Sie sind erwachsen – zumindest laut Aussage der Behörden. Vier jungen Afghanen wird nach einer Altersfestsetzung der Anspruch auf Jugendhilfe abgesprochen. Damit verlieren sie das Recht auf Schulbesuch und Pflegefamilie.
Ruhig ist es um die Mittagszeit in der südniedersächsischen Gemeinde Friedland. Die ersten Sonnenstrahlen des Jahres locken die Menschen aus ihren Wohnungen. Vor einem kleinen Häuserblock sitzen drei Männer auf einer Bank und unterhalten sich, eine junge Frau geht mit ihrem Sohn im Kinderwagen spazieren. Kinder spielen auf der Straße, eine ältere Frau beobachtet das Geschehen vom Fenster aus. Eine typische Wohnidylle? Nicht ganz. Es ist das Grenzdurchgangslager in Friedland, ein vorübergehender Wohnort für Flüchtlinge, die noch nicht einem Landkreis zugeteilt wurden.
3.781 Menschen nahm die Erstaufnahmeeinrichtung in Friedland im Jahr 2011 bei sich auf. Einer von ihnen ist Navid (Name von der Redaktion geändert). Der junge Flüchtling und seine Familie gehören den Hazara an - einer in Afghanistan verfolgten Volksgruppe. Navids Vater wurde ermordet, als Navid ein Jahr alt war. Daraufhin floh seine Mutter mit ihm und seinen beiden Brüdern in den Iran. Vierzehn Jahre hat Navid in Afghanistans Nachbarstaat verbracht. Als Hazara hatte er auch dort eine schwere Zeit, oft wurden seine Brüder und er von der Schule ferngehalten. „Eines Tages hat uns die Polizei gezwungen, die Schule zu verlassen. Wir wurden über Nacht zu einem Camp gebracht“, übersetzt die Dolmetscherin aus dem Persischen. „Dort haben sie uns geschlagen und gefoltert.“ Daraufhin habe Navids Mutter beschlossen, dass er fliehen soll. „Ich habe hart gearbeitet, um mit dem gesparten Geld nach Deutschland zu kommen“, erzählt Navid. Der Weg sei gefährlich gewesen, die Hoffnung auf ein besseres Leben dafür umso größer. Doch hier muss er sich nun mit den Behörden um sein Alter streiten. „Immer werden mir Steine in den Weg gelegt“, sagt Navid seufzend.
Altersfestsetzung macht Jugendliche zu Erwachsenen
Der Jugendliche ist laut eigener Aussage 16 Jahre alt, die Behörden glauben ihm nicht. Wäre er mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen, hätte kein Zweifel an seinem Alter bestanden. Doch ohne Verwandtschaft und Papiere kann Navid sein Alter nicht beweisen. Deshalb musste er zu einer Untersuchung für Altersfestsetzung, um mithilfe von Befragungen und medizinischen Untersuchungen das ungefähre Alter von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen feststellen zu lassen. Danach stand für die Behörden fest, dass Navid volljährig ist.
Auch bei Walid (Name von der Redaktion geändert) musste das Alter in einer ärztlichen Untersuchung festgestellt werden. „Ich fand das furchtbar“, sagt er. Die Untersuchung habe ihn sehr gestört. Zur Bestimmung des Alters röntgen Mediziner die Weisheitszähne, das Schlüsselbein oder die Handwurzelknochen. Mitunter überprüft der Arzt auch die Entwicklung der äußerlichen Geschlechtsmerkmale. „Ich musste mich ausziehen, das war echt unangenehm“, erzählt Walid.
Dass das genaue Alter eines Menschen mit einer solchen Untersuchung festgestellt werden könne, glaubt er nicht. „In Afghanistan arbeiten wir als Kinder, deshalb sehen wir natürlich robuster aus.“ Außerdem habe er Babys gesehen, die mit Zähnen geboren worden seien. „Wenn man bei denen später mal eine Zahnuntersuchung macht, wie viel älter werden die dann wohl geschätzt?“
Die Behörden seien in der Lage, mithilfe von strikterer Alterseinschätzungen die Zahl der Jugendlichen zu reduzieren, die von den Jugendämtern in Obhut genommen werden müssen, schreibt der Flüchtlingsrat in seiner Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen. Oft sei daher nicht der Förderbedarf der Flüchtlinge ausschlaggebend für die Alterseinschätzung und für die Ermittlung des Jugendhilfebedarfs, sondern die eingeschränkten Aufnahmemöglichkeiten der Ämter. Wird festgestellt, dass der unbe¬gleitete Flüchtling keiner Jugendhilfe bedarf, wird er an eine Landesaufnahmebehörde weitergeleitet.
Geburtsurkunde per Facebook: ohne Papiere kein Beweis
Bei seiner Ankunft hat Walid angegeben, dass er 16 Jahre alt ist. Aber das konnte er nicht beweisen. „Die halten mich für volljährig“, sagt er. Seine Geburtsurkunde befindet sich in Afganistan bei seinem Onkel, der mit seiner Mutter zusammenlebt. Eine Kopie hat er per Facebook erhalten, sie befindet sich jetzt beim Anwalt. „Ich bin nur bis zum dritten Jahr in die Schule gegangen und kann meine eigene Geburtsurkunde nicht lesen“ sagt Walid. „Woher soll ich dann wissen, wie alt ich bin?“
Die Geburtsurkunde des 17-jährigen Sami (Name von der Redaktion geändert) ist bei einem Umzug verloren gegangen. Mit 16 Jahren hat er Afghanistan verlassen, nun wohnt er seit drei Monaten im Grenzdurchgangslager in Friedland. Als er nach Deutschland kam, habe man ihm beim Jugendamt gesagt, dass er aufgrund fehlender Papiere für eine Altersfeststellung untersucht werden müsste. „Das ist dann aber nicht passiert“, erzählt Sami. „Man hat mich einfach so für erwachsen befunden.“ Erst der Anwalt konnte eine Untersuchung durchsetzen. Auf das Ergebnis wartet Sami noch.
Tränen und Postkarten: von der Pflegefamilie zurück ins Lager
„Ich bin gerade erst siebzehn Jahre alt geworden“, beteuert Mehran (Name von der Redaktion geändert). Er zupft unruhig an seiner Lederjacke und kippelt mit seinem Stuhl. Er wirkt gestresst. Dass die Behörden ihn für einen Lügner halten, kränkt den jungen Flüchtling. Doch Mehrans Ehrlichkeit ist nicht alles, was in Folge der Altersfestsetzung auf dem Spiel steht.
Mit Volljährigkeit entfällt für Flüchtlinge der Anspruch auf Jugendhilfe. Das Jugendamt kann sie nicht in Obhut nehmen oder an Pflegefamilien vermitteln. Manchmal werden die Schützlinge ihren Pflegefamilien regelrecht entrissen. Davon kann Mehran ein Lied singen. Drei Monate hat er in einer Pflegefamilie im nah gelegenen Göttingen gewohnt. Doch im März kam das Ergebnis der Altersfestsetzung: Mehran ist volljährig. Zumindest laut Aussage der Behörden. Mehram musste die Familie verlassen, er wurde zurück ins Grenzdurchgangslager in Friedland gebracht. In der Familie habe er sich sehr wohl gefühlt, trotz anfänglicher Sprachbarrieren. „Ich konnte nichts verstehen und sie mich natürlich auch nicht“, erzählt er. „Aber als ich dann gehen musste, haben wir alle geweint.“
Einmal die Woche würde ihn das ältere Paar besuchen, manchmal bekomme er Postkarten. Sein Pflegevater hatte ihm sogar einen Job in seiner Firma angeboten. „Sie sind wirklich sehr hilfsbereit und engagiert“, sagt Mehran dankbar. „Und sie hätten mich gerne bei sich behalten.“
Der Job, die Familie – das alles wird Mehran nun verwehrt. Sein Leben in Friedland sei bedrückend. „Ich bin verunsichert“, gibt er zu. „Ich weiß nicht, wohin ich komme, in welche Stadt, in welchen Ort. Vielleicht muss ich auch wieder nach Italien.“ Denn auf seiner Flucht von Afghanistan nach Deutschland kam Mehran unter anderem durch Italien. Dort hat er bei den italienischen Behörden einen Fingerabdruck hinterlassen. Deshalb ist es möglich, dass als Erstaufnahmeland nicht Deutschland, sondern Italien für ihn zuständig ist. „Am liebsten würde ich natürlich in Göttingen bei meiner Pflegefamilie bleiben“, sagt er.
Verwehrter Schulbesuch
Auch Walid, der sich mit Mehran und Navid in Friedland ein Zimmer teilt, wäre lieber in Göttingen geblieben. Dort hat er zunächst für drei Monate in Obhut des Jugendamtes im Heim gewohnt. Doch seit seiner Altersfestsetzung vor etwa zwei Monaten muss er wieder in Friedland wohnen. Einige seiner Freunde aus dem Heim wohnen inzwischen in einer eigenen Wohnung im Göttinger Stadtteil Geismar. „Warum sollen wir Lügner sein und die nicht?“, fragt er wütend. „Was haben wir denn getan, dass wir das nicht haben dürfen? Die haben ein besseres Leben, das will ich auch.“
Zu einem besseren Leben gehört für die vier Flüchtlinge auch der Schulbesuch. „Wir mussten im Heim nur sauber machen und aufräumen“, berichtet Walid. „Wir haben den Betreuern gesagt, dass wir Deutsch lernen wollen. Doch die haben das immer aufgeschoben.“ Er würde gern zur Schule gehen und studieren. „Was ist denn der Unterschied, ob ich minderjährig oder volljährig bin?“, fragt er verwundert. „Ich möchte mich einfach nur frei entwickeln können.“ Tatsächlich sehe das Sozialgesetzbuch „im Bedarfsfall ausdrücklich Hilfen über das 18. Lebensjahr hinaus“ vor, heißt es in der Broschüre des Flüchtlingsrates. Nur werde für über unbegleitete Flüchtlinge über 16 Jahren „erstaunlich selten“ Jugendhilfebedarf bestätigt.
Mehran ist der einzige der vier jungen Afghanen, der für kurze Zeit in die Schule gehen durfte. Der Unterricht an einer Abendschule mit neun anderen Jungen habe ihm Spaß gemacht. „Eigentlich darf ich nicht mehr hingehen“, erzählt er und fügt grinsend hinzu: „Ich tue es trotzdem.“
Auch Navid darf wegen der Untersuchungsergebnisse der Altersfestsetzung nicht in die Schule gehen und muss bis zu einer endgültigen Entscheidung im Grenzdurchgangslager in Friedland leben. Deshalb lernt er privat mit anderen Flüchtlingen Deutsch. Inzwischen kann er sich in der fremden Sprache einigermaßen verständlich machen. „Ich bin sehr lerndurstig“, begründet er seinen Lernfortschritt. „Ich möchte mich weiterbilden.“ Er habe trotz seiner schrecklichen Kindheit und unangenehmer Erfahrungen grundsätzlich eine positive Einstellung zu seinem Leben. „Ich möchte nicht nur Gutes für mich tun, sondern auch für die Gesellschaft.“
Sami lernt einmal die Woche Deutsch mit einer Lerngruppe im Grenzdurchgangslager. Das Leben in Deutschland hat er sich etwas anders vorgestellt. Für ihn sei Deutschland eigentlich ein Land gewesen, in dem Menschenrechte einen hohen Stellenwert haben. „Wenn das stimmt, sollten wir doch auch wie Menschen behandelt werden“, findet er. „Gleichberechtigung ist das jedenfalls nicht.“
Grenzdurchgangslager Friedland: ein „goldener Käfig“
Sie möchten ein Leben ohne Krieg. Eine Umgebung ohne Furcht und Angst. Einfach ein Leben. „Gutes Essen haben wir schließlich schon in der Heimat bekommen“, scherzt Mehran. Doch sein Gesicht wird schnell wieder ernst: „Wir sind wegen der Sicherheit hier.“ Zur Erinnerung an seine Heimat trägt er die afghanische Flagge als Kette um den Hals. Ob er jemals wieder einen Ort sein Zuhause nennen kann, weiß er nicht. „Wir verbringen unsere besten Jahre in Ungewissheit“, sagt er. Sein Wunsch für die Zukunft ist es, ein positiver Mensch zu werden. „Wenn wir ständig deprimiert sind, macht uns das später vielleicht zu schlechten Menschen“, meint Mehran. „Das will ich nicht.“
Sami fängt bei seinen Wünschen lieber klein an: Er kann sich eine berufliche Laufbahn im kaufmännischen Bereich vorstellen. „Businessman“, nennt er das. Eine Mitgliedschaft in der Stadtbibliothek hätte er auch gerne. Mehran lacht. „Lern erstmal Deutsch, dann kannst du Bücher ausleihen“, scherzt er wohlwollend.
Sie hätten doch eigentlich nicht besonders viele Wünsche, findet Walid. Er versteht nicht, wieso er nicht behandelt werden kann wie andere Menschen auch. „Wir sind Kriegskinder, wir hatten große Erwartungen an Deutschland“, erklärt er seine Enttäuschung. „Aber hier sind wir benachteiligt. Ich sehe keine Zukunft.“ Auch Navid ist skeptisch. „Unsere Wünsche sind doch eigentlich schon begraben“, befürchtet er. „Aber ich hoffe, dass sich das Gesetz ändert, damit andere minderjährige Flüchtlinge es einfacher haben.“
Die Idylle, die der äußere Blick auf die Flüchtlingswohnanlagen verspricht, können die vier Jungen nicht genießen. Zu groß sind ihre Sorgen und Probleme. Ein unbeschwertes Leben scheint noch weit entfernt. Dabei sei ihr Zimmer eigentlich ganz hübsch. „Die Zimmer hier sind sauber und ordentlich“, sagt Walid. „Aber ein Lager ist es eben trotzdem.“ Sie seien dankbar, dass sie in Deutschland ein sicheres Leben ohne Beleidigungen und Verfolgung führen können. Nur Möglichkeiten, ihr Leben zu entfalten, hätten sie nicht. „Wir leben in einem goldenen Käfig“, erklärt Mehran. „Wir sind sicher, aber nicht frei.“
Grenzdurchgangslager Friedland
Neben Braunschweig gehört das Grenzdurchgangslager Friedland (GDL) zu einer der beiden einzigen Erstaufnahmeeinrichtungen in Niedersachsen. Die im Landkreis Göttingen liegende Einrichtung wurde am 20. September 1945 gegründet und hat seitdem mehr als 4 Millionen Menschen aufgenommen, weshalb sie auch als „Tor zur Freiheit“ bezeichnet wird. Ein hoher Anteil der aktuell in Friedland lebenden Flüchtlinge sind deutsche Minderheiten aus Ost- und Südeuropa – sogenannte Spätaussiedler. Denn das GDL ist deutschlandweit die einzige Erstaufnahmeeinrichtung für Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen.
Federica Guccini studiert Ethnologie und Ägyptologie an der Universität Göttingen. Auf das Problem der Altersfestsetzung wurde sie bei einer Veranstaltung zur niedersächsischen Asylpolitik der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen aufmerksam.