von Elisabeth Gregull
Herr Egin erzählt gerne Witze und Anekdoten. Mal beginnt er eine Diskussion über die Euro-Krise, mal sind es Geschichten von seiner Familie, die er zum Besten gibt. Fotos von seiner Frau, seinen Kindern und seinem Enkelsohn stehen auf dem Regal der großen Schrankwand. Herr Egin, Jahrgang 1943, kam als junger Facharbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Nach einem Schlaganfall ist er halbseitig gelähmt und auf einen elektrischen Rollstuhl angewiesen. „Ich habe meinen Arm und mein Bein verloren, aber meinen Humor nicht!“ sagt er lachend.
Herr Egin ist einer von 26 älteren MigrantInnen aus neun Ländern, die im „Haus am Sandberg“ in Duisburg-Homberg leben. Vor 15 Jahren öffnete das Haus mit insgesamt 96 Plätzen seine Türen – aber schon drei Jahre zuvor lief ein wohl einmaliger Prozess an, das Pilotprojekt ESA „Ethnischer Schwerpunkt Altenhilfe“. Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich ein langjähriger Prozess der interkulturellen Organisationsentwicklung, der auch in der Architektur seine Spuren hinterlassen hat.
Architektonische Planung mit MigrantInnen
Nach einem kurzen Telefonat mit seiner Frau steuert Herr Egin seinen Rollstuhl aus dem Zimmer Richtung muslimischer Gebetsraum. Über den Flur gelangt man zunächst in einen viergeschossigen offenen Aufenthaltsbereich - das Atrium. Diese architektonische Besonderheit verdankt sich der Beteiligung von MigrantInnen an der Planung des Hauses. Wie soll ein Altenheim aussehen, damit sich dort auch ältere MigrantInnen wohl fühlen? Das war eine der Fragen des Pilotprojektes ESA. Der Wunsch, an einer Art Marktplatz zu sitzen, wo man alles mitbekommt und immer was zu sehen hat, kam explizit von MigrantInnen. Und tatsächlich sitzen und treffen sich heute zahlreiche BewohnerInnen am Atrium zum Essen, zum Gespräch oder einfach zum Verweilen.
Herr Egin - Bild von Elisabeth Gregull
Herr Egin holt den gläsernen Fahrstuhl. Überhaupt ist das ganze Gebäude von großen Fenstern und hellen Räumen geprägt. Im Untergeschoss befindet sich die Mescid, der muslimische Gebetsraum, mit den traditionellen Fußwaschbecken im Vorraum. Herr Egin fährt auf die weichen dunkelroten Teppiche. „Schauen Sie sich die Kacheln an, die sind extra aus der Türkei bestellt worden“, erzählt er und sieht selbst noch einmal genau hin. Ornamente und Blumenmuster in Türkis, Dunkelblau und Rot, gerahmt von arabischen Schriftzeichen. Um die Ausrichtung des Raumes nach Mekka sicherzustellen, stieg einst während der Bauarbeiten ein Hodscha mit in die Baugrube. Und ein Hodscha kommt auch jeden Montag zum gemeinsamen Gebet.
„Engel der Kulturen“
Herr Egin, der seit Anfang 2011 im Haus lebt, sagt: „Ich bin sehr, sehr zufrieden hier. Es macht keinen Unterschied hier, der ist Mohammedaner, der ist Jude, der ist Christ. Das ist gar kein Unterschied hier. Wir spielen alle zusammen. Gedächtnistraining. Bastelstunde. Wir machen alles mit.“ Dann zeigt er das kleine runde Medaillon, das er um den Hals trägt – ein Halbmond an der Kopfseite, rechts unten ein Kreuz und links unten der Davidstern. „Sehen Sie, ich bin Muslim, aber ich trage dieses Amulett.“
Das Amulett ist der „Engel der Kulturen“. Er stammt aus einem interaktiven künstlerischen Projekt zum interkulturellen Dialog. Die Künstler haben die drei Symbole der abrahamitischen Religionen in verschiedenen Variationen miteinander in Beziehung gesetzt. Sie fanden den Kreis als ideale Form und zufällig ergab diese Anordnung im Innern des Kreises die Gestalt eines Engels. Er gab als „Engel der Kulturen“ dem Projekt seinen Namen. An einer geeigneten Stelle wird die Form des Engels in den Boden eingelassen. Am gleichen Ort stellen die Künstler mit Hilfe der Anwesenden das Engel-Zeichen für eine andere Stadt her. Dieses Projekt ist eines von vielen, mit denen das „Haus am Sandberg“ unterschiedlichste Menschen und Aktivitäten in das Heim holt.
„Das wird sich schon so einbürgern“
In der obersten Etage sitzt Frau Bertenburg nach dem Mittagessen in ihrem Zimmer. Die 87-jährige Dame kannte das Haus schon lange, bevor sie selbst hier einzog. Ihre ehemalige Wohnung liegt nur ein paar Straßen weiter. Die Religion spielt für sie eine wichtige Rolle. „Ich bin gern in die Kirche gegangen“, erzählt sie. Das „Haus am Sandberg“ arbeitet eng mit den benachbarten Kirchengemeinden zusammen, es finden regelmäßig Gottesdienste im Haus statt.
Frau Bertenburg - Bild von Elisabeth Gregull
Frau Bertenburg engagierte sich in ihrer evangelische Kirchengemeinde und kam so als Freiwillige auch in das Seniorenheim. Ob Lesen, Basteln, Kochen oder tiergestützter Besuchsdienst – zahlreiche Freiwillige bringen durch ihre Zeitspenden zusätzliche Aktivitäten in das Seniorenheim. Frau Bertenburg selbst möchte diese Angebote nicht missen und hat in ihrer aktiven Zeit gelernt, auf Menschen zuzugehen und Hilfe anzubieten.
Ob das Zusammenleben mit Menschen anderer Kulturen oder Religionen funktioniert, hängt von den jeweiligen Menschen ab, findet Frau Bertenburg. Davon, wie man aufeinander zugeht. Doch sie erfährt durchaus auch Grenzen: „Die katholische Kirche ist in der Beziehung ein bisschen distanziert. Genauso ist das jetzt mit den türkischen Menschen, die hier mit uns leben. Die kommen wohl schon auf einen zu. Aber wir wissen damit nicht immer etwas anzufangen, weil wir die Sprache nicht kennen, denn die können ja auch nicht so gut Deutsch sprechen. Da ist dann immer eine Mauer irgendwie ein bisschen, wenn man da was erfahren will. Aber das wird sich schon so einbürgern.“
Seit 18 Jahren auf dem Weg
Zwei Etagen tiefer sitzt der Mann, der die Entwicklung des Hauses zu einem multikulturellen Seniorenheim von Anfang an miterlebt und mitgestaltet hat. Herr Krause, Geschäftsführer im „Haus am Sandberg“, ist Mitte 40 und kann viele Geschichten erzählen aus den vergangenen 18 Jahren: drei Jahre Pilotprojekt und inzwischen 15 Jahre laufender Betrieb.
Es begann 1994. Begleitet durch die Uni Duisburg suchte die Vorgängereinrichtung Antworten auf die Frage: Wie muss ein Seniorenheim aussehen, in dem sich auch Menschen mit Migrationshintergrund wohlfühlen? Einbezogen war das Personal, die bis dahin rein deutschen BewohnerInnen, Migrantenorganisationen und Migrantenfamilien. „Das war natürlich eine spannende Geschichte“, erinnert sich Herr Krause im Rückblick. Es gab Fortbildungen, Sprachkurse und immer wieder Gesprächsrunden. Das Ergebnis ist ein Haus, in das nicht nur architektonisch neue Impulse eingeflossen sind. Die Küche hat sich auf die interkulturelle Zusammensetzung eingestellt. Es gibt türkische Zeitungen, eine internationale Bibliothek und einen interkulturellen Besuchsdienst. Und nicht nur Weihnachten, sondern auch das Zuckerfest wird traditionell im Haus gefeiert.
Die wichtigste Veränderung in all den Jahren seien aber nicht „technische Details“, meint Herr Krause. „Die sind wichtig, keine Frage. Aber das Markanteste ist, dass sich das Bewusstsein geändert hat. Und Bewusstsein ändert sich ja nicht von heute auf morgen. Sondern Bewusstsein dauert Jahre, Jahrzehnte.“ Inzwischen überwiege die Freude, mit Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen zu arbeiten, während anfangs MitarbeiterInnen nur eine zusätzliche Belastung auf sich zukommen sahen. Natürlich gibt es im Alltag auch Probleme. Aber da helfe der zweite markante Lernfortschritt, den sie als Organisation gemacht haben: die Erkenntnis nicht perfekt zu sein zu müssen.
Nicht jedes Problem kann gleich gelöst, nicht jedem Anliegen gleich entsprochen werden. Manchmal erschweren Sprachprobleme die Eingliederung, berichtet Herr Kraus. Und fügt hinzu: „Aber das Problem habe ich auch mit den deutschen Dementen. Da verstehe ich auch nicht immer, was sie wollen. Demenzkrank ist demenzkrank.“ Der Anteil an Menschen mit Demenz und Alzheimer hat sehr zu genommen, im „Haus am Sandberg“ liegt er bei 70 Prozent.
Personalentwicklung mit (interkultureller) Perspektive
Als das Seniorenheim 1997 als Neubau eröffnet wurde, gab es zwar auch schon MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund, aber sie waren fast alle geringqualifiziert, erzählt der Heimleiter. Das Haus setzte hier auf die systematische Aus- und Weiterbildung zu Fachkräften. Heute arbeiten rund 120 Menschen verteilt auf 58 Vollzeitstellen, um die stationäre Versorgung 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche aufrecht zu erhalten. 40 Prozent der MitarbeiterInnen und acht von zwölf Auszubildenden haben eine Zuwanderungsgeschichte. „Da rekrutieren wir unsere zukünftigen Mitarbeiter selbst. Wir haben kein Problem mit der Nachfrage und auch kein Problem mit Fachkräften.“
Bei den Leitungskräften gibt es inzwischen ebenfalls KollegInnen mit Migrationshintergrund. Herr Krause weiß, wie wesentlich die MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund zum Erfolg und Ansehen des Hauses beitragen. „Die KollegInnen mit Zuwanderungsgeschichte, das sind die Bezugspersonen. Wegen mir kommen die nicht!“ Er lacht. „Das weiß ich, das ist auch in Ordnung. Man braucht Multiplikatoren im Haus, die das machen können. Wir haben eine türkische Sozialarbeiterin seit zehn Jahren, die ist überall bekannt. Und zwei Etagenleitungen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte, die sind auch schon im Ruhrgebiet bekannt. Das sind die Leute, die dann die Migranten anziehen.“
Während die deutschen BewohnerInnen aus der Nachbarschaft des Heimes kommen, zieht es die MigrantInnen wegen der besonderen Ausrichtung des Hauses auch aus anderen Städten her. Oftmals recherchieren die Angehörigen, und da sie kein vergleichbares Versorgungsangebot finden, kommen die Menschen aus Bochum, Dortmund, Oberhausen und aus dem ganzen Ruhrgebiet.
Freiwilliges Engagement in Varianten
Nicht nur bei den Hauptamtlichen, auch bei den Ehrenamtlichen hat sich einiges getan über die Jahre. Viele der deutschen Freiwilligen sind über ihre Gemeinde im „Haus am Sandberg“ aktiv, meistens Frauen zwischen 50 und 80, die etwas Gutes tun wollen. Anders ist die Altersstruktur bei den Freiwilligen aus den Moscheevereinen – meistens Frauen zwischen 20 und 35 Jahre alt, die häufig in großen Gruppen kommen.
„Wir haben festgestellt, dass bei den Migranten das Freizeitverhalten anders ist. Essen spielt hier häufig eine wichtige Rolle für das soziale Zusammensein. Die Frauen haben dann ehrenamtlich ein türkisches Frühstück auf die Beine gebracht.“ Allerdings, erzählt Herr Krause schmunzelnd, musste sich das Heim umstellen. Denn wenn der Hodscha in der Moscheegemeinde wechselt, dann wechselt auch das Engagement. Sprich: das Frühstück fand ein paar Mal statt und plötzlich kamen die Frauen nicht mehr. Erst nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass der neue Hodscha andere Aufgaben für die Frauen vorgesehen hatte. Inzwischen lässt Herr Krause die Dinge auf sich zukommen. „Spontan und ungeplant entstehen immer wieder tolle Sachen, aber eine reguläre Planung haben wir aufgegeben.“
Er räumt ein, dass der häufige Wechsel der Verantwortlichen bei muslimischen Gruppen die Zusammenarbeit manchmal etwas schwieriger macht. Gerade habe man sich aufeinander eingestellt, dann komme wieder ein neuer und man müsse von vorne anfangen. Aber letztlich kann er dem stetigen Wandel an dieser Stelle auch etwas Positives abgewinnen. Ohnehin bleibe das Haus ständig in Bewegung – denn mit neuen BewohnerInnen kommen auch neue Wünsche, Gewohnheiten und Ideen.
„Meine Mutter will auch Weißbrot mit Marmelade“
Vor kurzem kam der erste kongolesische Bewohner ins Haus. Niemand sprach dieses Französisch, aber alle MitarbeiterInnen versuchten ihm gerecht zu werden. Und gleich begann auch die Suche nach potentiellen DolmetscherInnen in der Nachbarschaft und in Duisburg. Ein Weg, den das Seniorenheim bei sprachlichen Barrieren häufig einschlägt. Inzwischen organisiert der neue Bewohner eine Trommelgruppe und spielt schon gemeinsam mit zehn Frauen.
Ob mit Migrationshintergrund oder ohne, letztlich geht es darum, sich individuell auf die BewohnerInnen einzustellen. Bei diesem Thema erzählt Herr Krause gern die Geschichte der ersten türkischen Bewohnerin. Das Team hat sie mit allem versorgt: türkischer Musik, Fernsehen, Personal, Hodscha. Und beim Essen gab es immer Schafskäse, Oliven, Pita-Brot, kein Kaffee, nur Çay. Und dann - nach drei, vier Wochen – kam die Tochter und hat gesagt: „Toll, was Ihr da macht, echt Klasse. Aber eigentlich ist meine Mutter gar nicht religiös gewesen die letzten 40 Jahre. Und die trinkt auch Kaffee und heiße Milch. Und die will auch Weißbrot ohne Kruste mit Marmelade und Nutella.“
Herr Krause lacht und fährt durchaus selbstkritisch fort: „Da haben wir uns dann alle an den Kopf gefasst und gesagt: Meine Güte, man muss echt vorsichtig sein, dass man hier nicht so ein Disneyland macht nach Klischees. Sondern, dass das alles wirklich sehr unterschiedliche Charaktere sind, Menschen aus völlig anderen Kulturkreisen, auch wenn sie alle Türken sind.“ Im Grunde ist es eben wie mit den deutschen BewohnerInnen auch: Sie unterscheiden sich nach Herkunftsregionen, Bildungsstand, nach religiöser Bindung, nach biographischen Erfahrungen. Es herrscht längst keine Einigkeit bei allen Fragen, was sich zum Beispiel bei religiösen Festen zeigt. „Die einen wollen Bauchtanz auf dem Zuckerfest, die anderen wollen das eher etwas konservativ gestaltet haben.“
„Macht das in jeder Stadt“
Als sich der DRK-Landesverband Nordrhein vor 18 Jahren auf den Weg machte, ein Seniorenheim interkulturell zu entwickeln, gab es viele SkeptikerInnen. Daran kann sich Heimgeschäftsführer Krause gut erinnern: „Kritiker prophezeiten, dass wir das nicht schaffen werden.“ Er hält inne. „Aber da haben wir zum Glück durch den ständigen Umgang mit Menschen aus dem mediterranen Raum gelernt zu sagen, dann schaffe ich es halt nicht 100 Prozent, dann schaffe ich es halt nur 50 Prozent. Aber 50 Prozent - das ist doch schon mal was.“
Atrium "Haus am Sandberg"
Noch immer ist die kultursensible Pflege kein gängiges Element der Regelversorgung. Einzelne Heime habe sich drauf eingestellt: Neben dem „Haus am Sandberg“ sind es das Victor-Gollancz-Haus in Frankfurt am Main und das Türkische Pflegehaus in Berlin-Kreuzberg. Letzteres hat sich inzwischen umbenannt in „Internationales Pflegehaus Kreuzberg“, um auch Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen für das Angebot zu gewinnen. Trotz der in den nächsten Jahren zu erwartenden Zunahme an Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund bleibt eine kultursensible stationäre Versorgung also die Ausnahme.
Hier sieht sich das „Haus am Sandberg“ als Vorreiter und möchte seine guten Erfahrungen weitergeben. Heimleiter Krause verbindet diese Haltung mit einer konkreten Hoffnung: „Darum haben wir hier auch immer Besuchergruppen und Experten im Haus, die sich das anschauen, weil wir sagen: Macht das in jeder Stadt. Guckt Euch die alten Kästen an, öffnet die, ändert ein bisschen das Konzept. Und dann dauert das ein paar Jahre, und dann geht das überall.“
Elisabeth Gregull ist Fachjournalistin (DFJS) mit den Schwerpunktthemen Migration, Diversity und Folgen der NS-Zeit.