von Catherine Morawitz
Die Grundidee von Nightingale ist recht simpel: StudentInnen, die meisten von ihnen angehende LehrerInnen, übernehmen für ein Schuljahr eine Art Patenschaft für ein Kind mit Migrationshintergrund. Am Anfang eines Durchgangs werden die Paare aus MentorInnen und Kindern (Mentees) ausgewählt. Diese treffen sich daraufhin einmal die Woche, um gemeinsam etwas zu unternehmen und ihre Stadt zu entdecken. Nebenbei finden regelmäßige Evaluationen mit den anderen TeilnehmerInnen, den LehrerInnen der Kinder und den InitiatorInnen des Projekts statt.
Ich selbst bin keine Studentin der Pädagogik, doch das Projekt hatte mein Interesse sofort geweckt. Ich habe schon immer gern mit Kindern gearbeitet, und mich reizte der Ansatz, einmal einen jungen Menschen mit einem völlig anderen sozialen und kulturellen Hintergrund näher kennen zu lernen. Besonders die ersten Annäherungen zwischen meinem Mentee und mir waren spannend und für die restliche Zeit äußerst prägend, so dass ich vor allem die Anfangsphase mit ihren Aufs und Abs, den kleinen Enttäuschungen und umso erfreulicheren positiven Wendungen wiedergeben möchte.
Kennenlern-Tag
Ich erinnere mich noch ziemlich genau an den Tag, an dem wir unsere Patenkinder kennen lernen durften. Wir trafen uns an einem Nachmittag im Dezember in der Aula der Otto-Wels-Grundschule in Kreuzberg. Die Lehrerinnen und die KoordinatorInnen des Projekts hatten sich viel Mühe gegeben, um alles nett herzurichten und das Zusammentreffen zwischen uns, den MentorInnen, und unseren zukünftigen Mentees so angenehm wie möglich zu gestalten.
Der Geruch von frisch gebrühtem türkischen Tee stieg mir in die Nase. Ich ging in den Nebenraum und da saßen schon einige der Kinder in einem großen Kreis, immer die Nähe und Blicke ihrer Eltern suchend, die ihre Schützlinge an dem Tag begleitet hatten und nicht weniger neugierig auf das Projekt schienen. Und auch wenn die meisten der Kleinen ein wenig verschüchtert wirkten, so merkte ich doch, wie sie mich und die anderen StudentInnen mit großen neugierigen Augen musterten, als wir uns zu ihnen in den Kreis setzten. Nur einer der Jungs schien sich nicht so recht zu trauen, mit uns in Blickkontakt zu treten, er wirkte sehr verschlossen und sein Kopf blieb während der ganzen Zeit gesenkt. Sein Name war Ahmed*. Er sollte später mein Mentee werden.
„Das wird eine harte Nuss“, dachte ich mir gleich. Bei unserem ersten Gespräch redete ich mir dann den Mund fusslig und war über jede Reaktion seinerseits, war es auch nur ein kurzes Nicken, ziemlich erleichtert. Sein Vater, den ich als sehr nett und aufgeschlossen empfand, klopfte ihm zwischendurch immer wieder aufmunternd auf die Schulter, aber auch das half nicht allzu viel. Am Ende der Veranstaltung gab Ahmed mir zumindest freundlich die Hand und wir verabredeten uns für die kommende Woche bei ihm zu Hause. Ich verließ die Schule mit gemischten Gefühlen.
Ahmeds Familie – die erste Hürde?
Ungefähr eine Woche später machte ich mich zum ersten Mal auf den Weg zur Wohnung seiner Familie. Ich freute mich auf das Zusammentreffen. Mittlerweile hatte mich der Ehrgeiz gepackt, und ich hatte mir fest vorgenommen, meinen neuen Freund aus seinem Schneckenhaus zu locken. Ich fuhr wieder in Richtung Otto-Wels-Grundschule, vorbei an gemütlichen Cafés, schönen Fassaden und jungen, unbeschwerten Menschen. Vorbei an dem Kreuzberg, das ich kenne und liebe. Ich fuhr weiter und bald bestimmten graue Betonbauten das Bild. Ja, auch das ist Kreuzberg.
Seine Mutter öffnete die Tür und strahlte mich an. Ihr Deutsch war nicht besonders gut, aber wir verstanden uns auf Anhieb. Hinter ihr warteten gespannt ihre zwei Kinder, die kleine Belma und Ahmed, der an diesem Tag deutlich entspannter wirkte als noch bei unserem ersten Treffen. Wir setzten uns zum Vater an den Tisch und fingen sofort an, über alles Mögliche zu sprechen, es war erstaunlich einfach. Die Eltern fragten mir Löcher in den Bauch, und Belma zwickte mir ab und zu frech in die Seite. Ich fragte Ahmed, ob er auf etwas Bestimmtes Lust hätte, er murmelte daraufhin etwas von „Spazieren gehen“, und so zogen wir uns an, um eine Runde um den Block zu drehen. Nur wir beide allein.
Unsere ersten Gespräche verliefen zugegebenermaßen ein wenig holprig, aber ich freute mich, dass er überhaupt mit mir redete. Nach einer Weile schien er regelrecht aufzutauen und erzählte von seinen Lieblings-Fußballspielern, zeigte mir seinen Sportplatz und den Imbiss, bei dem er sich manchmal nach der Schule einen Döner holte. Ich war erleichtert, hatte ich doch die etwas befangene Situation der letzten Woche noch im Gedächtnis.
Seine Ausdrucksfähigkeit in Deutsch empfand ich als nicht sonderlich gut, aber ich bohrte einfach nach, wenn ich etwas nicht verstand. Manchmal fragte er mich nach bestimmten Wörtern, die ihm entweder entfallen oder gänzlich unbekannt waren, so wurde unser gemeinsamer Nachmittag auch gleich zu einer kleinen Lehrstunde. Wir machten nichts Konkretes für unser nächstes Treffen aus, es war einfach schön zu sehen, wie gelassen sich Ahmed in seiner gewohnten Umgebung gab. Ich hatte ihn ein paar Mal gefragt, ob es irgendetwas gäbe, dass er unbedingt machen wollen würde, aber meistens sah ich nur lauter kleine Fragezeichen über seinem Kopf tanzen und bekam ein leichtes Schulterzucken als Antwort.
Das zweite Treffen – ein Geschmackserlebnis interkultureller Art
Schon im Treppenhaus des Gebäudes stieg mir ein himmlischer Geruch in die Nase – dessen Quelle offenbarte sich mir, als Ahmeds Mutter wieder mit einem breiten Lächeln im Gesicht die Tür öffnete. Der Vater erklärte, sie hätten Börek gemacht und fragte mich, ob ich das kennen und mögen würde. Ich kannte es, aber noch nie wurde es frisch vor meinen Augen aus dem Ofen geholt, noch nie schmeckte es so gut. Alle warteten gespannt auf meine Reaktion, als ich mir das erste Stück in den Mund schob. Ich ließ mich mit verdrehten Augen in den Stuhl zurückfallen und stieß ein langes „mmmmmmmmmmhhhhh“ aus, daraufhin brachen vor allem die Kinder in Gelächter aus. Ich übertrieb nicht, es war großartig.
Auch ich leistete meinen Beitrag zum kulinarischen Kulturaustausch dieses Nachmittags und brachte eine Dose selbst gebackener Weihnachtsplätzchen mit. Wir saßen über eine Stunde am Tisch, und ich erfuhr mehr und mehr über meinen Mentee und seine Familie: Ahmeds Vater wurde vor fast 40 Jahren in Deutschland geboren und fand eine Halbtagsstelle als Hausmeister an einer Schule, seine Frau lernte er in der Türkei kennen, und sie folgte ihm vor ungefähr acht Jahren hierher. Ich muss zugeben, dass es mich zunächst wunderte, wie wenig Deutsch sie nach all den Jahren gelernt zu haben schien, aber sie erzählte mir, dass sie gerade einen Kurs absolvieren würde und man merkte, wie sehr sie sich anstrengte, unseren Gesprächen zu folgen und auch selbst zu reden. Ich fragte mich, ob sie sich wohl ganz allein um Kinder und Haushalt kümmern müsse, wie man es bei vielen türkischen Frauen vermutet. Und ob die Familie ansonsten Kontakt zu deutschen Personen pflegen oder ab und zu mal Deutsch untereinander sprechen würde?
Im Vorfeld des Projekts hatten wir erfahren, dass 90 Prozent der SchülerInnen der Otto-Wels-Schule einen Migrationshintergrund haben. Die meisten von ihnen stammen aus türkischen Familien, und es kommt nicht selten vor, dass auch nach Jahren überhaupt keine Deutschkenntnisse, geschweige denn Kontakt zu deutschen Mitmenschen, vorhanden ist. Sicher, wie oft hat man das schon gelesen oder davon gehört. Doch ich fand die bisherigen medialen Debatten oft plump und wollte mich nicht mit den üblichen Verallgemeinerungen abfinden. Dafür erschien mir das Thema zu komplex, und ich hatte zu wenig persönliche Erfahrungen vorzuweisen. Ich sah in Ahmeds Familie jedenfalls nicht die stereotype türkische Familie, die auf Kosten des Staates lebt und jede Integration in die Gesellschaft ablehnt. Dass derartige Fälle existieren, bezweifle ich nicht. Doch gehört zur Teilnahme an einem Projekt wie Nightingale nicht eine große Portion Offenheit von beiden Seiten? Eine Lehrerin berichtete mir, dass es in den vergangenen Jahren weitaus mehr interessierte Familien als Mentoren gegeben hätte.
Dass es massive Probleme in den so genannten sozialen Brennpunkten gibt, lässt sich nicht leugnen. Und wäre Ahmeds Familie ein leuchtendes Beispiel gelungener Integration, dann hätte ich an jenem Tag nicht in deren Küche gesessen und wäre seine Mentorin geworden. Ich bekam beispielsweise mit, dass der Fernseher im Hintergrund oft nur türkische Laute von sich gab; dass der Vater nur türkische Lieder sang. Wie sollten die Kinder da ihr Deutsch verbessern? Und hatten sie wohl jemals einen anderen Stadtbezirk Berlins kennen gelernt? Alle Aktivitäten, von denen sie mir erzählten, spielten sich entweder in Kreuzberg oder Neukölln ab. Genau das wollte ich nun ändern. Ich wollte meinem Mentee helfen, seine Stadt zu entdecken und ihm zeigen, wie groß und vielfältig Berlin ist.
Abenteuer zwischen Rodelbahn und Zuckerwatte
Nach unserem Plausch fuhr ich mit Ahmed noch zum Weihnachtsmarkt am Potsdamer Platz. Es war meine Idee und ich musste all meine Überredungskunst einsetzen, um ihn überhaupt aus der Bude zu locken. Es waren nur drei Stationen mit der Bahn, und der dortige Markt erschien mir nicht ganz so nervtötend wie so manch andere in der Stadt, außerdem warb man dort mit allerlei sportlichen Attraktionen.
Seine anfängliche Lustlosigkeit enttäuschte mich. Doch ich merkte immer wieder, wie er halb ängstlich, halb verzückt zu der großen Rodelbahn schielte, die man mit großen Gummireifen hinunter fahren konnte. Ich fragte ihn, ob er das mal ausprobieren wolle. Er verneinte und gab mir zu verstehen, dass das doch ganz schön hoch wäre und ihm Angst mache. Das erstaunte mich etwas. Ahmed war schon zwölf und nicht wenige der Kinder auf der Rodelbahn waren gerade mal halb so alt wie er, manche konnten gerade so ihren Kopf aus den großen Reifen strecken. Es dauerte eine halbe Stunde, dann nahm er all seinen Mut zusammen und stiefelte mit mir zum Schalter. Wir kauften die Tickets und machten uns auf den Weg nach oben. Auf halbem Wege blieb er auf einmal stehen, hielt sich verkrampft am Geländer fest und flüsterte mir wieder zu, dass er Angst hätte. Ich wollte ihn zu nichts zwingen und so traten wir beinahe unseren Rückweg an, aber das stellte ihn auch nicht richtig zufrieden. So ging es hin und her, am Ende einigten wir uns darauf, die erste Rutschpartie gemeinsam zu absolvieren, Hand in Hand. Ahmed schrie unheimlich laut, als es losging. Ich schrie daraufhin einfach mit, es muss den gesamten Weihnachtsmarkt aufgeschreckt haben. Unten angekommen, erkannte ich ihn kaum wieder. All die Anspannung hatte sich aus seinem Gesicht gelöst, er wirkte sichtlich glücklich. Dann war er auf einmal weg und ich fand ihn vor dem Ticketschalter wieder, wo er Karten für die nächste Runde ordern wollte.
Als ich ihn nach Hause brachte, konnte er es kaum erwarten, allen von seinen Erlebnissen zu erzählen. Es war ein wahrer Redeschwall, der da aus ihm heraus brach, sobald seine Eltern die Tür öffneten. Auf den Fotos, die ich gemacht hatte, sah das Ganze dann auch hochdramatisch aus und Ahmed war so unglaublich stolz! Eine Sache blieb mir an dem Abend besonders in Erinnerung: Seine Mutter saß am Tisch und lachte, als ihr Sohn da wild gestikulierend seine abenteuerliche Rutschpartie nachspielte. Danach drehte sie sich um und flüsterte mir in gebrochenem Deutsch zu, dass sie Ahmed selten so ausgelassen erlebt hätte, vor allem im Beisein von anderen Leuten, die nicht zu seiner Familie gehörten. Und das machte mich nun ein wenig stolz.
Das Schuljahr mit Nightingale
In Ahmed steckte also ein kleiner Abenteurer, ich glaube er wusste es nur selbst noch nicht so ganz. Wir unternahmen in den kommenden zehn Monaten fast jede Woche etwas miteinander: Wir gingen ins Schwimmbad, zum Fußball und Bowling, liefen Schlittschuh und spielten Minigolf. Die sportlichen Aktivitäten kamen bei ihm am besten an, und obwohl er nicht der Fitteste war und es ihm meist an Körperbeherrschung mangelte, probierte er seit seinem Erfolgserlebnis auf dem Weihnachtsmarkt zumindest alles aus und gab nicht gleich auf, wenn etwas nicht auf Anhieb klappte.
Ich versuchte immer, ein wenig Abwechslung in unser wöchentliches Programm zu bringen und schlug Sachen wie eine gemeinsame Foto-Exkursion oder einen Koch-Nachmittag vor, aber für solche Ideen konnte ich ihn nicht gewinnen. Es ärgerte mich manchmal, dass er einige Vorschläge so kategorisch ablehnte, aber im Endeffekt war er eben ein zwölfjähriger Junge, und seine Interessen erschienen mir demnach nicht sonderlich untypisch. Wäre es nach ihm gegangen, hätten wir wohl jede Woche Fußball gespielt. Am besten auf dem Platz um die Ecke. Doch das war nicht Sinn und Zweck des Programms und so setzte ich mich durch und erwarb unter anderem seine Zustimmung für einen Besuch des Berliner Fernsehturms und einige Nachmittage im Kino, wo wir uns Filme auf Deutsch ansahen. Er erzählte mir, dass er schon ein paar Mal mit seiner Familie in einem Kino in Neukölln gewesen sei, wo auch viele türkische Filme gezeigt würden. Er fragte mich, ob wir nicht dorthin gehen könnten, aber das lehnte ich ab.
Es kam ein paar Mal vor, dass er mir provokativ seine Lustlosigkeit demonstrierte, wenn ich ihn für unsere gemeinsamen Aktivitäten zu Hause abholen wollte. Ich nahm das anfänglich persönlich, später wurde mir jedoch bewusst, dass es ihm wahrscheinlich einfach an Vorstellungskraft fehlte. Er wusste mit einigen der Sachen, die wir unternahmen, im Vorfeld schlichtweg nichts anzufangen. Fast immer machte es ihm dann aber großen Spaß, und ich brachte am Ende des Tages ein glückliches Kind zu seinen Eltern zurück. Seine Schwester war auch öfter dabei, da sie zu Beginn oft traurig war, wenn Ahmed und ich sie zurückließen. Zu dritt hatten wir einige der schönsten Erlebnisse. Beide nahmen beispielsweise an einem „Schokoladen-Workshop“ teil, bei dem sie etwas über den Ursprung und die Herstellung von Schokolade lernten. Als krönenden Abschluss durften sie dann zwei Tafeln ihrer Wahl selbst kreieren, ihnen standen Formen, flüssige Schokolade und eine breite Palette an Zutaten zur Verfügung. Ich war fast ein bisschen neidisch, durfte ich als Erwachsener doch nur zugucken. Die „Marshmellow-Gummibärchen-Smarties-Schokolade“, die mir die beiden danach stolz unter die Nase hielten, wollte ich dann aber doch nicht unbedingt probieren.
Ich denke sehr gern an diese Nachmittage mit Ahmed zurück. Natürlich kam nicht alles gleich gut bei ihm an, jeder Mensch hat bestimmte Vorlieben. Die Finger in ein Becken aus Schokolade zu dippen, hätte mir sicher auch mehr Spaß gemacht, als die halbe Stunde Schlange stehen vor dem Fernsehturm. Doch auch wenn er es dort „total langweilig“ fand, wie er immer wieder betonte, hatte es ihm vielleicht ein Stück weit die Augen geöffnet, wenn auch unterbewusst. Einmal zu sehen, wie riesig seine Stadt ist, hat ihn sicher beeindruckt und gezeigt, dass Berlin mehr ist als die Gegend um die Prinzenstraße und das Kottbusser Tor.
Der wöchentliche Kampf mit Stift und Papier
Über all diese Aktivitäten sollten wir gemeinsam ein Tagebuch führen: Mit vielen Fotos, Eintrittskarten und sonstigen Erinnerungsstücken, um das Erlebte und Gelernte lebhafter zu dokumentieren. Ich empfand diese Aufgabe schnell als sehr schwierig zu erfüllen. Es wäre kein Problem gewesen, hätte ich mich allein um den schriftlichen Teil gekümmert. Ahmed mochte es, für meine Fotos zu posieren und malte auch gern die lachenden Gesichter aus, die ich in unser Buch zeichnete. Aber ihn selbst zum Schreiben zu bewegen, das war fast unmöglich.
Er versuchte es auf mein Drängen ein paar Mal, aber ich musste ihm sogar die einfachsten Wörter Schritt für Schritt buchstabieren, und selbst dann kam oft ein unleserliches Kauderwelsch dabei heraus. Ich habe von den anderen MentorInnen Ähnliches gehört, alle schienen große Probleme zu haben, die Kinder zum Schreiben von einfachen deutschen Texten zu animieren. Seine Eltern wussten offensichtlich von dem Problem, doch sie wirkten auf mich, als fühlten sie sich dem gegenüber machtlos. Die Mutter sprach die Sprache ja selbst kaum.
Rückblick - „Immer wieder, ja!“
Meine Zeit mit Nightingale ist mittlerweile um. Wir trafen uns diesen Sommer ein letztes Mal und veranstalteten ein Abschiedsfest für unsere Mentees, die uns sehr ans Herz gewachsen waren.
Ob ich das Projekt weiterempfehlen würde? Ja! Immer wieder, ohne zu zögern! Junge Menschen sind von Natur aus neugierig und wollen ihre Umwelt entdecken, Abenteuer erleben und ihre Grenzen austesten, das ist die natürlichste Sache der Welt. Bei Kindern aus den so genannten sozialen Brennpunkten verhält sich das nicht anders, auch wenn einige Personen ihnen gern latente Lustlosigkeit und eine geringere Intelligenz unterstellen. Oft haben Kinder von MigrantInnen weniger Anschluss an Bildung, das ist kein Geheimnis. Aber dies ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, welches es zu beheben gilt! Wenn man mit dem Finger auf sie zeigt und sie noch mehr an den Rand der Gesellschaft drängt, wird sich an dieser Situation nichts ändern.
Die Frage ist eher, was wir für jene Kinder mit Migrationshintergrund tun können, die vom Elternhaus nicht genügend Förderung bekommen. Die Schule kann nur begrenzt helfen, wenn die Kinder am frühen Nachmittag zu Hause in alte Muster zurückfallen. Hier setzt das Nightingale-Projekt an, denn es ermöglicht ihnen, außerhalb ihrer gewohnten Umgebung andere Lebensentwürfe kennen zu lernen und erweitert so ihren Horizont und Handlungsraum.
Auch ich habe in den letzten Monaten unglaublich viel für mein weiteres Leben gelernt. Das Thema Migration fand ich zwar schon immer spannend, aber mir fehlte der persönliche Bezug, wenn es um die Schwierigkeiten in Berlins „Problembezirken“ ging. Ich kannte keine meiner türkischen MitbürgerInnen bis dahin näher. Mein Kontakt zu ihnen beschränkte sich höchstens auf den einen oder anderen netten Plausch am Falafel-Stand oder im Supermarkt.
Ahmeds Familie war von Anfang bis Ende des Projekts unglaublich herzlich zu mir, nie fühlte ich mich fehl am Platz oder empfand die Begegnung mit ihnen als unangenehm. Im Gegenteil. Ich wurde auf Geburtstage eingeladen und lernte Onkels, Tanten und Nichten kennen, die mir ebenfalls stets mit einem Lächeln begegneten und mich interessiert über mein Leben ausfragten. Vielleicht sind nicht alle Eltern so offen, wie ich es bei Ahmeds Familie erlebt habe. Aber all jene, die einwilligen, bei Nightingale mitzumachen, sind bereit einen Schritt näher auf die Gesellschaft zu zugehen, in der sie leben. Nur müssen wir das auch tun. Kulturelle Unterschiede sollten kein Hindernis sein, oft verbirgt sich dahinter eine große Chance, voneinander zu lernen und neue Sichtweisen auf alte Probleme zu entwickeln.
Oktober 2010
Mehr Infos zum Nightingale Projekt
* alle Namen geändert
Catherine Morawitz studiert Philosophie und Sozial- und Kulturanthropologie an der FU Berlin und nahm von Dezember 2009 bis Juli 2010 am Nightingale-Projekt teil.