Ergrauende Säkulare, religiös vielfältige Jugend in den Städten - Das multireligiöse Deutschland 2020

 

von Michael Blume

Die Prognose

Im Jahr 2020 wird in Deutschland Konfessionslosigkeit vor allem eine Angelegenheit älterer Leute sein. In den jüngeren Generationen gilt Glauben dagegen wieder etwas und eine bunte, sich oft auch durch verbindliche Regeln und Kleidung voneinander abgrenzende Vielfalt an Gemeinden. Neben die (häufig säkularisierten oder zu anderen Gotteshäusern umgebauten) Kirchen früher dominanter Konfessionen sind, in Ringen um die Kernstädte, freikirchliche Neubauten, Moscheen, Synagogen und Tempel getreten, meist mit Kinderbetreuungs- und Schuleinrichtungen kombiniert. Religiöse Vielfalt prägt vor allem deutsche Städte, zunehmend deutsche Kultur und Politik und KandidatInnen suchen das Gespräch mit VertreterInnen aller Weltreligionen. Nur eine Vermutung? Nein, harte Fakten, die sich schon heute andeuten!

Zwei scheinbar widersprüchliche Trends: Säkularisierung und die Rückkehr der Religionen

Seit Jahrzehnten stellen WissenschaftlerInnen zwei anscheinend widersprüchliche Trends fest. Erster Trend: Säkularisierung findet weiter statt. Auch in den USA haben sich 13% der heute Erwachsenen aus der Religionsgemeinschaft, in die sie geboren wurden, in die Konfessionslosigkeit verabschiedet.1

Zweiter Trend: Weltweit gewinnen die Religionen an AnhängerInnen, wie in den USA, Indien und anderen Regionen färben sich auch in Europa Jugendkulturen wieder religiös, religiös bekennende PolitikerInnen gewinnen Wahlen. Wie passt das zusammen?

Der erklärende Zusammenhang: Religionen und Demografie

Der Zusammenhang der scheinbar widersprüchlichen Beobachtungen liegt in einem simplen Faktor, den der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899-1992) 1982 erstmals beschrieb: den im religiösen Wettbewerb geformten Zusammenhang von Religiosität und Demografie.2

Verbindliche Religionsgemeinschaften ermuntern ihre AnhängerInnen zu Ehe, Familien und Kindern. Denn wenn sie das nicht oder nicht erfolgreich tun, scheiden sie innerhalb kürzester Zeit aus dem ständigen Wettbewerb religiösen Entstehens und Vergehens. Wo immer Kinder ihre Funktion als Arbeitskräfte und Altersversorgung verlieren und zu Kostenfaktoren werden, entsteht so eine weltweite und quer durch die Kontinente und Religionen beobachtbare Korrelation aus Frömmigkeit und relativ höherer Kinderzahl.3

Religion & Demografie
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Datenquelle: Dominik Enste, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln 2007
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Mission ist gegen die Reproduktion nur eine scheinbare Alternative: denn überalternde Gemeinden werden auch von den letzten Jüngeren verlassen, die sich lieber Gemeinschaften anderer junger Leute und Familien anschließen. Ein Trend, der auch in deutschen Städten längst eingesetzt hat: Kinderreichtum und Missionserfolg wirken tendenziell in die gleiche Richtung.

Eigentlich nicht neu: Beispiel USA

Schon länger ist bekannt, dass die USA trotz fehlender Familienförderung viele Kinder haben, Deutschland dagegen noch sehr viel weniger. Und Demografen erklären das seit langem (bislang meist verschämt) mit der unterschiedlichen Rolle der Religionen.5 Welcher Faktor auch sonst könnte die hohen Kinderzahlen etwa von Amischen, Mormonen, evangelikalen Baptisten oder orthodoxen Juden erklären?

Deswegen geht die Säkularisierung gerade in den USA mit dessen strikter Staat-Kirchen-Trennung immer wieder ins Leere: Weil schrumpfende Gemeinschaften nicht durch staatliche Subventionen am Leben gehalten werden, ist der religionsdemografische Wettbewerb viel härter. Die konfessionslos Gewordenen hinterlassen deutlich weniger Kinder, dagegen rollen immer neue Generationen aus tief religiösen Familien demografisch erfolgreicher Gemeinschaften nach. Der gegen die Evolutionstheorie gerichtete Kreationismus in den USA kehrt nicht deswegen immer wieder, weil er gute, wissenschaftliche Argumente hätte - sondern weil KreationistInnen durchschnittlich deutlich mehr Kindern das Leben schenken. Aus rationalistischer und insbesondere auch evolutionstheoretischer Sicht übrigens eine paradoxe (und deshalb von säkularen Denkern noch nicht aufgearbeitete?) Ironie…

USA: Religion & Demogafie
Kinder im Haus? (Pew 2007)

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Grafik: Michael Blume, Datenquelle: Pew Forum on Religion & Public Life,
U.S. Religious Landscape Survey

Was Deutschland (bisher) von den USA unterschied, war also ein simpler Faktor: Fehlender, religiöser Wettbewerb. Entsprechend wenig Anreiz bestand für die Kirchen, sich der Situation der Familien wirklich anzunehmen, früher bewährte  Ideale (etwa der Alleinverdienerehe) zu überprüfen und Familien und Kinder als Kernkompetenz zu erkennen. Scheinbar hing das kirchliche Wohlergehen viel stärker von Steuermitteln als von der Lebensrealität der Familien ab. Auch diese Wirkung religiöser Monopole und Kartelle ist keine deutsche Spezialität: Wo immer Agrarwirtschaft (in der sehr viele Söhne aus ökonomischen Gründen gewünscht und Minderheiten vertrieben oder vernichtet wurden) durch moderne Marktwirtschaft (in der Kinder zu Kostenfaktoren werden, insbesondere, wenn Bildung wertvoll wird) ersetzt wird, brechen Geburtenraten und die Gottesdienstbesuchszahlen beim jeweiligen religiösen Monopolisten gleichermaßen ein.

So in Italien, Spanien, Griechenland, Polen und inzwischen auch den Balkanländern inklusive Albanien sowie Russland, Tunesien und auch dem Iran. Nur wenige Staaten (v.a. Frankreich, Schweden, Island) konnten durch aktive, staatliche Familienpolitik der demografischen Schwäche der religiösen Monopole einigermaßen entgegensteuern - freilich ohne das US-amerikanische Fertilitätsniveau zu erreichen. Die religiöse Vielfalt muss dagegen erst über Generationen hinweg wachsen, beschleunigt allerdings durch Migration in die schrumpfenden und alternden Gesellschaften.

Wachsender Anteil religiöser Menschen an der Migration

Auf globaler Ebene ist dieser Prozess bereits längst wirksam – und wirkt sich auf die Zusammensetzung der MigrantInnen aus. In „Sacred & Secular“ von 2004 maßen die Politikwissenschaftler Pippa Norris und Ronald Inglehart bereits das demografische Auseinanderklaffen religiöser und säkularer Gesellschaften. Bereits heute haben auch wohlhabende, religiöse Gesellschaften wie die USA oder Irland deutlich mehr Kinder als arme, säkularisierte Länder wie Russland oder Bosnien-Herzegowina. Der Anteil der Menschen an der Weltbevölkerung, die aus den Ländern mit den höchsten Werten an religiöser Selbsteinschätzung und Praxis (gemessen in den World Value Surveys) stammen, wächst bereits seit Jahrzehnten wieder auf Kosten der moderaten und vor allem säkularen Gesellschaften.6

Und das bedeutet schlicht: Unter jungen MigrantInnen weltweit steigt der Anteil religiös sozialisierter Menschen bereits heute an, denn die säkularen Gesellschaften stagnieren oder sind bereits in die Bevölkerungsschrumpfung übergegangen.

Bis 2020 wird sich nicht nur dieser Trend weiter verschärft haben – sondern die alternden Aufnahmeländer werden sich im zunehmend verzweifelten Werben um junge Talente und Arbeitskräfte Intoleranz gegenüber Religiosität und religiösen Minderheiten schlicht nicht mehr leisten können. Vielmehr wird ein breites Angebot an aktiven Gemeinden in repräsentativen Kirchen, Moscheen, Synagogen und Tempeln vor allem den entwickelten (und also auch deutschen) Großstädten als wichtiger Standortfaktor gelten, um junge Familien zu halten und weitere, dringend benötigte ZuwandererInnen zu gewinnen.

Die Situation heute: Religiöse Gemeinschaften wachsen

Schon heute beginnt sich das Bild in Deutschland (und nicht nur dort) sichtbar zu verändern: Nicht nur die Großkirchen und Konfessionslosen, sondern auch familienpolitisch traditionalistische Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas oder Neuapostolische Kirche implodieren demografisch.7

Die jungen Generationen stammen dagegen zu wachsenden Anteilen aus religiös verbindlichen, aber wirtschaftlich zunehmend als Doppelverdiener strukturierten Familien der Unter-, Mittel- und Oberschichten mit und ohne Migrationshintergrund: aus hoch verbindlichen Gruppen innerhalb der Großkirchen, aus nicht selten ethnisch einheitlichen Freikirchen, islamischen, jüdischen und weiteren Gemeinden.

Verbindliche, aber der Lebensrealität angepasste Ideale, Familienangebote und an Zielgruppen orientierte Gottesdienste, hoch engagierte (gelegentlich auch parallelgesellschaftliche) Einrichtungen für Klein- und Schulkinder, eine gewisse Abgrenzung zur „individualistischen“ Umwelt - schon heute erkennen wir wachsende Religionsgemeinschaften in Deutschland an diesen Merkmalen. Und auch die Kirchen beginnen sich zu bewegen - in diesen Tagen haben die katholische Diözese und evangelische Landeskirche in Baden ihre erste, gemeinsame Erklärung just zum Thema Familie veröffentlicht und darin unter anderem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch für Mütter nicht mehr etwa verurteilt, sondern ausdrücklich eingefordert…8

Die Situation 2020: Das Ende religiöser Monokulturen

Deutschland 2020 wird also, soviel ist schon abzusehen, keinesfalls einheitlich grau und sterbend sein, wie Pessimisten die Zukunft gerne zeichnen. Ebenso falsch sind Szenarien einer „Islamisierung“ - islamische Gemeinschaften im Aus- und Inland entwickeln sich völlig entsprechend ihrer christlichen Pendants und weisen mit sozioökonomisch-marktwirtschaftlicher Entwicklung ebenso den Einbruch der Geburtenraten und die Spreizung zwischen säkular-kinderarmen und religiös-kinderreicheren Populationen auf.9

Der Wahlsieg der islamisch-konservativen AKP in der Türkei geht genau auf diese demografische Implosion der religionsfeindlich-kemalistischen Milieus zurück, wogegen religiös gekleidete Türkinnen zusätzlich zum normalen Religion-Demografie-Effekt auch durch das generelle Kopftuchverbot an Universitäten von der Bildung ab- und den Familien zugewiesen wurden. Unter den ZuwandererInnen türkischer Herkunft in Deutschland erfolgte der Einbruch der Geburtenraten sogar noch schneller.

Deutschland und seine Muslime

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Der Islam wird also eine bedeutende, deutsche Minderheit (bis 2020 ca. 6-8% der Gesamtbevölkerung, konzentriert vor allem in den jungen Generationen und westdeutschen Städten), aber keineswegs eine Mehrheit. Vielmehr werden sich aus den Gemeinden einheimischer wie zugewanderter Glaubender in und um die schrumpfenden Städte eine Vielfalt konkurrierender, bunter Inseln des Lebens geformt haben: Religiös sichtbare, nicht selten auch fundamentalistische Gemeinschaften mit hoher Familienorientierung und Kinderzahl.10

Ähnlich wie in den USA werden Politiker keine Wahlen mehr gewinnen, die religiöse Minderheiten oder gar religiöse Menschen generell verprellen. Vielmehr werden insbesondere städtische KandidatInnen mit interreligiöser Kompetenz und zivilreligiöser Sprache gemeinsame Identität anzusprechen gelernt, aber auch handfeste, interreligiöse Konflikte zu lösen haben.

Wie groß der Anteil der angestammten Kirchen und differenzierten, universitären Theologien im Gegensatz zu schlichten, aber wirksamen Fundamentalismen an der deutschen Religionslandschaft 2020 noch sein wird, wird entscheidend davon abhängen, wie schnell und entschieden die Etablierten den Wettbewerb als Herausforderung annehmen, statt sich an lähmende Privilegien zu klammern. Religiöse Monokulturen werden um 2020 in Deutschland Schnee von gestern sein - wie ein Blick in die ganz alltäglichen Freundeskreise heutiger Stadtkinder schon zeigt.

Endnoten

1 Vgl. Religious Landscape Study des Pew Forum 2008.
2 Vgl. meinen Wissensblog-Beitrag zu F.A. von Hayek
3 Eine Auswahl von Datenquellen zum reproduktiven Vorteil von Religion(en) hier.
4 Dominik Enste, “Kinder - Auch eine Frage der Überzeugung”, iwd 13/2007
5 Vgl. Frejka / Westoff 2008: Religion, Religiousness and Fertility in the US and in: Europe in: European Journal of Population 24 / 1 – 2008
6 Vgl. Norris / Inglehart 2004. „Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide“, Cambridge University Press 2004, S. 234 f.
7 Vgl. Blume: Zwei neuapostolische Kirchen werden zu Moscheen - Folge traditionalistischer Familienpolitik 
8 Gemeinsame Erklärung zur Zukunft der Familie
9 Vgl. Blume: Haben Muslime mehr Kinder? - Zur Demografie des Islam in Deutschland.
10 Vgl. Religiöse Identität und Fundamentalismus in Europa, in: Deutschland & Europa 53, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2007 (S. 20 - 27)

 

 

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Dr. Michael Blume ist Religionswissenschaftler und forscht derzeit an der Universität Heidelberg zum Zusammenhang von Religionen und Demografie. Er betreibt zu diesem Thema den Wissenschaftsblog http://religionswissenschaft.twoday.net.