von Daniel Strauß
Die desolate Bildungslage von Sinti und Roma belegt ein Versagen des Bildungssystems. Die 2011 herausgegebene Studie gibt Auskunft über Ursachen scheiternder Bildungsprozesse und verweist auf die Bedeutung informeller Bildung.
Immer wieder werden in Europa und in Deutschland leidenschaftliche Debatten um die "Integration", um "Anpassung" und "Einfügung" von Ausländern und Minderheiten in die Mehrheitsgesellschaften geführt. Bemerkenswert ist, dass in diesen Debatten zumeist die größte Minderheit in Europa fehlt: die Sinti und Roma. Ungefähr zehn bis zwölf Millionen Personen - so der Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek am 27. Januar 2011 - leben auf diesem Kontinent.[1] In Deutschland sind es circa 80000 bis 120000 mit deutscher Staatsangehörigkeit; hinzu kommen vermutlich rund 50000 Flüchtlinge und so genannte Arbeitsimmigranten.[2]
Im 15. Jahrhundert das erste Mal in Deutschland erwähnt, waren Sinti und Roma seither Vorurteilen, Anfeindungen und Verfolgungen ausgesetzt. Höhepunkt war die nationalsozialistische Verfolgung und der Völkermord: Bis zu 500000 Sinti und Roma wurden in Mittel- und vor allem Osteuropa während der Besatzung durch die deutschen Armeen und die SS ermordet, um 25000 allein aus Deutschland und Österreich. Erst in den 1980er Jahren erkannten die beiden Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl den Völkermord an den Sinti und Roma an. 1997 wurden Sinti und Roma als nationale Minderheit in Deutschland anerkannt.
Es fällt auf, dass in den Integrationsdebatten Bildung als Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an Wirtschaft und Kultur, an Politik und Lebensstandard in Deutschland zwar für Einwanderer, aber nicht für die nationale Minderheit der deutschen Sinti und Roma diskutiert wird. Schlimmer noch: Über deren Bildungssituation war und ist wenig bekannt, obwohl Maßnahmen der Politik zwingend notwendig gewesen wären, weil die im Nationalsozialismus durchgesetzten Ausschulungen und Bildungsabbrüche seit den 1950er Jahren durch das Bundesentschädigungsgesetz zwar bekannt waren, dennoch mit Blick auf künftige Bildungsoptionen für die Minderheit folgenlos blieben. Im Zuge der aufstrebenden Bürgerrechtsbewegung wurde 1982 die Studie "Soziale Situation der Sinti in der Bundesrepublik Deutschland" im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit veröffentlicht.[3] Dem ging 1980 eine Studie voraus, die sich mit schulrelevanten Verhaltensmerkmalen von Sinti- und Roma-Kindern befasst hatte.[4] Sie präsentierten erschreckende Befunde einer desolaten Bildungssituation von Sinti und Roma. Adäquate Maßnahmen der Bildungspolitik blieben allerdings aus. Sie wären gestern wie heute zwingend notwendig gewesen. Das Ministerkomitee des Europarates kritisiert bereits seit 2002, dass in Deutschland ein Mangel an aussagekräftigen Daten zur Lebenslage und zur Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma herrsche. Der Europarat fordert seitdem, die Kenntnisse der Lebens- und Bildungswirklichkeit zu verbessern, um so geeignete Maßnahmen ergreifen zu können, welche die wirksame Förderung der vollen und effektiven Gleichstellung der nationalen Minderheit sicherstellen.[5] Die Europäische Union (EU) forderte im April 2011 von ihren Mitgliedsländern nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 und betont dabei die wichtige Rolle der Bildung: "Wir müssen daher dringend in die Bildung der Roma-Kinder investieren und ihnen so später einen erfolgreichen Weg in den Arbeitsmarkt ermöglichen."[6] Es soll sichergestellt werden, dass alle Sinti- und Roma-Kinder beziehungsweise -Jugendliche Zugang zu einer nichtdiskriminierenden, qualitativ hochwertigen Bildung sowie zu beruflicher Ausbildung und einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten.
Zielsetzung, Methode und Repräsentativität der Studie
Bis dato gab es keine Untersuchungen zu den Lebenswirklichkeiten der Sinti und Roma, wie sie diese selbst erleben, empfinden und deuten. Diese Lücke soll ein Dokumentations- und Forschungsprojekt schließen helfen, das im Jahre 2007 von RomnoKher, Haus für Kultur, Bildung und Antiziganismusforschung in Mannheim, initiiert wurde. Im Zentrum dieser Untersuchung[7] steht die Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma. Zugleich werden Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik sowie Diskriminierungserfahrungen und verschiedene andere Lebensbereiche untersucht.
Es war das erklärte Ziel der Initiatoren dieses Projektes, die Kluft zwischen den Wissenschaften einerseits und den Angehörigen der Minderheit der Sinti und Roma andererseits zu überbrücken. Dass dies gelang, dass sich Sinti und Roma trotz ihres durch den Nationalsozialismus entstandenen beziehungsweise gewachsenen Misstrauens in die "deutschen so genannten Wissenschaft(en)"[8] an einer wissenschaftlichen Befragung zu ihrer Bildungssituation aktiv als Initiatoren, Befragende und Befragte zusammen mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen beteiligten, macht deutlich, dass hier Neuland betreten wurde.
Bisher gab es beeindruckende Untersuchungen, die sich allgemein mit der Geschichte und Kultur der Sinti und Roma befassten,[9] mit der nationalsozialistischen Verfolgung beziehungsweise der "nationalsozialistischen Lösung der Zigeunerfrage"[10] oder mit dem Minderheitenschutz der Sinti und Roma in Europa, neben den bereits erwähnten Arbeiten von Andreas Hundsalz und Peter Widmann.[11] Diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie das Verhältnis von Minderheit und Mehrheitsgesellschaft als komplexes Beziehungsgeflecht begreifen und mal mehr, mal weniger kulturelle, soziale, ethnische oder regierungs- und kommunalpolitische Elemente in den Vordergrund stellen; mal wird eine Einpassung der Sinti und Roma gefordert, mal eine Integration ohne Preisgabe der eigenen Identität und Lebensweisen. Fast allen ist gemeinsam, dass Sinti und Roma selbst kaum oder überhaupt nicht zu Wort kommen und selbst ihre Schul- und Ausbildungsbiografien von Dritten darstellen lassen.
Dieser Mangel an Untersuchungen und Interpretationen der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der Sinti und Roma war der Hauptgrund dafür, dass mit dieser Untersuchung ein anderer Weg beschritten wurde: Die finanziellen und personellen Möglichkeiten sollten dazu genutzt werden, Sinti und Roma aus verschiedenen Generationen und Regionen zu ihrer Bildungssituation zu befragen, und zwar sowohl mit einem Datenbogen zu quantifizierbaren Daten als auch mit eigenständig formulierten Bereichen zur eigenen Bildungsbiografie und sozialen Situation. Darüber hinaus sollte versucht werden, lebens-, generations- und familiengeschichtliche Entwicklungen und Erfahrungen sowohl zum Stellenwert von schulischer und beruflicher Bildung in den Familien, den Berufswünschen und deren Realisierung oder deren Scheitern als auch die Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft, zur Diskriminierung und zur generationellen Tradierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den Befragungen anzusprechen und zu interpretieren.
Für die Untersuchung wurden 14 Sinti und Roma, die aus dem Umfeld der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma stammen, als Interviewerinnen und Interviewer gewonnen, die mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über die Möglichkeiten solcher Befragungen von Sinti und Roma als auch wissenschaftliche Befragungsmethoden in vorbereitenden Seminaren diskutierten. Es wurde ein Fragebogen entwickelt, der standardisiert war und mit dem Multiple-choice-Verfahren einfaches Ankreuzen erlaubte, aber zugleich freie Erzählungen zur Bildungs- und Ausbildungssituation wie auch zur Familien- und Lebensgeschichte sowie zur Verarbeitung des Nationalsozialismus in den Familien anregen sollte. Auf diese Weise wurden 275 Interviews in breiter Streuung in 35 Städten und Orten geführt und ausgewertet.
Dieses Verfahren war sehr aufwändig, so dass wir uns auf die Befragung von Sinti und Roma konzentrierten und zunächst die ebenfalls vorgesehenen Untersuchungen der Schul- und Sozialpolitik mit entsprechenden Experteninterviews auf eine spätere Forschung verschoben. Die an diesem Projekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler[12] - Politikwissenschaftler, Historiker, Pädagogen, Erziehungswissenschaftler und Soziologen - hatten jeweils spezifische Aufgaben. Zum einen wurden mit ihnen das Forschungsdesign und die Fragebögen sowie die Interviewtechniken geklärt, zum anderen sollten sie die quantitativen Teile der Fragebögen sowie die qualitativen Interviews auswerten und interpretieren. Sie alle bringen spezifische Kompetenzen und eigene Sichtweisen aus ihren Fächern mit, was zu einer breit und differenziert angelegten Auswertung führte. Die Ergebnisse der Studie fließen ein in die vom RomnoKher initiierte Ausstellung mit dem Titel "Typisch 'Zigeuner'? - Mythos und Lebenswirklichkeiten", bei der auf 25 Tafeln antiziganistische "Zigeuner"-Bilder mit Aussagen zur Lebens- und Bildungssituation der befragten Sinti und Roma kontrastiert werden.
Sinti und Roma gehören seit Jahrhunderten zu unserer Gesellschaft. Gegenstand dieser ersten Bildungsstudie über deutsche Sinti und Roma seit über 30 Jahren ist die Frage, ob für diese nationale Minderheit ein gleichberechtigter Zugang zum Bildungswesen, insbesondere im schulischen Bereich, besteht. Mit dieser Studie wird zudem das Vorurteil widerlegt, Minderheiten würden nicht selbst aktiv werden, ihre Situation zu überwinden. Gleichzeitig wirft eine solche Studie methodische Probleme auf. Diese bestehen weniger in der Frage, ob objektive Kriterien für eine eventuelle Gleich- oder Ungleichbehandlung (etwa vergleichende Anzahl von bestimmten Bildungsabschlüssen) gefunden und angewandt werden können. Das methodische Hauptproblem besteht vielmehr darin, in der Lebenswelt der beteiligten Minderheit jene institutionellen und individuellen Faktoren zu identifizieren, die ein Verbleiben in Bildungsarmut oder deren Überwindung bedingen. Eine solche Methodik erfordert, diejenigen, die derlei (verhinderte) Bildungskarrieren durchlaufen haben, selbst zu befragen.
Im Fall der Sinti und Roma ist dies aber nicht ohne weiteres möglich. Ihre diversen Verfolgungserfahrungen und ihre historischen Erfahrungen mit wissenschaftlicher Erforschung haben sie vielfach zu Misstrauen gegenüber den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft als auch gegenüber auf sie gerichteten Forschungen geführt. Ihre wissenschaftliche Befragung ist daher nur möglich, wenn eine tragfähige Vertrauensbasis hergestellt werden kann. In diesem Fall geschah das durch die beispiellose Ausbildung von Sinti und Roma zu Interviewern für dieses Projekt. Eine solche biografisch orientierte Erhebung zur Bildungssituation gelingt erwartungsgemäß im ersten Anlauf weder flächendeckend für alle Kommunen und Bundesländer in Deutschland, noch können alle Fragen einer solchen Empirie abschließend geklärt werden. Das Projekt kann in jeder Hinsicht als Pionierarbeit gelten: zum einen wegen der Ergebnisse dieser Forschung zur Lebenssituation im Allgemeinen und zur Bildungssituation bzw. zum Verhältnis dieser Minderheit zur Mehrheitsgesellschaft im Besonderen; zum anderen wegen der neuen Wege, die sich in der Mitarbeit von Sinti und Roma als Forschungsakteure zeigen. Die Studie schafft eine Grundlage für die (Bildungs-)Politik wie auch für die Repräsentanten der Sinti und Roma.
Den Initiatoren ist eines immer deutlicher geworden: Nicht nur die Identifizierung der bildungsrelevanten Faktoren im Lebensalltag erfordert eine Beteiligung der Minderheit selbst. Auch die Überwindung der festgestellten "Bildungsmisere" kann nur im Zusammenspiel von Mehrheit und Minderheit, vorrangig natürlich im Rahmen staatlich organisierter Bildungsprozesse, gedacht und realisiert werden. Bemerkenswert ist dabei, dass die Studie Belege dafür liefert, dass unter den Sinti und Roma bereits eine wachsende Bereitschaft für einen "Bildungsaufbruch" besteht. In diesem Sinne sind die vorgelegten Befunde und ausgesprochenen Empfehlungen im Dialog von offiziellen Bildungsträgern und der Minderheit weiterzuentwickeln. Dabei ist auch sicherzustellen, dass die kulturelle Autonomie erhalten, zugleich aber kulturell entstandene Bildungshindernisse auf allen Seiten überwunden werden.
Das Leitmotiv unserer Studie war es, selbstinitiativ aus der Sicht der Minderheit direkt an die europäischen Ansätze anzuknüpfen, die Datenlücken zu schließen und den bildungspolitischen Handlungsbedarf aufzuzeigen. Dadurch gelang es auch, die historisch bedingte große Kluft zwischen Wissenschaften einerseits und den Angehörigen von Sinti und Roma zu überbrücken. Mit wissenschaftlichen Methoden wurden die Lebenswirklichkeiten aus subjektiv empfundener Sicht beschrieben, untersucht und interpretiert.
In unserem Dokumentations- und Forschungsprojekt, das zwischen 2007 und 2011 durchgeführt wurde, sind 275 deutsche Sinti und Roma aus drei Generationen vornehmlich in Westdeutschland zu ihrer Bildungssituation befragt worden. Dazu wurden quantifizierbare Daten erhoben und auch lebensgeschichtliche Interviews geführt. Hieraus wurden lebens-, generations- und familiengeschichtliche Entwicklungen und Erfahrungen sowohl zum Stellenwert von gelingender/scheiternder schulischer Bildung als auch die Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft, zur Diskriminierung und intergenerationellen Tradierung traumatischer Ereignisse der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik beschrieben und interpretiert.
Für die Befragung wurden 14 Sinti und Roma als Interviewerinnen und Interviewer gewonnen und ausgebildet. In Workshops und Seminaren wurden sie von Wissenschaftlern mit Befragungsmethoden vertraut gemacht. Es wurden 275 (davon 261 in die Auswertung einbezogene) Interviews in breiter Streuung in 35 Städten/Orten geführt. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten sind Frauen. Über 40,61% der Befragten sind im Alter von 14 bis 25 Jahren; 42,91% sind im Alter von 26 bis 50 Jahren, 16,48% der Befragten sind 51 und älter. Zu jedem Interview liegen Protokoll und Audiodateien sowie Transkriptionen vor. Um die Erfahrungen und Kompetenzen der Minderheitenorganisationen einzubeziehen, wurde beim RomnoKher der Arbeitskreis "Bildung für Sinti und Roma" gegründet.
Zehn herausgehobene Ergebnisse
94,6% der Befragten verwenden als Eigenbezeichnung "Sinti" oder "Roma".
Bis auf eine Ausnahme in den 30 qualitativ ausgewerteten Interviews bezeichnen sich alle Interviewten als Sinti oder Roma. Die einzige Befragte, die sich selbst als "Zigeunerin" bezeichnet, benutzt diesen Begriff mit einer negativen Konnotation: "Ich bin damit groß geworden, und mittlerweile habe ich das auch akzeptiert, dass die mich so nennen. (...) Ich bin nun mal eine Zigeunerin und damit muss man leben." (Sintizza, 19 Jahre) Einzelne berichten im Interview von so schwerwiegenden negativen Erfahrungen durch das Bekanntwerden ihrer ethnischen Zugehörigkeit, dass sie sich außerhalb der Minderheit gar nicht mehr als Sinti oder Roma zu erkennen geben und selbst bei Nachfragen ihre ethnische Zugehörigkeit verleugnen und eine andere ethnische Herkunft, wie Indien oder Spanien, angeben. Sehr unterschiedlich ist die Intensität des Diskriminierungsempfindens bei der Bezeichnung als "Zigeuner": 6,9% lassen diesen Begriff mit Einschränkungen auf sich anwenden, wenn eindeutig keine diskriminierende Bezeichnung beabsichtigt wurde; 44,44% bekennen sich situationsabhängig nicht als Sinti oder Roma, um Diskriminierungen zu vermeiden; 20,69% bekennen sich bei der Berufsausübung nicht als Sinti oder Roma, um Diskriminierungen zu vermeiden; 16,09% bekennen sich bei der Arbeitssuche nicht als Sinti oder Roma, um Diskriminierungen zu vermeiden.
Traumatische Erfahrungen werden in der Familie intergenerationell weitergegeben und sind selbst noch in der dritten Generation der 14- bis 25-Jährigen erkennbar.
Evident sind die intergenerationellen Auswirkungen der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma, auch und vor allem im Zusammenhang mit der Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus. So werden starke Ängste und Misstrauen innerhalb der Familie im Zusammenhang mit dem Schulbesuch der Befragten oder ihrer Eltern und Großeltern thematisiert. Der Umgang mit der Erinnerung an die Verfolgungsgeschichte und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den Familien und individuell verweisen auf ein kollektives Trauma. Wenn "Geschichten aus der (Familien-)Geschichte" erzählt werden, dann sind es Leidensgeschichten aus der NS-Verfolgung. Andere Geschichten oder Lieder, Erzählungen und Märchen, mit denen andere deutsche Kinder zumindest aus bürgerlichen Familien groß werden, scheint es bei Sinti und Roma nicht (mehr) zu geben. In einem generationellen Vergleich zeigt sich ein evidenter Zusammenhang zwischen dem Schulbesuch der Eltern oder der Großeltern und dem schulischen Erfolg der Kinder. Je besser ausgebildet die Eltern und Großeltern waren, desto größer war der schulische Erfolg der Kinder.
81,2% der Befragten haben persönliche Diskriminierung erfahren.
Die Erfahrungen in der Schule sind in starkem Maße von offenen und verdeckten Diskriminierungen in Form von alltäglichen antiziganistischen Beschimpfungen und Vorurteilen seitens einzelner Schülerinnen und Schüler bestimmt. Die Lehrer scheinen hier nicht professionell einzuschreiten. Erschreckend ist, dass Antiziganismus offensichtlich auch auf Seiten der Lehrkräfte nach wie vor vorhanden ist und im Schulalltag offen artikuliert wird. Daneben gibt es Lehrpersonen und Mitschüler/-innen, die unterstützend handeln und zum Teil so motivierend wirken, dass sie die Schullaufbahn positiv beeinflussen können. 1,1% machen keine Angaben zu Diskriminierungserfahrungen; 17,6% haben keine Diskriminierungserfahrungen; 55,9% fühlen sich manchmal diskriminiert; 8,4% fühlen sich regelmäßig diskriminiert; 12,3% fühlen sich häufig diskriminiert; 4,6% fühlen sich sehr häufig diskriminiert.
53,64% der Befragten fühlen sich bei Behördenbesuchen "eingeschüchtert", "schlecht behandelt" oder "diskriminiert".
Bei den Befragten, die von leichten Problemen oder gar von einem "hoch problematischen" Verhältnis sprechen, reichen die Aussagen von "fühle mich schlecht" bis zu "fühle mich eingeschüchtert", von "gestresst" oder "kann die Nacht vorher nicht schlafen" bis zu "fühle mich eingeschüchtert", "von oben herab behandelt", "nicht ernst genommen", "nicht wahrgenommen", "schlecht behandelt", "panisch", "wie Dreck behandelt" und "fühle mich diskriminiert". Nur 6,13% machen keine Angaben zu ihren Empfindungen bei Behördenbesuchen; 40,23% beschreiben ihre Behördenbesuche als "normal"; 13,41% beschreiben ihre Erlebnisse als "leicht problematisch"; 40,23% schildern ihre Erfahrungen bei Behördenbesuchen als "hoch problematisch".
Nur 18,8% der Befragten haben eine berufliche Ausbildung absolviert.
Dagegen sind es in der Mehrheitsbevölkerung in der jüngeren Altersgruppe 83,4%.[13]
10,7% der Befragten besuchten eine Förderschule.
Dagegen sind es in der Mehrheitsbevölkerung nur 4,9% aller Schülerinnen und Schüler.[14] Nach Altersgruppen aufgeteilt haben von den Befragten eine Förderschule besucht: 7% der über 50-Jährigen; 13,4% der 26- bis 50-Jährigen; 9,4% der 14- bis 25-Jährigen.
13% der Befragten besuchten keinerlei Schule.
In der Mehrheitsbevölkerung sind es wahrscheinlich unter einem Prozent. Mindestens 44% der Befragten haben keinerlei Schulabschluss. Im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung haben 7,5% der 15- bis 17-Jährigen keinen Hauptschulabschluss.[15] Die überwiegende Mehrheit derjenigen, welche die eigene Schul- oder Berufsausbildung abgebrochen beziehungsweise trotz eigenständiger Bemühungen die angestrebten Bildungsabschlüsse nicht erreicht haben, bedauert dies heute ausdrücklich. Darüber hinaus ist vor allem in der dritten Generation eine zunehmende Unterstützung bei den Bildungsbemühungen durch die Familie zu beobachten, verbunden mit einem höheren Schulbildungsgrad der Elterngeneration. Ängste und Misstrauen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und ihren Bildungsinstitutionen sind jedoch nach wie vor präsent, und die eigenen Unterstützungsmöglichkeiten nehmen sie im Hinblick auf die Schulbildung der Kinder als sehr eingeschränkt wahr. Von den Befragten haben keine Grundschule besucht: 39,5% der über 50-Jährigen; 18,8% der 26- bis 50-Jährigen; 9,4% der 14- bis 25-Jährigen. Eindeutig lässt sich nachweisen, dass das persönliche Engagement für Bildung in der zweiten und dritten Generation gestiegen ist.
Nur 11,5% der Befragten besuchten die Realschule.
Im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung haben über 30% in der Altersgruppe der 14- bis 25-Jährigen einen mittleren Bildungsabschluss.[16] Nach Altersgruppen aufgeteilt besuchten von den Befragten eine Realschule: 4,7% der über 50-Jährigen; 13,4% der 26- bis 50-Jährigen; 12,3% der 14- bis 25-Jährigen.
Nur sechs von 261 Befragten besuchten ein Gymnasium, das sind 2,3%.
In der Mehrheitsbevölkerung haben insgesamt 24,4% Hochschulreife, in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen über 40%.[17]
45,6% der Befragten können/konnten keine Hilfen in der Familie bei den Hausaufgaben erhalten.
8,4% machten keine Angaben zu familiären Hilfen bei Hausaufgaben, 46,0% erhielten familiäre Hilfen bei den Hausaufgaben. Sehr aufschlussreich wird es, wenn Gründe dafür genannt werden, warum keine Hilfe bei den Hausaufgaben erfolgt/erfolgte: Unter 93 Befragten, die solche Gründe benannten, haben allein 72 angeführt: "keine eigene Schulbildung der Eltern", "selbst nur begrenzte schulische Ausbildung", "zu geringe schulische Bildung" oder "kann weder lesen noch schreiben". 18 Befragte geben zusätzlich ausdrücklich "Verfolgung" oder "Verbot, die Schule zu besuchen" in der NS-Zeit an.
Bildungspolitische Empfehlungen
Die desolate Bildungslage im Blick auf formale Bildung (Schul- und Berufsabschlüsse) belegt ein gravierendes Versagen des deutschen Bildungssystems. Die Studie gibt wertvolle Auskünfte über die Ursachen scheiternder Bildungsprozesse. Sie verweisen auf die hohe Bedeutung informeller Bildung im Umfeld des schulischen Alltags von der Familie, vom Kindergarten bis zur Jugend- und Erwachsenenbildung. Intergenerationelle Traumatisierung, gegenwärtige Diskriminierungserfahrungen und fehlende Teilhabechancen belegen ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit, das erfolgreiche Bildungsprozesse massiv behindert. In der intergenerationellen Perspektive wird ein Teufelskreis, eine sich über Jahrzehnte und auch gegenwärtig reproduzierende Marginalisierung und Desintegration der deutschen Sinti und Roma sichtbar. Antiziganismus spielt hierbei eine erhebliche Rolle. Folgende bildungspolitische Empfehlungen leiten sich daraus ab.
• Vor dem Hintergrund der Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus und ihrer nach wie vor massiven Marginalisierung und Diskriminierung gilt es, im Einklang mit europäischen Standards zur Förderung von Sinti und Roma[18] in Deutschland eine zukunftsweisende Minderheitenpolitik zu gestalten, die den tatsächlichen Lebenssituationen von Sinti und Roma gerecht wird.
• Es sind nachhaltige Anerkennungs- und Teilhabestrukturen für Sinti und Roma gesellschaftlich zu verankern, um gelingende Bildungsprozesse in der Frühförderung, Bildung, Ausbildung und der Erwachsenenbildung initiieren und entfalten zu können.
• Für die Chancengleichheit von Sinti und Roma sind Aspekte der Antidiskriminierung, der biografiebegleitenden Unterstützung sowie der Überwindung der Distanz zwischen Bildungseinrichtungen und Minderheit von grundsätzlicher Bedeutung und auf allen Ebenen der Bildungsförderung besonders zu berücksichtigen. Wir empfehlen daher, einen Nationalen Aktionsplan für eine Generationen übergreifende Bildungsförderung für Sinti und Roma zu erstellen.
• Zur Konzipierung dieses Aktionsplans ist eine Bildungskommission zu gründen, in der Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen sowie gleichberechtigt Vertreter der Sinti und Roma mitwirken. Weiter können Wissenschaftler, Bildungsexperten und gesellschaftliche Initiativen und Akteure wie zum Beispiel Stiftungen einbezogen werden.
Für den Nationalen Aktionsplan sollen Ressourcen von Bund, Ländern, Kommunen und EU-Fördermittel gebündelt werden. Dafür müssen effektive Mechanismen geschaffen werden. Der nationale Aktionsplan muss mindestens folgende Aufgaben umfassen: erstens den Aufbau struktureller Fördermaßnahmen auf Bundes-, Länder- und lokaler Ebene; zweitens die Entwicklung und Umsetzung von gezielten Fördermaßnahmen und Programmen zur tatsächlichen Gleichstellung von Sinti und Roma; drittens ein sichtbares Engagement von Personen des öffentlichen Lebens zugunsten von Sinti und Roma; viertens Überzeugungsarbeit in der Minderheit für einen "Bildungsaufbruch"; fünftens individuelle Bildungsförderung, die an die Lebenswelten, Sprache und kulturelle Identitäten der Sinti und Roma anknüpft und ihnen im deutschen Bildungssystem gleichberechtigte Bildungschancen sichert; sechstens Erwachsenenbildungsprogramme für Sinti- und Roma-Familien, um unzureichendes Bildungskapital der Eltern auszugleichen und kompetente Bildungsentscheidungen von Eltern und Kindern zu ermöglichen; siebtens eine Kooperation von Erziehungswissenschaften und Fachinstitutionen mit Bildungseinrichtungen der Sinti und Roma.
Fußnoten
1. Vgl. Pressemitteilung des Europäischen Parlaments vom 15.3.2011.
2. Vgl. UNICEF, Zur Lage von Kindern aus Roma-Familien in Deutschland, Berlin 2007.
3. Vgl. Andreas Hundsalz unter Mitarbeit Harald Schaaf, Soziale Situation der Sinti in der Bundesrepublik Deutschland (Endbericht), Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Bd. 129, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1982.
4. Vgl. ders., Zigeunerkinder. Eine sozialpsychologische Untersuchung schulrelevanter Merkmale, Frankfurt/M. 1980.
5. Vgl. Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland zur Stellungnahme des Beratenden Ausschusses zum Bericht über die Umsetzung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland; insbesondere Art. 4, Nr. 75 sowie Art. 6, Nr. 80, Bundesministerium des Innern, Berlin 2002.
6. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020; KOM(2011) 173 endgültig, Brüssel, 5.4.2011, S. 2, online: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0173:FIN:DE:PDF (20.4.2011).
7. Daniel Strauß (Hrsg.), Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma. Dokumentation und Forschungsbericht, Marburg 2011. Ohne Förderer hätte dieses Projekt nicht realisiert werden können; zu nennen sind zunächst die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ), die einen wesentlichen Anteil an der Förderung hatte und immer wieder zu Selbstverständigungsdebatten anregte, ebenso die Freudenberg Stiftung, die Lindenstiftung, die Amadeu Antonio Stiftung, der Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg sowie die Gesellschaft für Antiziganismusforschung e.V.
8. Vgl. Vorwort von Romani Rose (damals als Vorstandsmitglied im Verband der Sinti Deutschlands unterzeichnend) zu A. Hundsalz (Anm. 3), sowie Peter Widmann, An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik. Berlin 2001.
9. Vgl. Katrin Reemtsma, Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart, München 1996.
10. Vgl. vor allem Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage", Hamburg 1996. Vgl. auch die Regionalstudie von Udo Engbring-Romang, Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950, Frankfurt/M. 2001.
11. Vgl. Die Lage der Sinti und Roma in Deutschland, in: Monitoring des Minderheitenschutzes in der Europäischen Union 2002, Göttingen 2003, S. 78-163; A. Hundsalz (Anm. 4); P. Widmann (Anm. 8).
12. Alexander von Plato (Hagen/Wien), Michael Klein (Erfurt), Uta Rüchel (Berlin) und Jane Schuch (Berlin).
13. Vergleichszahlen zur Mehrheitsbevölkerung aus: Bildung in Deutschland 2010. Hrsg. im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, S. 10, online: www.bildungsbericht.de/daten2010/bb_2010.pdf (18.4.2011); zur Bildungsbeteiligung siehe dort die Daten aus dem Mikrozensus 2008, S. 227, online: www.bildungsbericht.de/zeigen.html?seite=8404 (18.4.2011).
14. Vgl. ebd., S. 6.
15. Vgl. ebd., S. 10.
16. Vgl. ebd., Tabelle B3-1A, S. 227 (Mikrozensus 2008).
17. Vgl. ebd.
18. Checkliste der europäischen Roma-Plattform: 1. konstruktive, pragmatische und nicht-diskriminierende Politik; 2. eindeutige, aber nicht ausschließende Ausrichtung; 3. interkultureller Ansatz; 4. auf die Mehrheit hinzielen; 5. Bewusstsein für die geschlechtsspezifische Bedeutung; 6. Transfer von Politik, die auf Eindeutigkeit beruht; 7. Einsatz von Instrumenten der EU; 8. Einbeziehung von regionalen und lokalen Behörden; 9. Mitwirkung der Bürgergesellschaft; 10. aktive Teilnahme der Roma, siehe auch online: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=761&langId=en (18.4.2011).