von Linda Koiran
„IN DER LUFT, da bleibt deine Wurzel, da,
in der Luft.“ (Paul Celan)[i]
Mein Mutterland ist auf keiner Landkarte zu finden. Es ist dennoch materiell sichtbar und sprachlich verankert. Es ist ein Haus, durch dessen Räume ich gehe. Deren Düfte, Farben, Musik und Dinge bringen es als Land hervor. Es ist etwas Vertrautes in der Fremde, etwas Fremdes im Vertrauten.
Meine Vatersprache ist in einem Land angesiedelt, das im Zentrum liegt. Links und rechts ist es von anderen Ländern umschlossen, oben begrenzt das Meer es, unten das Gebirge. Es drängte nach Erweiterung und verirrte sich ins Vernichten. Dort, wo seine Sprache gesprochen wird, bin ich nicht mehr. Woanders lebe ich und überlebe mit ihr und in ihr. Manchmal schmerzen mich noch die Residuen ihres vergangenen Giftes.
Ich bin im Land meiner Mutter geboren und begann dort die Sprache meines Vaters zu hören. Er wollte nicht, dass meine Mutter mir ihre Sprache beibringt. Das sei eine unwichtige Sprache, sagte er, und daraufhin fand auch meine Mutter sie unwichtig.
Die Sprache meiner Mutter war zur Zeit ihrer Kindheit die Sprache der „Untermenschen“. Sie wurde in den häuslichen Raum der Familie verbannt, im öffentlichen Raum war nur die fremde Sprache des Besetzers erlaubt.
Ihre Muttersprache hat sie infolgedessen nicht in der Schule gelernt. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung von der Kolonialherrschaft hat sie die Schrift ihrer Muttersprache gelernt. Noch heute zählt sie auf Japanisch.
Die Frage nach der Muttersprache hat mich lange Zeit verlegen gemacht. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich wollte nicht lügen. Deshalb formulierte ich, meine erste Sprache sei Deutsch. Genau betrachtet, stimmt das nicht.
Denn zu der Zeit, als ich noch ein kleines Kind war, sprach meine Mutter kein Deutsch. Ich vermute, dass sie eher in ihrer Muttersprache zu mir sprach als in der fremden Sprache, in der sie und mein Vater sich verständigten. Beide wechselten ständig von einer Sprache in die andere, vom Koreanischen ins Englische oder vom Englischen ins Deutsche. Diese drei Sprachen waren damals in ihrem und meinem Leben gegenwärtig. Deutsch hörte meine Mutter, wenn mein Vater zu mir sprach. Jeder von beiden sprach zu mir in seiner Muttersprache, ohne dass der andere es verstand. Mit jedem von beiden teilte ich das Geheimnis seiner Sprache.
Deutsch ist nicht meine Muttersprache. Sie ist die Sprache meines Vaters – meine Vatersprache. Ich erinnere mich nicht daran, wann ich begonnen habe, sie zu sprechen. Ich nehme an, dass ich sie zur gleichen Zeit gelernt habe wie meine Mutter. Während unseres ersten Aufenthaltes in Deutschland lernte meine Mutter Deutsch in einer Sprachenschule, ich lernte sie bei meinen Großeltern. Wir beide waren Anfänger in der Sprache meines Vaters.
Aber in welcher Sprache sprachen wir beide miteinander? Nahm meine Mutter mich mit ihren wenigen deutschen Sätzen in die Arme, tröstete und tadelte sie mich auf Englisch oder Koreanisch? Oder vermischten sich die drei Sprachen, wenn sie mich ansah? Bis heute weiß ich nicht, welche Gestalt ihre Worte zu mir im Land meines Vaters annahmen.
Die Sprache meiner Mutter ist mir zugleich vertraut und unzugänglich. Ich habe sie nicht gelernt. Eigentlich habe ich keine Muttersprache. Aber aus allen Sprachen der Welt würde ich meine Muttersprache heraushören. Sie ist wie eine Musik, die auf meine tauben Ohren trifft, deren Schwingungen meinen Körper erwecken.
Sie riecht nach Kimchi, ein in scharfem Chilipulver fermentierter Kohl, der, wie Sauerkraut in Deutschland, ein Grundbestandteil der koreanischen Küche ist. Steigt mir sein pikanter Geruch in die Nase, sehe ich von der Küche über den Garten mit dem schweren Mühlstein, wo neben dem Bambus Rosen und Vergissmeinnicht blühen, hinweg, die Hangari im Innenhof. Ich gehe hinaus zu den voluminösen dunkelbrauen Tontöpfen, in denen der Kimchi eingelegt ist und schmiege meine Wange an die poröse Oberfläche.
Auf dem beheizten Boden sitzend nehme ich mit den Silberstäbchen ein Kimchistückchen, lege es auf den Reis in der Schale und tauche den flachen Silberlöffel in die Kongnamulsuppe. Meine Halmoni in ihrem hellgrauen Hanbok, mit ihrem straff zu einem Knoten gebundenen weißen Haar sieht mich an. Ich höre mehrere Male das Wort yeppeuda. Dann vermischt sich ihr Lachen mit dem meiner Mutter. Im Meer der Geborgenheit ihrer Sprache werde ich hin und her geschaukelt. Es finden sich in ihren vorbeirauschenden Sätzen keine Wörter, an denen ich mich festhalten kann. Ich treibe allein im Schweigen.
Ich drehe mich um und sehe das tief heruntergezogene Dach unseres Hanok-Hauses. Dessen Ecke biegt sich nach oben, wie die blau-rote Spitze der weißen Komushin-Schuhe in der abgeschlossenen Truhe. Sie passen mir nicht mehr. Mein Blick fällt auf den steinigen Weg vor dem Haus. Viele Menschen mit schwarzen Augen und Haaren, einige mit auf dem Rücken gebundenen Säuglingen, andere Taschen tragend, drängeln aneinander vorbei. Manche rutschen aus, manche knicken um. Ihre Wangen leuchten. Es ist Winter, die Sonne scheint, es ist sehr kalt. Den knackigen roten Apfel, den mir Halmoni geviertelt gegeben hat, werde ich lange in anderen Ländern suchen. Seine Süße ist in meiner Zunge geblieben. Sie erinnert sich noch, ich mich nicht mehr. Ich gehe aus dem Raum.
Jahre später habe ich in der Grundschule am Niersenberg das Schreiben und Lesen der deutschen Sprache gelernt. Das Duden-Bildwörterbuch mit seinem festen grauen Stoffumschlag half mir das Alltagsleben zu benennen. Öffnete ich es, sah ich auf der einen Seite das Bild und auf der anderen Seite die Schrift. Die Figuren und Gegenstände waren präzise gezeichnet, die Farben klar und freundlich. Eine heile Welt der Zeichen, Objekte und Geschlechterrollen, in der alles seinen Platz und seinen Namen hat, eröffnete sich mir in Deutschland.
Dieses Buch verleibte ich mir soweit ein, dass es ein Teil von mir wurde. Deshalb war ich mir lange sicher, dass alles seine Ordnung hat. So verstand ich nicht, warum in meinen Schulaufsätzen die Sätze und Wörter rot angestrichen waren. Sie schienen ungeordnet zu sein, obwohl in meinen Schubladen jedes Ding ordentlich seinen Platz hatte.
Niemand sagte mir, wie ich die zu langen Sätze aufschneiden und neu verbinden sollte. Vor einem rot umkreisten Wort wuchs meine Furcht im gleichen Maße wie das Synonym wegblieb. Wie in der Nacht, wenn ich in meinem Bett lag und auf die sich bewegenden Schatten der zu mir langenden Äste blickte. Tauchte schließlich das eine Wort auf, war ich aus dem Grauen erlöst.
Schaute ich im Sommer von meinem Schreibtisch auf den sich in alle Richtungen streckenden Kirschbaum vor meinem Fenster, sah ich die prallen Kirschen. Während meine Großmutter sie in der Küche zu Saft und Marmelade einkochte, saßen Amseln in den oberen Zweigen, picken sie auf und verzehrten das blutige Fruchtfleisch bis die nackten Kerne zum Vorschein kamen. Wie leere Augenhöhlen verschluckten sie meinen Blick.
Die Risse in der Einheit meiner Welt zeichneten sich mit dem Sprießen der Achsel- und Pubeshaare ab. Die Sprache löste sich von mir, ich fühlte sie vor mir, ohne es zu wissen. Ich glaubte nicht mehr an das Wort. Der Zweifel nistete sich ein. Ich sah die Wörter durch eine Lupe. Je näher sie an mein Auge heranrückten, desto mehr zerfielen sie in einzelne Teile. Je mehr neue Richtungen sich auftaten, desto mehr Fragen stellten sich mir. Ich irrte im Labyrinth der Bedeutungen, das mich ins Bodenlose führte. Eine Leere tat sich auf, aus der ich durch den Schlaf herausfand.
Manchmal sind mir die Wörter meiner Vatersprache noch Steine im Mund. Hart, kantig, spitz und sperrig liegen sie schwer auf meiner Zunge. Ich kann sie nicht aussprechen und auf die Grabsteine meiner Wahlverwandten legen. Sie erinnern mich daran, dass es deren Kindern verboten war, Deutsch zu lernen. Mit geschlossenem Mund gehe ich an Bahndämmen, Schuttplätzen und den zersprungenen Fenstern verlassener Fabrikhallen vorbei. Vor dem Aufbruch im Asphalt, aus dem Gras herausdrängt, bleibe ich stehen.
Dieser Text erschien erstmalig im Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext, Nr. 21, April 2013, S. 10-12. Die Ausgabe „auftauchen – Empowering Asian Germany“ wurde gemeinsam mit dem asiatisch-deutschen Kulturnetzwerk korientation herausgegeben.
Linda Koiran, geb. in Seoul, lebte in Südostasien und der BRD. Romanistik-, Germanistik-, Philosophiestudium in Hamburg, Lyon, Paris. Promotion: Schreiben in fremder Sprache: Yoko Tawada und Galsan Tschinag (Iudicium 2009). Lehrt und schreibt in Paris.
[i] Paul Celan (1986): Die Niemandsrose. Sprachgitter. Gedichte. Frankfurt am Main: Fischer, S. 81.