellungen über andere Menschen hat. Unterschiede zwischen Kindern sind damit nicht reduziert auf individuelle Besonderheiten im Sinne von Neigungen oder Befindlichkeiten, sondern verbunden mit ihren sozialen Zugehörigkeiten, die bereits früh wesentlicher Teil ihrer Identitäten sind:

„Menschen haben viele Identitäten: Ihre Identitäten als Familienmitglieder (Mutter, Enkel, Tante), ihre Identität als arbeitender Mensch (Erzieherin, Lehrer, Schriftstellerin), ihre Identifikationen mit bestimmten Talenten und Interessen (als Joggerin, Tänzer, Künstlerin, Musiker). Sie identifizieren sich mit bestimmten persönlichen Charakteristika (gesprächig, versorgend, guter Student) und mit körperlichen Besonderheiten (behindert/beeinträchtigt, stark, attraktiv). All dies gehört auch zu den Identitäten eines Kindes. In der Anti-Bias Arbeit achten wir auf soziale Identitäten im Sinne von Gruppenidentitäten. Sie haben einen Einfluss auf jedes Mitglied der Gruppe und sind mit strukturellen oder institutionalisierten Vorteilen oder Nachteilen verbunden. Die Gruppenidentitäten der Erzieherinnen und Erzieher und die der Familien haben außerdem einen Einfluss darauf, welche Aspekte und Ziele der Anti-Bias-Arbeit sie für besonders wichtig und bedeutsam halten. Die Gruppenidentitäten, die für Anti-Bias Arbeit besonders bedeutsam sind, beziehen sich auf: ethnische Herkunft, Familienkultur, Hautfarbe, sozialer Status, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Behinderung/ Beeinträchtigung.“ (Derman-Sparks in Wagner 2008, 241)

Junge Kinder und Vorurteile

Kinder lernen aktiv und beobachten aufmerksam, was sich um sie herum ereignet. Gerade Unterschiede zwischen Menschen machen sie neugierig, und sie haben früh ihre eigenen Theorien darüber, wie solche Unterschiede entstehen. Sie entnehmen ihrer Umwelt permanent Botschaften, unmittelbaren Vorurteilen genauso wie unbewussten Mitteilungen. Auch all das, was in ihrer Umgebung unsichtbar bleibt, hat eine Bedeutung für sie. Sichtbares und Unsichtbares gibt ihnen Aufschluss darüber, wie wichtig etwas ist. Botschaften entnehmen sie nicht nur ihrem häuslichen Erfahrungsfeld. Sie sind überall mit stereotypen Bildern konfrontiert: in Bilderbüchern, Filmen, auf T-Shirts usw. Sobald Kinder unterscheiden können, erfahren sie auch, dass Unterschiede bewertet werden. Zunächst bezieht sich dieses auf äußere Unterschiede, auf körperliche Merkmale oder Merkmale des Aussehens. Ohne jemals direkten Kontakt zu haben, übernehmen Kinder Stereotype und Vorurteile über Menschen oder Gruppen von Menschen aus all dem, was sie zuhause und im weiteren Umfeld hören und sehen: „Man lernt Vorurteile aus dem Kontakt mit den vorherrschenden Einstellungen in einer Gesellschaft, nicht aus dem Kontakt mit Einzelnen“ (Derman-Sparks 1998, 6).

Kinder sind nicht „neutral“ als junge Lerner und Lernerinnen: Was sie sehen und hören, verarbeiten sie immer auf der Grundlage ihrer sozialen Identitäten, es gibt keinen anderen Resonanzboden. Sie ziehen ihre eigensinnigen Schlüsse daraus und zeigen zuweilen, wie die gesellschaftlichen Ungleichverhältnisse Eingang in ihre Konstruktionen von Weltwissen finden. Sie zeigen auch, dass und wie frühe Botschaften über soziale Identitäten bildungsrelevant sind, indem sie Bildungsprozesse von Kindern ermutigen oder behindern: 

  1. Aisha und Nicole, zwei fünfjährige Mädchen arabischer Herkunft, sitzen mit Reyhan, ebenfalls 5 Jahre alt und türkischer Herkunft, am Tisch im Kindergarten und malen. Nicole sagt mit Blick auf Reyhans Bild: „Also wenn du in die Vorschule kommen willst, Reyhan, musst du noch viel üben!“ Reyhan sagt kaum hörbar „Gar nicht!“ Nicole führt aus, dass nur diejenigen in die Vorschule kommen, die Deutsch sprechen. Reyhan könne also nicht in die Vorschule, denn sie könne ja kein Deutsch. Und warum kann sie es nicht? Nicole: „Weil sie eben türkisch ist.“
  2. Eine Erzieherin hört, wie sich vierjährige Kinder in der Puppenecke unterhalten. Drei Weiße Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen spielen zusammen. Mark, ein Schwarzer Junge, kommt zu ihnen. Einer der Weißen Jungen, der sonst häufig mit Mark spielt, sagt: „Jetzt kannst du nicht mitspielen. Schwarze und Weiße können nicht heiraten.“
  3. Yannik (4 Jahre) ist außer sich: Als die anderen sahen, dass er eingepinkelt hat, haben sie ihn „Baby!“ genannt.
  4. Metin (5) malt sich selbst. Ganz genau. Schaut sich im Spiegel an und malt. Jetzt die Haare. Metin ist blond. Er nimmt gelb – und schaut gequält auf den Stift, bevor er ihn ansetzt: „Ist aber eine Mädchenfarbe…!“
  5. Neriman verteilt gerade Einladungen zu ihrem 5. Geburtstag an die Kinder. Klaus, ein Junge mit einer angeborenen Muskelschwäche, bekommt keine Einladung. Als die Erzieherin nachfragt, sagt Neriman: „Ein behindertes Kind lade ich nicht zu meinem Geburtstag ein.“

Die Beispiele (4) zeigen, dass Bewertungen entlang bestimmter Identitätsmerkmale vorgenommen werden und mit Verweis darauf auch beim Aushandeln von Spielinteressen und Präferenzen für Spielpartner_innen argumentiert wird. Dabei zeigt sich die Überschneidung bzw. Gleichzeitigkeit von Differenzlinien, auf die Kinder Bezug nehmen: Sie argumentieren als Junge oder Mädchen, mit oder ohne Migrationshintergrund, nehmen Bezug auf Alter, Religion, Behinderung, Familienkonstellationen, im Grundschulalter auch auf sozioökonomische Unterschiede der Familien und sexuelle Orientierung. Weil Kinder ihre sozialen Identitäten als Gesamtheit entwickeln und gleichzeitig in Korrespondenz zu ihren kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten die Botschaften über Unterschiede verarbeiten, die sie ihrer Umgebung seit ihrer Geburt entnehmen. Ihre Kategorisierungen sind auch zu sehen als Fähigkeiten – und erfordern gleichzeitig Hinterfragung und Irritation, auch indem diejenigen deutlichen Schutz erfahren, die über die bewertenden Kategorisierungen ausgegrenzt, herabgewürdigt, beschämt werden.

Das gesellschaftliche Wissen, dass Kinder bereits in frühen Jahren zeigen, ist ein Wissen um die in ihrer Lebenswirklichkeit vorherrschende Dominanzkultur, in die sie sich selbst und andere einordnen. Dominanzkultur bedeutet, "dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind" (Rommelspacher, 1995, S. 22). Über- und Unterordnung, Höherbewertung und Geringschätzung, viel oder wenig Einfluss sind Informationen über die Gesellschaft, die Kinder in frühesten Jahren tangieren. Es sind Informationen, mit denen sie bereits  in den Kindergarten kommen und die sie im Weiteren im Kindergarten und anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen aufnehmen.

Kita-Kultur und Familienkulturen

Bestätigt die institutionelle Kultur der Kita die gesellschaftlichen Wertsetzungen, so trägt sie dazu bei, dass Kinder früh Vor- oder Nachteile aus ihren sozialen Identitäten ziehen. Kinder, deren Familienkulturen viel Übereinstimmung mit der institutionellen Kultur aufzeigen, können in der Regel einfach auf die Bildungsgelegenheiten zugreifen, die ihnen die Kita bietet. Wohingegen sich Kindern Barrieren auftun können, die nichts Vertrautes vorfinden und zusätzlich verunsichert oder entmutigt sind, weil ihre Familienkultur nicht vorkommt oder abgewertet wird. Die Kinder sind dann häufig still und bringen sich wenig ein. Sie profitieren unter Umständen nicht in dem Maße vom Bildungsangebot der Kita wie die anderen Kinder. Eine Lernumgebung, die ihnen „Anker“ bietet, weil sie sich und ihre Familienkultur wieder erkennen, kann ihnen helfen, sich einzulassen. Eine „inklusive Interaktion“, die so angelegt ist, dass sie auch nach ihren Erfahrungen fragt und diesen einen Raum bietet, kann ihnen vermitteln, geschätzt und wichtig zu sein. Dabei lernen alle Kinder etwas: Sie lernen, sich in die anderen hineinzuversetzen. Sie erfahren, dass Menschen unterschiedlich leben. Sie lernen, kompetent damit umzugehen. Sie erleben, dass die Kita ein Ort ist, wo es fair zugeht und nicht immer dieselben die „Bestimmer“ sind. Und dass sie gemeinsam für Fairness und Gerechtigkeit sorgen können.  

Spezialist_innen für alle Diversitätsaspekte?

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung fordert dazu auf, aufmerksam zu sein für alle Merkmale sozialer Identitäten, die für Kinder relevant werden. Natürlich ist dies ein hoher Anspruch, zumal dafür eine kompakte Aufbereitung von Fachwissen zu den jeweiligen Aspekten sozialer Identitäten nötig wäre, die aufgrund der „Verinselung“ von Fachdisziplinen nicht vorliegt (vgl. Wagner 2008). Von pädagogischen Fachkräften kann nicht verlangt werden, dass sie das zusammenführen, was in Forschungsprojekten und Texten zur genderbewussten, interkulturellen, interreligiösen, integrationspädagogischen usw. Pädagogik seit Jahren entwickelt wurde.

Es kommt auch nicht darauf an, dass sie „Spezialist_innen“ für alle Vielfaltsaspekte werden, sondern grundsätzliches Wissen darüber erwerben, wie Kinder ihr Verständnis davon entwickeln, wer sie sind. Dass sie es von Anfang an auch über die Identifikation mit sozialen Gruppen tun, denen sie zugehören oder denen sie zugeschrieben werden. Und dass in diesem Prozess „das Gesellschaftliche“ zwangsläufig in ihre Wahrnehmung gelangt und Kinder gar nicht anders können, als die gesellschaftliche Bewertung sozialer Gruppen zu verarbeiten und daraus ihr Selbstbild und ihr Bild von Anderen zu konstruieren. Pädagogische Fachkräfte können und sollen sie nicht davon abschirmen. Sie können und sollen ihnen aber „Übersetzungs-Hilfen“ geben, die deutlich machen, dass die Bewertungen falsch sind und nicht die Kinder. Sie können Personen sein, die in ihrer moralischen Grundorientierung klar sind, weil sie verlässlich dafür einstehen, dass niemand auf Grund eines Merkmals seiner Identität schlecht behandelt oder ausgegrenzt werden darf. Und sich dabei auf geltendes Recht berufen, auf ihr Interesse an gelingenden Bildungsprozessen und auf ihre Fachlichkeit in Bezug auf die besonderen Weltzugänge von Kindern.   

 

Fußnoten

(1) Ab Ende der neunziger Jahre förderte die Bernard van Leer Foundation diese Vernetzung auf europäischer Ebene, indem sie das Netzwerk „Diversity in Early Childhood Education and Training“ unterstützte.

(2) Für andere Praxisfelder könne der Anti-Bias Approach zwar auch nützlich sein, er müsse aber für andere institutionelle Kontexte adaptiert werden.

(3) Die ebenfalls auf Einseitigkeiten hin überprüft werden müsse, wie Louise Derman-Sparks betont. Sie verweist auf einseitige Orientierungen in der herrschenden Entwicklungspsychologie, die in Gefahr stehe, den Lebensstil von Weißen Mittelschichtfamilien zu universalisieren.

(4) Beispiele: Fachstelle KINDERWELTEN

Literatur

  • Azun, Serap/ Enßlin, Ute/ Henkys, Barbara/ Krause, Anke/ Wagner, Petra (2010): Mit Kindern ins Gespräch kommen. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung mit Persona Dolls. Das Praxisheft. Berlin. Zu beziehen über das Projektbüro Kinderwelten.
  • Das Familienspiel (2010). Entwickelt von KINDERWELTEN/ Serap Azun. Verlag das Netz.
  • Derman-Sparks, Louise/ A.B.C. Task Force: Anti-Bias-Curriculum: Tools for empowering young children. Washington D.C.: NAEYC, 1989.
  • Derman-Sparks, Louise/Olsen Edwards, J. (2010): Anti-Bias Education for Young Children and Ourselves. Washington: NAEYC Books.
  • Derman-Sparks, L./ Phillips, C. (1997): Teaching/ Learning Anti-Racism. A developmental Approach. New York.
  • Derman-Sparks, Louise: Culturally Relevant Anti-Bias-Education with Young Children. Manuskript, Februar 2001.
  • Derman-Sparks, Louise: „Education without prejudice“ - Goals and Principles of Practice. Vortrag in Irland, Manuskript, Oktober 1998.
  • Mac Naughton, Glenda (2006): Respect for diversity. An international overview. Den Haag: Bernard van Leer Foundation.
  • Mecheril, Paul (2002): Weder differenzblind noch differenzfixiert. Für einen reflexiven und kontextspezifischen Gebrauch von Begriffen. In: IDA-NRW. Überblick 4/, Jg. 8, S. 10-16. (Stand 01.10.2010).
  • Preissing, Christa/ Wagner, Petra (Hrsg.) (2003): Kleine Kinder, keine Vorurteile? Interkulturelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau.
  • Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur: Texte zu Fremdheit und Macht. Orlanda.
  • Sulzer, Annika/ Wagner, Petra (2011): Inklusion in der Frühpädagogik: Qualifikationsanforderungen an die Fachkräfte. Expertise für die WIFF im DJI, München.
  • Wagner Petra (2011): Diversität, Identität, Hierarchie als Aspekte gesellschaftlichen Lernens in Erziehung und Unterricht. In: BSI Mag Braun, Helga; LSI Dr.
  • Weidinger (Hrsg.). 7-8/201: Erziehung und Unterricht. Österreichische Pädagogische Zeitschrift, S. 695-702.
  • Wagner, Petra (2011): Diversitätsbewusstsein – Qualifikationsanforderung für pädagogische Fachkräfte. In: Hammes-Di Bernardo, Eva; Adelheid Schreiner, Sonja (Hrsg.): Diversität. Ressource und Herausforderung für die Pädagogik der frühen Kindheit. Verlag das Netz, S.94-103.
  • Wagner, Petra (Hrsg.) (2008): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau.
  • Wagner, Petra/ Hahn, Stefani/ Enßlin, Ute (Hg.): Macker, Zicke, Trampeltier - Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Handbuch für die Fortbildung. verlag das netz: Berlin 2006.

 

 

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Petra Wagner ist Diplompädagogin. Seit 2000 leitet sie die KINDERWELTEN-Projekte in der Internationalen Akademie INA gGmbH an der Freien Universität Berlin. Seit 2011 leitet sie die Fachstelle KINDERWELTEN und ist Direktorin von ISTA.