von Safter Çinar
Das Gesetzesvorhaben für ein Partizipations- und Integrationsgesetz in Berlin hat bereits vor Entwurfsvorlage erhebliche öffentliche Kontroversen ausgelöst – insbesondere die angeblich geplante „Einstellungsquote“ für Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst wurde vielfach diskutiert und kritisiert. Trotz mehrfacher Klarstellung von Seiten der Politik, dass eine solche Quote nicht vorgesehen ist und auch nie vorgesehen war, wird besonders dieser Aspekt weiterhin in die Diskussion eingeworfen und dazu genutzt, eine negative Stimmung in der Bevölkerung gegen das geplante Vorhaben zu erzeugen.
Die Kritik jedoch aus Teilen der migrantischen Community gegen dieses Gesetz ist anders gelagert (hierzu auch mein Beitrag). Sie bezieht sich vor allem auf die Neubewertung der Definition „Menschen mit Migrationshintergrund:
Menschen mit Migrationshintergrund sind, soweit in einem anderen Gesetz nichts anderes bestimmt ist, erstens Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 des Grundgesetzes sind, zweitens im Ausland geborene und seit dem 1. Januar 1956 nach Deutschland ein- und zugewanderte Personen und drittens Personen, bei denen mindestens ein Elternteil die Kriterien der Nummer 2 erfüllt.
Viele Betroffene bzw. so bezeichnete Menschen wollen keine Zuschreibung von außen, wollen nicht über ihre ethnische Herkunft definiert werden. Ich habe dafür Verständnis. Auch das Gesetz sieht vor die Enkel der ersten Einwanderergeneration nicht mehr „mit Migrationshintergrund“ zu definieren, sondern als deutsche StaatsbürgerInnen zu erfassen. Meine Kritik an der vorgeschlagenen zukünftigen Definition „mit Migrationshintergrund“ geht in eine andere Richtung: Im Partizipations- und Integrationsgesetz wird von der Definition des Statistischen Bundesamtes abgewichen, die wie folgt lautet:
Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil. (aus: Fachserie 1 Reihe 2.2 Migration in Deutschland 2008. Statistisches Bundesamt)
Abgesehen davon, dass es unsinnig ist, bundesweit unterschiedliche Definitionen zu benutzen, ist meiner Ansicht nach die Erfassung der dritten Generation als Menschen „mit Migrationhintergrund“ elementar notwendig. Denn viele MigrantInnen auch der dritten Generation behaupten zu Recht, sie würden benachteiligt, weil sie einen „Migrationshintergrund“ haben. So hat beispielsweise der OECD-Beschäftigungsausblick 2008 festgestellt, dass die Hälfte der Arbeitslosigkeit von MigrantInnen in Deutschland nicht durch mangelnde Qualifikation entsteht, sondern durch Diskriminierung.
Wären dies Einzelfälle, würde womöglich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) weiterhelfen, dessen Ziel es ist, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Solange es aber strukturelle Benachteiligungen gibt, müssen meiner Ansicht nach weiterhin die Lebenslagen von MigrantInnen, auch in der dritten Generation, statistisch erfasst werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass immer noch vorhandene strukturelle Barrieren nicht erkannt sondern kaschiert werden. Denn dann erscheint jeder Fall nur als ein bedauerlicher Einzelfall.
Daraus lassen sich auch keine gesamtgesellschaftlichen Schlüsse ziehen und die Notwendigkeit von Gegenmaßnahmen zur Problemlösungen und zum Abbau struktureller Diskriminierung begründen. Darüber hinaus ist der Fortbestand der Definition „mit Migrationshintergrund“ für die dritte Generation notwendig, um Fortschritte im Bildungssystem, bei der Beschäftigung im öffentlichen Dienst und auf dem Arbeitsmarkt insgesamt zu überprüfen, da viele Untersuchungen eine strukturelle Diskriminierung insbesondere in diesen elementaren Bereichen der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe festgestellt haben.
Differenzierte Erfassung des „Migrationshintergrunds“
Für sehr problematisch halte ich, dass sogar innerhalb von Berlin unterschiedliche Definitionen von Menschen mit Migrationshintergrund gelten sollen.(1) Im Bildungsbereich halte ich die Erfassung von SchülerInnen nach der „Herkunftssprache“, wenn es darum geht, den Schulen zusätzliche LehrerInnen und SozialarbeiterInnen zur Verfügung zu stellen, ohnehin für diskriminierend und eine Vergeudung von Ressourcen. Diskriminierend, weil dies suggeriert, dass jedes Kind mit Migrationshintergrund per se sprachliche oder soziale Defizite hat. Vergeudung von Ressourcen, weil pauschal nur für jene Kinder zusätzliches Personal eingesetzt wird, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist, ohne zu überprüfen, ob sie es wirklich nötig haben oder nicht.
Die Ergebnisse der vor Beginn der Grundschule bei allen SchülerInnen durchgeführten Sprachstandsmessungen „Deutsch plus“ zeigen ein anderes Bild. So ist die mangelnde Sprachkompetenz von 5-Jährigen kein Herkunftsproblem an sich, sondern überwiegend als schichtspezifisches Phänomen zu erklären. So lag beispielsweise 2007 der Anteil von Kindern deutscher Herkunftssprache mit Sprachförderbedarf, die eine Kita besuchten, bei 9,9 Prozent, bei denen die keine Kita besuchten und aus sozial schwachen Gebieten stammten, bei 30,2 Prozent. (2) Der Bedarf an zusätzliche LehrerInnen und SozialarbeiterInnen sollte deshalb entsprechend der Ergebnisse der Sprachstandsmessungen und unter Berücksichtigung, der durch den Sozialatlas zur Verfügung gestellten Daten errechnet werden.
Ein Gesetz kann die zum Teil verletzende und diskriminierende öffentliche Diskussion über Integration nicht verhindern. Es kann auch die seit vierzig Jahren von der Politik verbreitete „wir sind kein Einwanderungsland-Ideologie“ nicht über Nacht verschwinden lassen. Es kann auch die Versäumnisse der Politik der letzten vierzig Jahre – insbesondere im Bildungswesen – nicht reparieren. Dazu bedarf es einer weiteren ausführlichen, sachlichen Diskussion und grundlegenden Änderungen für unsere Kinder, vor allem im Bildungsbereich. Dies ist sicherlich der nächste zentrale Aspekt, der in Angriff zu nehmen ist.
Ich gebe zu: die Umsetzung der Ziele des Gesetzes braucht Zeit. Mittelfristig erwarte ich mehr Respekt und Empathie im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund in Institutionen des öffentlichen Dienstes und auch langfristig mehr Einstellungschancen für junge Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst. Werden die erweiterten Beteiligungsrechte ausgeschöpft, können die besonderen Belange und Gesichtspunkte von MigrantInnen zudem besser in Verwaltungsprozesse eingebracht werden.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Berliner Integrationskonzept:
Integration bedeutet vor allem, dass Einzelpersonen oder ganze Gruppen gleichberechtigte Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Artikulation ihrer Interessen erhalten und vor individueller und kollektiver Ausgrenzung geschützt werden. Integrationspolitik heißt daher im Kern Herstellung von Chancengleichheit. (3)
Oktober 2010
Endnoten
(1) Diese Definition schließt nicht aus, dass in anderen Handlungsfeldern abweichende Begrifflichkeiten oder Begriffsbestimmungen sowohl zu statistischen als auch zu planerischen Zwecken verwendet werden, um die Besonderheiten der jeweiligen Handlungsfelder angemessen zu berücksichtigen. Das ist z. B. im Schulbereich für SchülerInnen nichtdeutscher Herkunftssprache der Fall“ (aus der Gesetzesbegründung).
(2) Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Bildung Berlin vom 09.05.2008.
(3) Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken“, Das Berliner Integrationskonzept, Drucksache 16/0715, 2007, S. 3.
Safter Çinar ist Sprecher des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB) und Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im Landesbeirat. Er ist seit den siebziger Jahren im Migrations-, Integrations- und Bildungsbereich tätig.