von Jutta Aumüller
Spricht man von Migration und Integration, so geht die Rede von der ersten, zweiten und inzwischen auch dritten Migrantengeneration im Allgemeinen leicht vonstatten. Welche soziale Entität genau damit gemeint ist, ist hingegen weniger klar. Eine systematische Reflexion des Generationenbegriffs hat in der Migrationstheorie bislang kaum stattgefunden. Allerdings operiert man in den letzten Jahren zunehmend in der Demographie mit diesem Begriff, indem das lange Zeit dominierende „Inländer-Ausländer“-Konzept in der amtlichen Bevölkerungsstatistik mittlerweile durch den „Migrationshintergrund“ abgelöst wurde.
Mein Beitrag beleuchtet zunächst den Generationenbegriff speziell in der Migrationstheorie. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten die Assimilationstheoretiker der Chicago-Schule idealtypische Mehr-Generationen-Modelle der Integration, die die Angleichung der Zugewanderten an die Aufnahmegesellschaft beschrieben. Die Tradition dieser Modellbildung wird im ersten Teil vorgestellt.
In Kontrast zu diesen theoretischen Modellen wird daraufhin der gegenwärtig pragmatische Umgang mit dem Generationenbegriff vor allem in der Sozialberichterstattung dargestellt. Erst seit der rot-grünen Wende von 1998 hat sich in der Politik die Einsicht durchgesetzt, dass die Lebenslage von Menschen migrantischer Herkunft nachhaltig durch die familiäre Einwanderungsgeschichte bestimmt wird. Daraus resultiert in der Politik eine noch andauernde Suche, wie dieser „Migrationshintergrund“ für die zweite und möglicherweise auch dritte Generation analytisch angemessen erfasst werden kann.
Abschließend wird es darum gehen, wie angemessen es ist, von einer dritten Einwanderergeneration zu sprechen. Soziologische Untersuchungen in den vergangenen Jahren haben deutlich gemacht, dass sich die Lebenswelt von Menschen, die als Nachkommen von EinwanderInnen in der zweiten und dritten Generation in Deutschland leben, immer stärker in separate soziokulturelle Milieus ausdifferenziert. Hält man dennoch an einem – wie auch immer definierten – Konzept der zweiten oder gar dritten Generation fest, so ergeben sich daraus vielfältige, teilweise problematische Aspekte der gesellschaftlichen Kategorisierung von Menschen „mit Migrationshintergrund“, die abschließend zur Diskussion gestellt werden.
„Generation“ als soziale Kategorie in der Migrationsforschung
Im Jahr 1928 veröffentlichte Karl Mannheim seinen bahnbrechenden Aufsatz „Das Problem der Generationen“ und führte damit den Generationenbegriff als soziale Kategorie in die Sozialforschung ein. Mehrere Jahrzehnte lang blieb „Generation“ ein zentraler soziologischer Begriff, mit dem Wissenschaftler wie Shmuel N. Eisenstadt, Talcott Parsons, Helmut Schelsky, Raymond Aron und Nathan Glazer arbeiteten. Seit den 1980er Jahren rückte der Generationenbegriff in der Sozialtheorie in den Hintergrund. Stattdessen richtete sich die Aufmerksamkeit der Soziologen auf die Ausdifferenzierung individueller Lebensstile innerhalb einzelner Alters- und Herkunftsgruppen. Seit einiger Zeit lässt sich in den Sozialwissenschaften wiederum eine Renaissance des Generationenbegriffs beobachten. So erscheint beispielsweise Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt als ein Phänomen, das nicht nur sozialen Strukturmerkmalen der Betroffenen geschuldet ist, sondern auch der Zugehörigkeit zu bestimmten Altersgruppen. Auch geraten Menschen im jungen Alter immer stärker als politische Akteure in den Blick, was etwa für jugendliche MuslimInnen und ihre Protestformen in verschiedenen europäischen Ländern gilt.
Nach Karl Mannheim zeichnen sich Generationen in einem soziologischen Verständnis durch eine ähnliche soziale Lagerung ihrer Mitglieder aus. Diese soziale Lagerung konstituiert sich durch eine gemeinsame Klassen- und Interessenlage von alterskohärenten Gruppen. Darüber hinaus zeichnet sich eine Generation durch einen gemeinsamen politischen Gestaltungswillen aus, so wie etwa die Burschenschaftsbewegung im frühen 19. Jahrhundert oder die Studentenbewegung der 1960er Jahre. Generation im Mannheimschen Sinne bedeutet, dass Menschen der gleichen Altersgruppe, die unter ähnlichen sozialen Bedingungen in einer spezifischen historischen Konstellation aufgewachsen sind, auf gemeinsame Erfahrungen zurückgreifen können und auf dieser Basis eine gemeinsame politische Haltung entwickeln. Karl Mannheims Generationenbegriff unterscheidet sich dadurch von einem anthropologischen Begriff, der sich an Familienstrukturen und der biologischen Abfolge von Großeltern, Eltern und Kindern orientiert, aber als solcher für die soziologische Analyse noch nicht brauchbar ist.
In der Migrationstheorie der frühen Chicago-Schule wurden dahingehend der anthropologische und der soziologische Aspekt des Generationenbegriffs miteinander kombiniert. Deren Assimilationstheoretiker betrachteten die Generationenabfolge als einen Transmissionsfaktor für Integration. Ihren klassischen Ausdruck fand diese Betrachtungsweise in Robert E. Parks Modell des „race relations cycle“: Nach Auffassung von Park war die Assimilation der EinwanderInnen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Chicago und in andere amerikanische Großstädte kamen, ein irreversibler Prozess, der sich im Verlauf mehrerer Generationen vollziehen würde. Der „race relations cycle“ beschrieb einen diffizilen Prozess der Auseinandersetzung zwischen Einheimischen und Zugewanderten und wurde idealtypisch als eine Sequenz von drei (oder mehr) Generationen aufgefasst, innerhalb derer die mehr oder weniger vollständige Anpassung der Eingewanderten an die urbane Lebenswelt der amerikanischen Arbeiterschaft stattfand.
Die erste Generation steht dabei für den Rückzug der Zugewanderten in die eigene Herkunftsgruppe, die geprägt ist von einer Haltung des Selbstschutzes angesichts des unvermeidlichen „Kulturschocks“, dem sie in einer vollständig neuen Umgebung ausgesetzt sind. Die zweite Generation wiederum befindet sich in einer Situation „zwischen den Kulturen“: Gebunden an die von der Elterngeneration praktizierten Traditionen, verfügen deren Mitglieder über Fähigkeiten und Erwartungen an das eigene Leben, die in Auseinandersetzung mit der Lebenswelt des Zuwanderungslandes ausgeprägt wurden, und sind in dieser Ambivalenz häufig starken persönlichen Spannungen ausgesetzt. Erst in der dritten Generation lösen sich demnach die Bindungen an die Herkunftskultur und finden die Individuen ihre Orientierung in der Kultur des Aufnahmelandes.
Zyklenmodelle der Anpassung erlangten im Anschluss an die Chicago-Schule eine hohe Popularität in der Migrationssoziologie (vgl. Aumüller 2009: 70ff.). Eine interessante Variante des Drei-Generationen-Modells bildete die Beobachtung des US-amerikanischen Theoretikers Marcus Lee Hansen, die er 1938 in dem Aufsatz „The Problem of the Third Generation Immigrant“ veröffentlichte. Hansen kritisierte das klassische Drei-Generationen-Modell, indem er auf die besondere Rolle der dritten Generation hinwies: Während die zweite Generation durch eine schroffe Entfremdung von der Kultur der Elterngeneration zu charakterisieren sei, entwickle die dritte Generation ein neues Interesse am kulturellen Erbe der eingewanderten Großeltern. Hansens Aufsatz hat über die Jahrzehnte hinweg immer wieder stimulierend für Debatten über revitalistische Bewegungen in Einwandererkulturen gewirkt. Allerdings spielen die Probleme der sozialen und strukturellen Integration der dritten Generation bei Hansen keine Rolle.
Im Verlauf der 1960er Jahre schwand in den USA die Popularität von Generationen- und Zyklenmodellen – abgelöst vom „cultural turn“, der das Paradigma eines ethnischen Pluralismus verkündete und die US-amerikanische Gesellschaft als eine Konglomeration unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen unter einer übergreifenden Struktur gemeinsamer ökonomischer, politischer und sozialer Institutionen beschrieb. In der deutschsprachigen Migrationstheorie, die als solche erst seit den 1970er Jahren existiert, wurde das Generationenparadigma hingegen eher am Rande thematisiert.
Sozialstatistische Annäherungen an die „zweite“ und „dritte Generation“
Hierzulande erwachte das soziologische Interesse an der zweiten Migrantengeneration in den 1970er Jahren, als der Anwerbestopp dazu führte, dass sich der Aufenthalt der als Gastarbeiter Eingewanderten verfestigte und sukzessive auch die bislang im Herkunftsland verbliebenen Familien in die Bundesrepublik nachgeholt wurden. Die Kinder dieser EinwanderInnen gerieten in das Visier einer sich neu begründenden Ausländerpädagogik – die übrigens schon in den siebziger und achtziger Jahren scharfsichtig eine nachhaltige strukturelle Integration der Kinder und Jugendlichen in das Bildungssystem postulierte und damit mehrere Jahrzehnte lang im politischen Raum ungehört blieb (siehe beispielsweise Reich et al. 1989). Forschungsrelevant war die zweite Generation damals in ihrer Rolle als SchülerInnen sowie als Auszubildende in der Bildungsdebatte wie auch – in der damaligen Kriminalitätsdebatte – als mögliche strafrechtlich relevante Delinquenten. Dies alles aber waren Diskurse, die unter ExpertInnen geführt wurden und die öffentliche Debatte nur sporadisch berührten.
Tatsächlich rückten die zweite und, soweit überhaupt vorhandene, dritte Zuwanderergeneration erst in das öffentliche Bewusstsein, als die internationalen Schulvergleichsstudien das teilweise katastrophale Abschneiden von Kindern ausländischer Herkunft im deutschen Schulsystem zutage förderten. Die Ergebnisse der PISA-Studien zeigten, dass es nicht gelungen war, die Schulergebnisse der Kinder vom sozialen Hintergrund ihrer Eltern zu entkoppeln. Das bis dahin gebräuchliche „Inländer-Ausländer“-Konzept in der Sozialstatistik erwies sich für die Analyse dieser und anderer sozialer Problemlagen, wie etwa die mangelnde Integration von MigrantInnen in den Arbeitsmarkt, als untauglich.
Verschiedene Datenquellen geben seitdem Auskunft über die soziale Lage der zweiten Migrantengeneration in der Bundesrepublik. Eine repräsentative Datenbasis hierfür bildet inzwischen der Mikrozensus, die größte regelmäßige Haushaltsbefragung in der Bundesrepublik, in die jährlich ein Prozent der Wohnbevölkerung einbezogen wird. Seit 2005 wird darin auch das Thema „Migration und Integration“ berücksichtigt. Als Personen mit Migrationshintergrund werden darin alle AusländerInnen erfasst, die seit 1950 eingewandert und eingebürgert sind, sowie alle Personen, bei denen mindestens ein Elternteil in eine der genannten Kategorien fällt – letztere mithin also die „zweite Generation“. Allerdings blieb dieses Konzept nicht unkritisiert, insbesondere hischtich der Einbeziehung von Nachkommen aus binationalen Partnerschaften mit einem deutschen Elternteil.
Während jedoch mittlerweile die Erfassung einer zweiten Generation in der Bevölkerungsstatistik grundsätzlich auf einem breiten Konsens beruht, herrscht eher Zurückhaltung darüber, eine „dritte Generation“ statistisch auszuweisen. Hier macht sich eine berechtigte Sorge um eine mögliche Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen, deren Großeltern nach Deutschland eingewandert sind, bemerkbar. Zwar ist es möglich, in der Mikrozensus-Befragung eine dritte Generation zu erfassen, sofern es sich dabei um minderjährige Personen handelt, die noch im Haushalt der Eltern leben. Die statistischen Landesämter aber verzichten zumeist darauf, diese Personen als „dritte Generation“ statistisch zu erfassen.
Damit wird auch deutlich, was wir tatsächlich – auf der Grundlage gesicherter Daten – über die dritte Generation wissen: nämlich so gut wie nichts. Über die Situation der dritten Generation ist nichts bekannt; eine Forschung gibt es dazu bislang nicht (vgl. auch Geißler 2008: 15). Insofern ist auch Vorsicht gegenüber pauschalen Einschätzungen geboten, die unterstellen, dass die Integration in der dritten Generation stagniere. Hier werden Befunde in den sozialen Brennpunkten der Großstädte verallgemeinert, ohne sie auf eine konsistente Datenbasis zu stellen und ohne eine angemessene analytische Ursachenforschung zu betreiben.
Ausdifferenzierung der Lebensstile
Wenn also statistische Daten über die dritte Generation nicht vorhanden sind, wenn auch ihre Erhebung selbst eher nicht wünschenswert ist, was können wir dann über die dritte Generation aussagen?
Um hierauf eine Antwort zu geben, müssen wir noch einmal einen Schritt zurückgehen und danach fragen, in welchen Bereichen von Gesellschaft die dritte Generation überhaupt sichtbar wird. Eine Möglichkeit wäre, in die zahlreich vorhandenen Migrantenorganisationen in Deutschland zu schauen. Bei diesen jedoch lässt sich beobachten, dass schon die zweite Generation immer schwieriger in die Vereinsaktivitäten einzubinden ist – von der dritten Generation ganz zu schweigen. Die Kinder und EnkelInnen der früheren ZuwanderInnen sind nicht mehr in das vielfach antiquiert wirkende ethnische Vereinswesen zu integrieren.
Besonders deutlich wird dies bei den so genannten Gastarbeiternationalitäten: Griechische, spanische oder türkische Vereine tun sich schwer, Angebote zu machen, von denen sich die jüngeren Generationen noch angesprochen fühlen. Besonders auffällig ist dies bei Herkunftsgruppen, wie beispielsweise den GriechInnen und SpanierInnen, deren Mitglieder relativ zahlreich den sozialen Aufstieg in die Mittelschicht vollzogen haben. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund weckt die Rede von der dritten Generation den Verdacht auf eine künstliche Zuschreibung zu einer bestimmten Herkunftsgruppe, die manchmal auch dadurch motiviert sein mag, bewährte Fördermittel für die eigene Organisation nicht zu verlieren.
Sucht man nach der dritten Generation, so muss man sich vor allem in das Labyrinth der vielfältig ausgeprägten Jugendkulturen begeben. „Muslim – The Next Generation“ beispielsweise heißt das Online-Projekt, das seit Anfang 2010 von einer Gruppe junger deutscher Muslime betrieben wird. Vorwiegend an Lifestyle-Themen orientiert ist das deutschtürkische Internet-Portal Vaybee!, das Jugendliche und junge Erwachsene der zweiten und dritten Generation anspricht. Die Präsentationen zeigen vielfältige Lebenswelten junger Menschen türkischer Herkunft. Götz Nordbruch (2010: 10) zitiert dazu eine Nutzerin aus einem der diversen Chat-Foren: „Die dritte heranwachsende Generation ist viel bunter als meine zweite, in der die Eltern zumeist strenger und religiöser gewesen sind und ihren Lebensstil ihren Kindern auferlegen wollten.“
Dies sind nur zwei Beispiele unter vielen, die sicherlich nicht nur die dritte Generation türkischer Abstammung betreffen. Allerdings gehören TürkInnen zu den wenigen Einwanderergruppen, die bereits lange genug in Deutschland leben, um überhaupt schon eine dritte Generation hervorgebracht zu haben – mit Ausnahme vielleicht von SpanierInnen, ItalienerInnen, GriechInnen und Ex-JugoslawInnen, deren Enkelkinder aber in der Integrationsdebatte schlichtweg nicht mehr vorkommen. Dass die letztgenannten Gruppen kaum mehr als MigrantInnen der dritten Generation wahrgenommen werden, hat sicherlich damit zu tun, dass sie mittlerweile in sozialstruktureller Hinsicht als überwiegend integriert gelten. Zudem hatte die „gefühlte Fremdheit“ der deutschen Bevölkerung gegenüber diesen Zuwanderergruppen nie ein derartiges Ausmaß erreicht wie gegenüber den stärker als kulturell fremdartig wahrgenommenen muslimischen EinwanderInnen aus der Türkei.
Auch neuere Untersuchungen, wie etwa die Sinus-Milieustudie, weisen darauf hin, dass sich die Lebenswelt von Menschen in der zweiten und dritten Migrantengeneration immer stärker in soziokulturelle Milieus ausdifferenziert. Die 2008 erhobene Studie verzichtet auf eine Differenzierung nach Herkunftsnationalitäten und Religionszugehörigkeit und orientiert sich stattdessen an einem Ansatz, der Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähnlich sind, einem bestimmten Milieu zuordnet. Dadurch ist es möglich, interne Differenzierungsprozesse, die in allen Migrantengruppen stattfinden, nachzuvollziehen. Die Ergebnisse der Studie zeigen – wenig überraschend –, dass Menschen mit Migrationshintergrund keine homogene Gruppe darstellen, sondern auch hier bürgerliche, intellektuelle, modernistische, religiöse, traditionelle und entwurzelte Milieus nebeneinander existieren. Allerdings wurden die in dieser Studie befragten Personen nicht ausdrücklich nach Generationszugehörigkeit ausgewiesen. Zwar erfahren wir, dass einzelne Milieus von bestimmten Altersgruppen dominiert werden: So wird beispielsweise ein hedonistisch-subkulturelles Milieu nachgewiesen, dessen Angehörige (15 Prozent der Migrantenbevölkerung) sich nicht mit der Mehrheitskultur, sondern mit Subkulturen identifizieren und das sich durchweg aus jüngeren Altersgruppen rekrutiert. Auch das „multikulturelle Performermilieu“, dem 13 Prozent der Migrantenbevölkerung zugerechnet werden und das als ein leistungsorientiertes Milieu mit einem bikulturellen Selbstverständnis charakterisiert wird, besteht aus Personen jüngerer Altersgruppen (Sinus Sociovision 2008).
Jedoch hat Sinus keine zusätzlichen Angaben zur Aufenthaltsdauer in Deutschland veröffentlicht, die Rückschlüsse auf einen Generationenzusammenhang ermöglichten. Auch wenn die Sinus-Studie Fragen nach den Ursachen ungleicher Lebensbedingungen ausblendet, sind Milieustudien zukünftig sicherlich der vielversprechendere Weg, Wissen über die Lebenslage von Menschen aus Migrationsfamilien zu erhalten, als dies die dauerhafte Festschreibung eines Migrationsmerkmals in der öffentlichen Statistik ermöglichen kann.
Fazit
Betrachtet man die Entwicklung des Generationendiskurses seit Anfang des 20. Jahrhunderts, so fallen die unterschiedlichen Konnotationen auf, die mit dem Generationenbegriff verbunden sind. Für die frühen US-amerikanischen Migrationssoziologen galt Generation als der Mechanismus, durch den die Übertragung von Integration erfolgte. Integration – oder in der Diktion dieser Forscher-„Generation“: Assimilation – musste im Verlauf einiger Generationen unweigerlich erfolgen, wenn man in diesen Prozess nicht übermäßig durch die Errichtung von Barrieren, wie Diskriminierung, Rassismus etc., intervenierte. Der Generationenbegriff im heutigen bundesdeutschen Diskurs hingegen droht zu einem Verdikt zu werden, das die Betroffenen zur strukturellen Marginalität verurteilt. Zwar erscheint es sinnvoll, in der Sozialberichterstattung eine zweite Generation zu erfassen, um Informationen über die Dynamik von Gleichstellungsprozessen zu erhalten. Mit der Erfassung einer dritten Generation aber droht sich die Wahrnehmung migrantischer Abstammung als einem prinzipiell exkludierenden Faktor zu verfestigen. Sollte sich die Generationenzählung über eine zweite Generation hinaus durchsetzen, so käme dies einem fundamentalen Wandel des bundesrepublikanischen Gesellschaftsbildes gleich, das seit der Mitte des letzten Jahrhunderts von der Vorstellung einer leistungsgerecht stratifizierten Gesellschaft geprägt ist. Anstatt das Unvermögen von Politik und Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit herzustellen, zu benennen, würden soziale Unterschiede dauerhaft auf kulturelle Differenzen zurückgeführt.
Davon unberührt bleibt aber die grundsätzliche politische Mobilisierbarkeit von Gruppen, die sich als Angehörige einer Generation verstehen. Die Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Milieus auch in migrantischen Bevölkerungsgruppen macht es zwar gegenwärtig eher zweifelhaft, dass es sich bei der „dritten Generation“ um eine gemeinschaftliche politische Akteursgruppe im Sinne Karl Mannheims handelt. Andauernde soziale Ausgrenzung und diskriminierende Strukturen könnten jedoch dazu führen, dass Teile dieser Bevölkerungsgruppe ein gemeinsames Interesse formulieren und in politische (oder auch gewaltförmige) Aktionsformen umsetzen. Die Aufstände muslimischer Jugendlicher in Nordengland zu Beginn dieses Jahrzehnts, die Unruhen in den französischen Banlieues sind beredte Beispiele hierfür.
In diesem Sinne ist vielleicht auch die Reaktion von Migrantenorganisationen auf das beabsichtigte Berliner Partizipations- und Integrationsgesetz zu verstehen: Als kürzlich in Berlin der Entwurf für dieses Gesetz vorgelegt wurde, forderten Migrantenverbände, dass auch die dritte Generation einen Migrantenstatus erhalten sollte, um andauernde Diskriminierung etwa auf dem Arbeitsmarkt sichtbar zu machen (Ataman 2010). Die Zeit sei noch nicht reif, auf diese Feststellung zu verzichten, so Safter Çinar, der Sprecher des Türkischen Bundes Berlin, der renommiertesten türkischen Migrantenorganisation in der Hauptstadt. (Vgl. auch den Beitrag von S. Çinar in diesem Dossier). Ob der Türkische Bund damit aber wirklich das Interesse der Enkelkinder vertritt, erscheint eher zweifelhaft. Zwar tut es sicherlich not, dass Repräsentantenorganisationen ein öffentliches Bewusstsein für die weiterhin bestehende persönliche und strukturelle Diskriminierung von Menschen mit einem familiären Migrationshintergrund schaffen. Aber die andauernde Festschreibung von Menschen, deren Eltern bereits in Deutschland geboren wurden, auf einen Migrantenstatus vereitelt die Möglichkeit, dieses Merkmal abzulegen und ganz normal anders zu sein – so wie alle Anderen auch.
Oktober 2010
Literatur
Ataman, Ferda 2010: Die dritte Generation fordert Schutz, in: Der Tagesspiegel (Berlin) vom 21.06.2010
Aumüller, Jutta 2007: The Concept of Generation within Migration Sociology, in: Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung (Hg.), Immigrant Generations and the Problem of Measuring Integration – A European Comparison, Berlin: Edition Parabolis, 27-43
Aumüller, Jutta 2009: Assimilation – Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept, Bielefeld: transcript
Esser, Hartmut 1990: Nur eine Frage der Zeit? Zur Frage der Eingliederung von Migranten im Generationen-Zyklus und zu einer Möglichkeit, Unterschiede hierin theoretisch zu erklären, in: ders./Jürgen Friedrich (Hg.), Generation und Identität, Opladen, 73-100
Geißler, Rainer 2008: Lebenslagen der Familien der zweiten Generation, in: IMIS-Beiträge, Nr. 34, 11-26
Hansen, Marcus Lee 1938: The Problem of the Third Generation Immigrant, in: Werner Sollors (Hg.), Theories of Ethnicity: A Classical Reader, New York, 202-215
Mannheim, Karl 1964 [1928]: Das Problem der Generationen, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und herausgegeben von Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied: 509-564
Nordbruch, Götz 2010: Pop, Politik und Boulevard – Das deutschtürkische Internetportal Vaybee!, in: ufuq.de Nr. 17, 9f.
Park, Robert E. 1996 [1928]: Human Migration and the Marginal Man, in: Werner Sollors (Hg.), Theories of Ethnicity: A Classical Reader, New York, 156-167
Sinus Sociovision 2008: Zentrale Ergebnisse der Sinus-Studie über Migranten-Milieus in Deutschland.
Reich, Hans H./Neumann, Ursula/Krüger-Potratz, Marianne/Gogolin, Ingrid 1989: FABER – Ein Schwerpunktprogramm zur Erforschung der Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung, in: MIGRATION – A European Journal of International Migration and Ethnic Relations, Nr. 6, 127-136
Jutta Aumüller ist Politologin und Mitarbeiterin am Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migrations-/ Integrationspolitik sowie Prozesse der Demokratisierung in Einwanderungsgesellschaften.