Dinge, die nahezu nebenbei geschehen

Theater im öffentlichen Raum
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Theater im öffentlichen Raum

von Dan Thy Nguyen

 

Meine Eltern sind Boat-People. Sie trieben gemeinsam mit meiner Schwester und meinem Bruder mit einem Boot über das Meer. Solange, bis sie nach Thailand angeschwemmt wurden und in einem Flüchtlingslager ankamen. Auf dieser Flucht gab es Vergewaltigungen, mehrfache Piratenüberfälle und Kannibalismus. Mein Bruder, von dem ich erst vor kurzem erfuhr, ist auf der Flucht gestorben. Der Großteil der traumatischen Erfahrungen meiner Eltern und meiner Schwester verhüllt sich in nahezu unüberwindbares Schweigen und ist auch mir fast unzugänglich. Sie sprechen kaum über diese Zeit und es bedarf wahrscheinlich einer dritten, neutraleren Partei, um dieses Schweigen zu überwinden.

Wenn ich heutzutage auf die ersten Jahre im rheinischen Langerwehe zurückblicke, so sind sie immer gepaart mit dem Gefühl der sozialen Abkapselung und Entfremdung. Übergriffe auf unsere Wohnung gab es in diesem Dorf häufig. Meine Großmutter wurde mit Steinen beworfen, so dass sie irgendwann nicht mehr das Haus verlassen wollte, meine Geschwister und ich wurden von Mitschüler_innen gedemütigt und von den Lehrer_innen nicht beschützt. Besonders die Degradierung unserer Familie im Ausländeramt war ein Thema, welches sich durch meine Kindheit hindurchzog und sich fest in die Köpfe meiner Eltern hineinfraß. Gemeinsam mit den Traumatisierungen der Flucht war und ist unsere Familie in einen Zustand der Angst gefangen. Bis heute haben wir nicht gelernt mit diesen Erfahrungen umzugehen. Durch Wut und selbstauferlegtes Schweigen sind diese Erfahrungen verklärt und unaufgearbeitet.

Mit 19 Jahren zog ich nach Hamburg, um eine Schauspielausbildung zu beginnen, nachdem ich auf einer Theaterschule in Düren verschiedenen Formen des osteuropäischen Theaters begegnet war. Schon früh spielte ich auf verschiedenen Konzerten, weil meine Eltern uns Kindern trotz aller finanziellen Schwierigkeiten ermöglichten, ein Instrument zu lernen. Auf kleinen Bühnen feierte ich erste Erfolge – ohne die Kunst hätte ich meine Kindheit und Jugend emotional nicht überlebt. In Hamburg lernte ich das intellektuelle, deutsche Regietheater kennen, welches mich meistens furchtbar langweilte. Ich halte das Meiste, was an den großen deutschen Theatern gespielt wird, für einen merkwürdigen Anachronismus, der völlig entfremdet von der heutigen, pluralistischen Gesellschaft besteht. Es ist ein Theater, welches vor allem dem dominanten Teil der Gesellschaft zugänglich und verständlich ist, weil es sich hinter einer kodifizierten und artifiziellen Sprache versteckt. Wir brauchen ein neues Theater. Ein ehrliches. Wir brauchen neue Formen und neue Sprachen. Aber auch das nur nebenbei.

Nach einer kurzen Zeit am Staatstheater, einem Exkurs in die Islamwissenschaft und Soziologie widmete ich mich wieder dem Theater, insbesondere der freien Szene in Hamburg. Zu Beginn wollte mich kein einziges Theater ernst nehmen und mit mir zusammenarbeiten. So entwickelte ich Performances auf der Straße, in Schaufenstern und in der S-Bahn. Glücklicherweise sah der NDR eine Performance und drehte einen kleinen Bericht auf »Hamburg Journal« über mich, daraufhin folgten Zeitungsartikel und Magazinberichte. Heute kann man meine Theaterstücke auf verschiedenen Festivals sehen. Meine Regiearbeit »Le Chantier« wurde 2012 etwa auf dem Bundeskongress Interkultur gezeigt, und ich halte außerdem Vorträge über meine Arbeit. Jedoch erkenne ich trotz aller Fortschritte, dass der Weg, den ich gehe, immer noch sehr steinig und einsam ist.
 

So ganz nebenbei

In den meisten Theaterproduktionen bin ich der einzig asiatisch Aussehende. Die deutsche Sprechtheaterwelt ist zur Zeit eine Weiße Hochburg, und ich muss mir oft den Respekt als Regisseur erkämpfen – auch in der freien Theaterszene. Einige meiner Kolleg_innen wollen mir nicht glauben, dass ich mich auch in westlicher Literatur auskenne, vieles in Originalsprache lese und mich in verschiedenen kulturellen Räumen nahezu problemlos bewege. Sehr oft begegne ich der Angst vor der »Asiatisierung« der Kulturszene, insbesondere im Bereich der klassischen Musik. Aber trotzdem – die freie Theaterszene ist die Welt, in der ich weniger Rassismus erlebe und in der ich mich am wenigsten fremd in dieser Gesellschaft fühle.

Für mich ist das Schlimmste an dem Fremdsein nicht der Zustand an sich. Das Furchtbare und Unentrinnbare daran ist, dass dieser sich scheinbar durch mein ganzes Leben hindurchzieht. Er frisst sich in jeden Moment, in jeden Gedanken hinein und scheint mich einzukerkern und zu versklaven. Der Zustand des ewigen Fremdseins, wenn ich ihn nicht überwinden könnte, wäre der Zustand der endlosen Gefangenschaft und Ausweglosigkeit.

Jedoch bin ich als Künstler überzeugt: Das Fremdsein ist ein Gefängnis, welches man überwinden muss, um als eigenständiges Wesen existieren zu können. Man muss es überwinden, um ein ganzer, lebendiger Mensch zu werden. Und das bedeutet: Ich will mich niemals assimilieren, denn das wäre das Ende des selbstbestimmten Lebens. Es macht keinen Sinn sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die einen beständig zum Fremden macht. Trotzdem will ich aktiv diese Gesellschaft als menschliches Wesen mitgestalten. Das bedeutet die gegebenen Zustände infrage zu stellen und zu verändern, um eine gemeinsame Zukunft zu ermöglichen.

Ich sehe mittlerweile mehr und mehr Menschen mit Migrationshintergrund (ein furchtbarer Begriff, aber ich habe keinen anderen) in den deutschen Regie-, Kunst- und Schauspielschulen. Ich hoffe, dass wir eines Tages nicht nur weiterführen, was wir gelernt haben, sondern unsere eigenen Formen und Sprachen entwickeln: selbstbewusst, kreativ, mutig und ohne Unterlass. Und das wünsche ich mir von allen Teilen der Gesellschaft. Aber auch das nur nebenbei.

Ich hätte nie erwartet, dass meine vietnamesische Herkunft in Deutschland mich und meine Arbeit so beeinflussen würde. Sehr oft will ich gar nicht auffallen und lieber in der Masse verschwinden. Wenn mich jemand fragt, woher ich stamme, dann überflutet mich die Angst. Ich befürchte, dass ich in dem Land, in dem ich geboren wurde, niemals zu Hause sein werde. Und so ist meine bisher noch junge künstlerische Arbeit auch die eines Heimatlosen. Eines Menschen, der neben der Gesellschaft lebt, anstatt in ihr. Aber trotzdem: Die Theaterwelt und die Welt meines nächsten Umfelds sind für mich die einzigen, in denen ich mich einigermaßen frei bewegen kann und mich halbwegs mit dieser Gesellschaft verbunden fühle.

Jedoch verstehe ich, dass meine Biographie anders als die der meisten Menschen in Deutschland gestaltet ist. Als Flüchtlingskind, als empfundener Teil einer »ethnischen« Minderheit, als Opfer von mehrfachen rassistischen Angriffen, als ein Mensch, der mit verschiedenen Sprachen aufwuchs, besitze ich keine Standardbiographie. Ich beginne gerade erst diese Komplexität zu verstehen und zu respektieren. Dies wird zweifellos meine zukünftige Arbeit beeinflussen. Aber auch das nur nebenbei.

 

Dieser Text erschien erstmalig im Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext, Nr. 21, April 2013, S. 65-67. Die Ausgabe „auftauchen – Empowering Asian Germany“ wurde gemeinsam mit dem asiatisch-deutschen Kulturnetzwerk korientation herausgegeben.

 

Dan Thy Nguyen ist freier Künstler in Hamburg. Er arbeitete an diversen Produktionen am Staatstheater Karlsruhe, auf Kampnagel Hamburg und mit dem „Letzten Kleinod“ und veranstaltete mit dem PEN-Zentrum Deutschland diverse Lesungen und Performances.