Den Koran in die Schultüte? Herausforderung Islamunterricht

von Harry Harun Behr

 

In den vergangenen Jahren haben sich bundesweit unterschiedliche Modelle von Islamunterricht nach Artikel 7.3 des Grundgesetzes entwickelt, die sich im Erprobungsstadium befinden. Das betrifft die Bundesländer Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Diese Schulversuche befinden sich quasi „auf dem Weg“ zu einem Islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach. Was genau ist darunter zu verstehen?

Die rechtliche Situation

In Form von lokalen und regionalen Schulversuchen wird gegenwärtig Religionsunterricht für muslimische Schülerinnen und Schüler (fortan IRU) auf den Weg gebracht, der die Vorgaben nach Artikel 7 Absatz 3 des Deutschen Grundgesetzes simuliert. Für Länder nach Art. 141 GG („Bremer Klausel“) gilt hier ein anderer Gestaltungsrahmen. Simulation deshalb, weil die fünf genannten Länder eines der maßgeblichen Kriterien für einen derartigen Unterricht noch vermissen: einen geeigneten muslimischen Ansprechpartner. Nicht dass es ihn nicht gäbe – es gibt wohl zu viele.

Das spiegelt die sprach- und kulturräumliche, ein wenig auch die theologische Inhomogenität des in Deutschland gelebten Islams wider, was sich für die Rechtsabteilungen der Kultusministerien derzeit noch als Problem darstellt. Religionsgemeinschaften im Sinne von GG 7.3 entscheiden einerseits maßgeblich darüber mit, was und von wem in Sachen ihrer Religion unterrichtet wird.

Andererseits fällt die öffentliche Schule auch in den Bereich staatlicher Ordnungspolitik. Länder und Landeskirchen müssen also ihre jeweiligen Kompetenzen vertragsähnlich festlegen. Kooperationspartner mit der Signatur einer Islamischen Religionsgemeinschaft in spe sind beispielsweise in Bayern und Baden-Württemberg diejenigen Eltern, deren Kinder das – rechtlich gesehen rein staatliche – Angebot eines IRU als Schulversuch annehmen. Als Rechtsform genügt dort übergangsweise der eingetragene Elternverein.

Die türkisch-muslimischen Verbände in Deutschland, die sich selber als „Religionsgemeinschaften“ mit Vertretungsanspruch sehen, opponieren nicht gegen solche oder ähnliche Modelle, so lange gewährleistet bleibt, dass es sich um Übergangsmodelle hin zum IRU als ordentliches Lehrfach handelt.

IRU ist „ordentliches Lehrfach“

Der Islamische Religionsunterricht als Regelunterricht an der öffentlichen Schule erfolgt in deutscher Sprache. Auch die Kontaktsprache unter den Schülerinnen und Schülern soll Deutsch sein – nicht als Mittel der „Zwangsgermanisierung“, sondern um die religiöse Sprachfähigkeit im Kontext einer deutschsprachigen, religiös pluralen, diesbezüglich aber auch indifferenten, bisweilen intoleranten Umgebungsgesellschaft zu schulen – dies vor allem auch im sozialen Nahbereich der muslimischen Schülerinnen und Schüler.

Die türkisch-muslimischen Verbände in Deutschland, die sich selber als „Religionsgemeinschaften“ mit Vertretungsanspruch sehen, opponieren nicht gegen solche oder ähnliche Modelle, so lange gewährleistet bleibt, dass es sich um Übergangsmodelle hin zum IRU als ordentliches Lehrfach handelt.

Begriffsbildung ist mithin zentrales Unterrichtsprinzip. Die Lehrpläne sind für diesen Unterricht grundständig neu entwickelt, ministeriell genehmigungspflichtig und bezugswissenschaftlich anschlussfähig. Die Lehrkräfte unterliegen der entsprechenden Dienstordnung, sie führen Lernzielkontrollen durch und vergeben Ziffernnoten bzw. formulieren Leistungsprofile. Der IRU liegt in der Vormittagsstundentafel – parallel zu katholischem oder evangelischem Religionsunterricht. In den Ländern mit Ethik als Wahlpflichtfach entfällt diese Pflicht. Für den IRU als Simulation gilt, unbeschadet der Religionsmündigkeit, der Anmeldemodus: Eltern melden ihr Kind ausdrücklich zum IRU an; die Schülerinnen und Schüler werden nicht einfach nach Maßgabe des Bekenntnisvermerks in der Schülerliste zugewiesen (so der Fall beim christlichen Religionsunterricht, für den der Abmeldemodus gilt).

IRU-Lehrkräfte müssen muslimischen Glaubens sein

Der IRU wird von einer dafür qualifizierten Lehrkraft erteilt, die in der Lage sein muss, sich persönlich im Islam als Religion und Lebensweise verorten zu können. Das liegt daran, dass Religionsunterricht im eigentlichen Sinne neben informierenden auch so genannte verkündende wie auch habitualisierende Elemente haben sollte. Beispiel: Mit den Schülerinnen und Schülern wird über den Sinn des Betens gesprochen, tradierte Formen des muslimischen Gebets werden veranschaulicht und individuelle Zugänge auch zum persönlichen und frei formulierten Gebet erarbeitet.

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Schüler im Koranunterricht; Foto: Daniel Winkler

 

Darüber hinaus wird das Angebot gemacht, das rituelle muslimische Gebet (die Waschung, den Ablauf des Gebets, das Sprechen bestimmter Texte…) einzuüben. Das wird von muslimischen Eltern als Auftrag an den IRU formuliert, und zwar unabhängig davon, ob sie in Nähe zur Moschee oder eher in Distanz zu ihr leben. Dabei mag die Erfahrung des Bruchs in der kulturellen Tradierung des „Eigenen“ eine Rolle spielen. Aber beim IRU geht es nicht einfach nur um religiöse Unterweisung und nicht darum, Defizite in der häuslichen religiösen Erziehung zu kompensieren, sondern darum, Kopf, Herz und Hand der Schülerinnen und Schüler so zusammenzuführen, dass sich der größtmögliche Lernerfolg einstellt.

Das bildungstheoretische Profil des IRU

Die bayerischen Lehrpläne beispielsweise für den IRU in der Grundschule und in der Haupt-/Realschule sind aufeinander abgestimmt und von vornherein als Lehrpläne für Religion als ordentliches Unterrichtsfach im Sinne von GG 7.3 konstruiert worden. Als ihr bildungstheoretisches Leitmotiv gilt, „die Begegnung zwischen muslimischen Schülerinnen und Schülern und der Religions­lehre des Islams so zu arrangieren, dass die für eine freie individuelle Orientierung und Glaubens­entscheidung notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen vermittelt und geschult werden.“ (Fachlehrplan für den Schulversuch Islamunterricht an der bayerischen Hauptschule, s.u.). Lehrplan, Fachdidaktik und die ersten in Entstehung befindlichen Schulbücher fußen auf einer wissenschaftlich anschlussfähigen Theologie und Religionspädagogik, die eine positive Integration fördert und die die muslimischen Schülerinnen und Schüler gegen Formen ideologisch motivierter oder dogmatisch fixierter Inanspruchnahme immunisiert – ohne dabei das islamisch-theologische Profil von IRU durch politisch-konsensuale Paternalisierung zu verbiegen.

Der IRU zielt darauf ab, heranwachsende Musliminnen und Muslime in Deutschland zur konstruktiven gesellschaftliche Partizipation im Sinne eines zivilgesellschaftlichen Engagements in denjenigen Bereichen zu befähigen, die dem Islam als ihre religiöse Lebensweise im engeren Sinne zuzurechnen sind. Der IRU soll Fragen lebendig und Erkenntniswege offen halten, bei der Entfal­tung der eigenen Glaubenswelten helfen, einen Zugang zum Islam ermöglichen, und zwar durch Information und durch den Erlebnisbezug. Schließlich soll er dazu befähigen, sich frei, aber in persönlicher Verantwortbarkeit zum Islam als Religion und Lebensweise zu positionieren sowie kultursprachlich angemessen und verständlich darüber Auskunft erteilen zu können.

Das fachdidaktische Profil des IRU

Die Debatte um den IRU eignet sich nicht für die einschlägigen Scharmützel zwischen bekennenden Religionsunterrichtlern und Religionskundlern. Gerade für das Verständnis von IRU als Verkündigung dürfen seine kundlichen Elemente nicht vernachlässigt werden. Der IRU ist seinem pädagogischen Verständnis nach als erziehender Unterricht (Begriff nach Koch/Schorch 2004) konzipiert, was übrigens nicht das Privileg von religiös ausgerichtetem Unterricht ist, sondern Anspruch von Unterricht an sich. Der IRU übt eine Kultur des Fragens ein, von der Religion mehr lebt als von ihren Antworten – die Fragen nach dem Letzten, aber auch nach dem Verhältnis von theologischer Gewissheit und historischer Wirklichkeit, nach der Bedeutung religiöser Botschaft und ihrem Sinn im persönlichen Lebensbezug.

Religiöse Information ist vermittelbar, wobei der IRU mit steigender Jahrgangsstufe immer größeren Wert auf die Schulung von Quellen- und Methodenkompetenz legt. Wo religiöse Lehrmeinung präsentiert wird, muss sie aus ihrem historischen, sozialen oder kulturräumlichen Entstehungszusammenhang heraus plausibilisiert werden. Religiöses Wissen kann, auch im Sinne einer Reaktualisierung, daraus entstehen. Die subjektive Zuschreibung von religiöser Bedeutung unterliegt individuellen kognitiven und emotionalen Selbstorganisationsprozessen. Die Frage nach dem Glauben muss also – auch im IRU – zurückhaltend gestellt werden.

Ergänzend dazu treten Elemente der Anschauung, des Erlebens und des Bewertens: Die theologischen Inhalte des IRU werden um Themen des sozialen Nahbereichs herum gruppiert und dabei nicht selten auf vorrangig induktiven Lernwegen erarbeitet, sofern das möglich ist.

Schließlich gehört zum fachdidaktischen Profil eines IRU die Kultur des Einübens: Der habitualisierende Aspekt ist für einen IRU als Kunde sicher strittiger als für einen IRU als Verkündigung. Im Kontext schulischen Unterrichts wird damit auf das Angebot der Verinnerlichung abgehoben, der äußerliche Vollzug der religiösen, kultischen Handlung kann zu einer inneren, mentalen und denkend-durchdrungenen Repräsentanz führen. Er soll aber auch – einübender Handlungsvollzug als Ent-Äußerung – das Prinzip der Begriffsbildung unterstützen, da er durch angeleitete und systematisch erarbeitete Versprachlichung begleitet wird.

Das hochschuldidaktische Profil der Lehrerbildung für den IRU

Auch für den Campus gelten Grundsätze, wie sie für den schulischen IRU formuliert wurden: Information bereitzustellen, Quellen- und Methodenkompetenzen der Studierenden zu schulen, Begegnung zu arrangieren, das Gespräch zu moderieren, den Islam in seinem Gefüge als Religionslehre, als Philosophie, als Lebensweise in seinem jeweiligen kulturräumlichen Bezug und als Gegenstand öffentlicher Diskurse darzustellen, aber auch als Gegenstand benachbarter Bezugswissenschaften. Theologische Positionalität als Teil des normativen Anspruchs muss hier ihren gebührenden Platz einnehmen. Warum?

 

Viele der jungen muslimischen Studierenden treten mit einem dezidiert formulierten persönlichen Orientierungsinteresse in religiösen Fragen an. Sie denken dabei nicht zuerst an ihre Eltern oder an den Imam in der Moschee als Ansprechpartner. Für einige von ihnen ist der Seminarraum die erste Gelegenheit, sich aus ihrer Sicht zugleich theologisch authentisch und potentiell sanktionsfrei über den Islam zu informieren. Hier kommt es auf Kernkompetenzen an: Einfühlungsvermögen gewinnen, Perspektivenwechsel einüben, bezugswissenschaftlich differenzierte Zugänge kennen, in berufsfeldbezogenen Diskursen Sicherheit gewinnen…

Die in Deutschland nun anlaufenden Studiengänge für die Religion des Islams tragen dem Rechnung, wenn sie interdisziplinär angelegt sind. Das bedeutet: Die Studierenden müssen sich ihre Informationen zusammensuchen, und der theologische Kernbereich unterstützt sie dabei, dies sinnvoll zu integrieren (siehe für die Studienordnung des Fachs Islamische Religionslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg).

Das theologische Leitmotiv der Lehrerbildung für den IRU

Die gegenwärtigen pragmatischen Diskurse und realpolitischen Bewältigungsaufgaben, denen sich Deutschlands Muslime gegenüber sehen, haben Auswirkung auf die Theologie des Islams: Es geht dabei um neue Formen islamisch-theologischen Denkens, das in diejenigen gesellschaftlichen Felder hinein rekontextualisierbar bleibt, aus denen heraus es entsteht. Islamische Theologie, wie sie derzeit im Rahmen der universitären Lehre, insbesondere in der Ausbildung muslimischer Lehrkräfte geschieht, ist diskursiv und prozessual, indem sie Hilfestellung in gesellschaftlichen, sozialen und politischen Umbruchsituationen leistet. Sie stiftet durch Interpretation des Tradierten neuen Sinn und hilft dadurch den Menschen in ihren spezifisch religiösen Lebensweltbezügen, Kontinuität zu konstruieren – im Sinne einer Sinn stiftenden Deutung von Religion auch vor dem Hintergrund von Migration (vgl. dazu Behr 2007).
 

Literatur

  • Behr,Harry Harun: Curriculum Islamunterricht. Bayreuth 2005
  • Behr, Harry Harun: Grundriss islamisch-theologischen Denkens im Kontext der Bundesrepublik Deutschland. Zeitschrift für die Religionslehre des Islam. Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre. Heft 1 Jg. 1, Nürnberg 2007. 2-9.

  • Fachlehrplan für den Schulversuch Islamunterricht an der bayerischen Grundschule, genehmigt mit KMS vom 12. Juli 2004 Nr. III.7 – 5 O 4244 – 6. 23 573 Fachlehrplan für den Schulversuch Islamunterricht an der bayerischen Hauptschule, genehmigt mit KMS vom 7. November 2006 Nr. III.6 – 5 O 4344 – 6. 89 430

  • Koch, Lutz und Günther Schorch: Erziehender Unterricht. Eine Problemformel. Bad Heilbrunn 2004

Bild entfernt.

Harry Harun Behr war 15 Jahre als Lehrer in München tätig. 2005 wurde er zum Themenbereich Islam, Schule und Curriculumentwicklung promoviert. 2006 erhielt er die Professur für Islamische Religionslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg.