Städte gelten als Knotenpunkte von Mobilität. Schaut man genauer hin, leben viele Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, in Gemeinden unter 10000 Einwohner_innen. Ihnen wurden von den zuständigen Ausländerbehörden Wohnungen oder Heimzimmer auf dem Land zugewiesen.
Dort sind sie auf sich gestellt. Ein Ausflug in die Provinz.
Ich nehme die S-Bahn und kann schon nach wenigen Minuten die Ankunft kaum erwarten. Vor dem Fenster die norddeutsche Tiefebene. Es kann der Eindruck entstehen, sie wäre nichts weiter als die Fläche, die es braucht, um die Häuser und Straßen und S-Bahn-Schienen hinein zu bauen. Die Wälder sind Wälder auf eine zurückhaltende Art. Die Felder liegen wohlsortiert.
Diane wartet am Bahnhof. Seit letzter Woche geht sie zum Deutschkurs der katholischen Frauen. Sie erzählt, dass es gut ist, jeden Morgen aus dem Haus zu kommen, auch wenn das mit den Christen noch etwas ungewohnt ist. Und dass es Jahre dauern wird, bevor sie diese seltsame Sprache sprechen wird. Die Ungeduld ist eine Eigenschaft, die wir gemein haben, sage ich. Sie lacht. Du hast keine Vorstellung davon, wie ungeduldig ich bin. Eben hat der arme Typ im Handyladen geschlagene zehn Minuten versucht, die Freiminuten auf meinem Telefon zu finden. Ich musste ihn zwingen, das Telefon wieder rauszurücken.
Dann sitzen wir in der Sonne, essen Eis und lachen über eine sorgfältig frisierte Dame, die ihren Hund spazieren führt. Aus Lust am Lachen. Der Nachbar dreht Runden mit dem Rasenmäher. Deutschland im Frühling. Wer hätte damit rechnen können, dass ich hier landen würde, fragt sie und lacht einfach weiter. In der tiefen Provinz.
Als sie ankam, war es Herbst und dunkel. Niemand auf der Straße, breite leere Gehsteige, gestutzte Hecken vor Häusern, aus denen kein Ton und kein Licht nach draußen drang. Auch am nächsten Tag blieben die Straßen leer, obwohl der Ort, wie sich bald herausstellte, aus einer beachtlichen Ansammlung von Häusern besteht und außerdem zwei Supermärkte und eine Tankstelle zu bieten hat.
Die ersten Tage läuft sie auf Zehenspitzen durchs Dorf. Es ist sehr still. Sie beobachtet ihre Nachbarn, die morgens mit dem Auto wegfahren und erst abends zurückkommen. Die Alten bleiben zu Hause und bewegen die Gardinen, wenn sie durch die Straßen geht.
Es gibt Momente, da gucken alle. Wenn sie Pfandflaschen in einer Lidl-Tüte zu Edeka bringt. Sie hört sie seufzen. Die Schwarze läuft mit einer Lidl-Tüte durch den Edeka-Markt. Da liegt was in den Blicken. Diane ist sicher, dass viele People of Color in Deutschland dem mit einer Art vorauseilendem Gehorsam begegnen: Benimm dich, wie die Weißen es von dir erwarten, alles andere irritiert. Und Irritation bringt Ärger. Wirf deinen Eisbecher auf den Gehsteig anstatt in den Mülleimer, bezahl deine Fahrkarte im Bus mit einer Handvoll unabgezähltem Kleingeld, stell deinen Sperrmüll ins Treppenhaus, häng deine Wäsche in den Vorgarten, erschein ohne Termin beim Arzt. Und wenn dir nichts anderes mehr einfällt, dann trage deine Pfandflaschen in der Lidl-Tüte zum Edeka-Markt. Dann können sie seufzen und haben es mit der Einordnung leicht: anders, fremd.
Einen Freund hat sie im Dorf gefunden, einer der sie manchmal abholt und ihr die Gegend zeigt. Er kommt aus dem Iran und lebt seit zwanzig Jahren im Ort. In Dianes Stimme liegt Bewunderung. Sie zeigt auf ein Fußballfeld, das wir von unserer Bank aus sehen können. Seit fünfzehn Jahren spielt er hier Fußball. Er entschlüsselt für sie die Gebräuche der Einheimischen, die Mülltrennung, die Sonntagsspaziergänge am Fluss.
Diane ist, wie viele, die in Deutschland Asyl beantragen, in der Provinz gelandet. Eines Tages wurde sie von der Ausländerbehörde aus der Aufnahmeeinrichtung in der Stadt in die Wohnung auf dem Land gebracht. Sie sagt, dass nichts in ihrem bisherigen Leben sie darauf angemessen vorbereitet habe. Auf das Alleine-Sein, auf das Exil im Exil, auf die Tage und Wochen, in denen nichts passiert, die Langeweile. Laut Gesetz darf sie weder arbeiten noch ihren Landkreis verlassen. Einmal im Monat fährt sie in die nächste Kleinstadt und holt auf dem Sozialamt die 184 Euro in Gutscheinen ab, von denen sie lebt.
Ich muss daran denken, wie es für mich war, als ich als Siebenjährige nach einigem Hin und Her aus der Großstadt zu meinem Vater in eine Kleinstadt zog. An mein eigenes Fremd-Sein in einer Landschaft, die mir eigenartig leer vorkam, zwischen Menschen, die mich verwirrten und die meine Distanziertheit vor den Kopf stieß. Mein Vater nahm mich zu meiner besseren Integration mit auf den Fußballplatz. Ein Platz wie der, auf den wir jetzt schauen, wo es am Spielfeldrand an Stelle von Sitzgelegenheiten nur eine rostige Stange gibt, an der Werbetafeln hängen. Ich möchte Diane erzählen, wie ich frierend und wütend in diesem Kaff auf dem Fußballfeld stand. Ich wünsche mir, dass wir zusammen über das Fremd-Sein in der deutschen Provinz lachen können.
Gleichzeitig weiß ich, dass unser Fremd-Sein nicht viel gemein hat. Meines war Durchgangsstadium und gehörte irgendwie zur Kindheit – außerdem versicherten die Erwachsenen mir andauernd, dass ich dazugehöre, hier hin gehöre, und dass ich später immer noch gehen könne.
Dianes Fremd-Sein ist eine Zuschreibung. Ein Fremd-Sein qua Definition, das ein verunsicherndes, unsicheres Abwarten an einem zufälligen Ort wird. Lebenszeit, die ihr zwischen den Fingern zerrinnt, wie sie es bei unserem ersten Treffen nannte.
Trotzdem erzähle ich von mir am Spielfeldrand. Von den Männern, die über den Platz rennen, einer von ihnen mein Vater, den ich kaum kenne. Männer, die schreien und schwitzen. Ich würde ihnen und dem Ball gerne nicht zu nahe kommen, aber weiß nicht, wo ich mich hinstellen soll. Ich höre ihre lauten Stimmen und verstehe nichts. Die Worte kenne ich, aber in ihrer Zusammenstellung geben sie keinen Sinn für mich. Diane nickt. Ich rede mich warm. Erzähle vom bierbäuchigen Trainer, der lächelnd neben mir stand und fragte, ob ich eine Fanta möchte. Er gibt mir eine grüne Flasche, sie ist kalt und schwer. Ich halte sie fest und warte ab. Wir stehen schweigend nebeneinander. Magst du denn auch Fußball? Nein. Der Mann schaut mich ein wenig ratlos an. Das wird schon noch, du kommst schon noch auf den Geschmack.
Diane lacht. Und bist du auf den Geschmack gekommen? Nie. Sie seufzt. Ich wünschte, ich würde Fußball spielen, vielleicht wärs dann leichter.
Sie steht auf, dreht sich einmal um die eigene Achse. Diane en begué, Diane la beguiste, la star. Diane die Europäerin! Das große Nachwuchstalent aus dem Süden, der aufgehende Stern an Deutschlands Fußballhimmel. Ich klatsche. Sie setzt sich wieder hin. Mais non, l'Europe, c'est pas du gateau. Europa ist kein Zuckerschlecken. Europa zeigt die Krallen.
Seit zwei Jahren kämpft Diane um ein gesichertes Aufenthaltsrecht in Deutschland. Das letzte Gespräch mit ihrer Anwältin dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Wieder musste sie ihre Geschichte erzählen, immer wieder erzählen, bestimmt schon das dritte Mal, verstehst du, das ist doch verrückt. Nach dem Gespräch hatte sie zittrige Knie. Diane schüttelt den Kopf. Über diese aufwendige Inszenierung, die das Asylverfahren ist, über die Menschen, die auf die richtige Geschichte an der richtigen Stelle warten. Die Richter, die Anwältin, die Beamten von der Ausländerbehörde und vom Sozialamt. Un truc de blancs. Typisch Weiße. Diane macht eine Handbewegung, als läge die Szenerie vor unseren Füßen auf dem Gehsteig und wir schauten auf sie herab. Ungläubig, schulterzuckend.
Wir laden den iranischen Nachbar zum Abendessen ein und trinken den Wein, den er mitbringt, während er uns erklärt, wie man es in Deutschland zu etwas bringen kann. Anfangs sei auch er ein Niemand gewesen, einer von denen, die noch nicht einmal die Sprache verstehen. Einige Jahre hat er bei Volkswagen gutes Geld verdient. Dann gab es keine Arbeit mehr und er musste sich etwas Neues ausdenken: Er eröffnete eine Diskothek. In einer mittelgroßen Stadt, immerhin größer als diese hier. Feinste Innenausstattung, ein großer Gewölbekeller, ausgekleidet in Gold und Grün. Aber die Leute wussten das nicht zu schätzen, standen verkrampft am Rand der Tanzfläche und kamen nicht ins Gespräch. Er musste intervenieren, die Mädchen den Jungen vorstellen und umgekehrt. Als Diskobetreiber lebt man schließlich von der Atmosphäre in seinem Laden.
Der Nachbar macht eine Pause, damit wir uns der Dramatik bewusst werden. Ich übersetze für Diane, die irgendwann vor dem Wortfluss kapituliert hat. Der Nachbar schenkt Wein nach und schlägt einen optimistischeren Ton an.
Aber die Einheimischen seien unverbesserlich gewesen, das Unternehmen blieb stecken. Aber Geld musste trotzdem reinkommen, er hat Kinder im Studienalter und zahlt Alimente. Das hier ist schließlich Deutschland. Er begann, mit Antiquitäten zu handeln. Verdient sein Geld mit Haushaltsauflösungen und Flohmärkten, greift zu, wenn es Schmuck für wenig Geld gibt, zieht im richtigen Moment die Scheine aus der Tasche. Er macht gute Geschäfte, weil er die Menschen kennt und die Wirkung des Geldes auf die Menschen. Häufig verdient er an der Ahnungslosigkeit der anderen.
Er fragt uns, ob wir das für eine Sünde halten. Wir zucken mit den Schultern. Manchmal könne er von den Reichen nehmen und den Armen geben. In seinem Beruf gäbe es eine Art ausgleichende Gerechtigkeit. Einmal sei er zu einer Haushaltsauflösung gekommen und habe eine alte Dame, eine Oma, vorgefunden, die auf gepackten Koffern in ihrem Haus voller wertloser Dinge saß und ihm sagte, dass sie 150€ brauche, um die letzte Rechnung zu bezahlen. Also hat er ihr das Geld gegeben, hat ihre Koffer in seinen Wagen getragen, das Haus leergeräumt und gefegt und hat die Oma ins Altenheim gefahren. Dann hat er den Rest ihrer Sachen zur Müllkippe gebracht hat.
Siehst du, sagt Diane, zur Müllkippe. Und niemand interessierts. Da stimmt was nicht. Die Alten geben dir Ratschläge, aber in Wirklichkeit wissen sie auch nicht, wie Leben hier funktioniert. Wer möchte als alter Mensch freiwillig in Europa leben und sich schlecht behandeln lassen? Sie erzählt von einem Alten im Rollstuhl, den sie letzte Woche alleine auf der Straße gesehen hat. Verwirrt sah der aus. Und hat sie angeguckt als sei sie der Teufel höchstpersönlich. Sie fragt sich, was bei ihm nicht in Ordnung ist. Wenn sie mich lassen, kümmere ich mich um ihre Alten, sagt Diane. Wenn das Asyl bewilligt wird, wenn sie arbeiten darf. Warum nicht die Alten. Die, die hinter den Gardinen sitzen, wenn sie durchs Dorf geht. Die würde sie waschen und anziehen. Sie müssten sie ordentlich bezahlen und könnten sich nicht wehren, gegen die Schwarze, die ihre beste Freundin wird, ihre einzige Besucherin.
Ein wenig angetrunken laufen wir durch die leeren Straßen zurück zum Bahnhof. Drei säuberlich aufgeschichtete Matratzen und ein verbeulter Koffer versperren den Gehweg. Wir weichen auf die Straße aus. Diane schaut sich um. Wo denn die dazugehörige ausrangierte Oma sei. Ich pruste los. Sie blinzelt mich an, ein klein wenig triumphierend.
In der S-Bahn, während ich ratlos in die nachtblinde Scheibe starre, denke ich an einen Text von Jacques Derrida, in dem er ein Ringen mit dem Fremd-Sein beschreibt, seine Sehnsucht nach einem Ort, irgendwo in der Sprache, an den er immer zurückkehren könnte. Eine Abstraktion, die man sich wie eine warme Decke um die Schultern legen kann. Und ich denke an Diane, die es mit Zumutungen und Zuschreibungen zu tun hat, gegen die Derridas warme Decke vielleicht nicht viel kann. Die trotzdem sagt: Je vais m'en sortir. Ich schaff das. Die angetreten ist, sich in dieser Welt und notfalls gegen diese Welt zu verteidigen. Aus deren Mund die Idee von einem besseren Leben sehr konkret und unbedingt ist. Etwas, das hier zu finden sein muss.
Lena Müller hat in Hildesheim am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft studiert. Lena schreibt Features, Hörspiele und kulturjournalistische Texte und ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Timult - Récits, analyses et critiques.