Bis heute ist eine Verständigung darüber ausgeblieben, welche Ungeheuerlichkeiten sich in München wirklich abgespielt haben. Als sei die Lage zu verworren - und damit unbrauchbar für eine politische Debatte, die immer weniger Zwischentöne duldet.
Das Video, das noch während des Mordstreifzugs auf YouTube geladen wurde, ist verstörend. Auf dem obersten Deck eines Parkhauses läuft der Täter, ein junger Mann, nervös umher. Die Stimme eines Anwohners ist zu hören. Er blickt vom Balkon seiner Plattenbauwohnung auf das Parkhaus, rastet aus, beschimpft den Täter in derbem Bayerisch. Es ist der 22. Juli 2016. Neun Menschen sind erschossen worden. „Dir gehört der Schädel abgeschnitten!“, schreit der Mann vom Balkon. „Scheiß Kanacken!“ Der Täter antwortet in hektischen Satzfetzen. Auch er ruft plötzlich: „Scheiß Türken!“ Und wenig später: „Ich bin Deutscher! Ich bin hier geboren worden!“
Kurze Zeit später läuft ein Satz als Eilmeldung über fast sämtliche Nachrichtenticker: Attentäter offenbar Deutscher. Auf allen Kanälen wird da bereits diskutiert und spekuliert: Ist es ein Anschlag des sogenannten „Islamischen Staates“? Hat das Morden einen rechtsterroristischen Hintergrund? Oder ist es ein nur ein „Amoklauf“ — liegt dem Töten also keine politische Motivation zugrunde, sondern private, psychische Probleme des Täters? Wenig später beginnt die Meta-Diskussion über die „Angst“ der Linken, der Täter könnte ein Flüchtling sein, womöglich aus Syrien oder Afghanistan, und mit der Tat die politische Debatte um Asyl weiter vergiften, über die „Hoffnung“ der Rechten, dass dem genauso sei, und schließlich über die ganze Falschheit und Verkommenheit dieser Logik.
Doch als wenig später klar wird, wer der Täter wirklich war, verebbt die Debatte allzu schnell. Bis heute ist eine breite gesellschaftliche Verständigung darüber ausgeblieben, welche Ungeheuerlichkeiten sich in München wirklich abgespielt haben. Als sei die Lage im Nachhinein zu komplex, zu verworren, und damit unbrauchbar für die aktuelle politische Debatte, die immer weniger Zwischentöne duldet.
Der Täter David Sonboly wurde am 20. April 1998 in München geboren — als Sohn iranischer Eltern, die in Deutschland Asyl gefunden hatten. Er war deutsch-iranischer Doppelstaatsbürger, wurde als Ali Sonboly geboren und ließ sich nach Erreichen der Volljährigkeit auf Antrag in David Sonboly umtaufen. Die neun Opfer seines Mordstreifzugs waren allesamt seinesgleichen: Einwandererkinder. Töchter und Söhne türkischer, kosovarischer, griechischer, ungarischer, albanischer Eltern.
Terror, der durch das gewohnte Raster fällt
Die Ermittlungen ergeben schnell ein komplexes Bild. Der Verdacht, das Morden habe nicht zufällig am fünften Jahrestag der Anschläge von Utøya und Oslo stattgefunden, bestätigt sich. Sonboly entpuppt sich als Verehrer des norwegischen Rechtsterroristen Anders Behring Breivik. Ebenso verehrte Sonboly aber offenbar den apolitischen Amokläufer Tim K., der 2009 in seiner Schule im württembergischen Winnenden 15 Menschen getötet hatte. Ermittler fanden in Sonbolys Zimmer Fotos von der Schule, an die er offenbar gepilgert war. Gefunden wurde auch ein psychologisches Fachbuch über jugendliche Amokläufer. Ferner ergeben die Ermittlungen, dass sich Sonboly in psychiatrischer Behandlung befand. Und — es schien unvermeidlich — dass er Counterstrike gespielt hatte.
Wäre alles nicht so furchtbar real und so furchtbar traurig, man könnte meinen, jemand führe hier groteskes Lehrstück auf. David Sonboly und seine Tat sperren sich gegen eine Verortung in den gängigen Kategorien der aktuellen politischen Debatte. Was am 22. Juli in München geschehen ist, ist so schnell nicht zu fassen im dichotomischen Raster von Wir oder Die, Freund oder Feind, Terror oder Amok, Migrant oder Dunkeldeutschland.
Im kulturellen Klima Europas, das von zunehmender Identitätsunsicherheit gezeichnet ist, in dem aber gerade deswegen das politische Narrativ eines klaren Freund-Feind-Gegensatzes auf so fruchtbaren Boden stößt, ja, in der breiten Gesellschaft immer mehr die Form einer unumkehrbaren Notwendigkeit anzunehmen droht, erscheint die Tat kontingent und undurchdringlich. Sie passt schlicht nicht in das Bild, dem Europa — auch dessen Linke — in düsterer Erwartung entgegensieht. Gerade deshalb aber, muss sie in ihrer Spezifik ergründet werden, muss gesellschaftlich verhandelt werden, was geschehen ist und warum.
Der Antwortversuch der Politik beschränkte sich zunächst auf ein kurzes, hilfloses Revival der längst überwunden geglaubten „Killerspiel“-Debatte. Es folgten ebenfalls altbekannte Forderungen nach einer Aufrüstung der Überwachungs- und Sicherheitsapparate. Den Medien fiel vor allem eines ein: Selbstbespiegelung. Natürlich, es gab Artikel, die die Dimension der Tat klug beleuchteten. Dennoch schien in den Tagen danach der Fokus der Debatte nicht auf der Tat selbst, sondern auf der Berichterstattung darüber zu liegen. Es erschienen zahlreiche Artikel zu den Fallstricken der Live-Berichterstattung in Zeiten des Online-Journalismus. Das Gesicht von München wurde der Pressesprecher der Polizei. Ein Mann, der nicht nur vorbildlich seinen Job gemacht hatte, sondern auch noch blendend gut dabei aussah und sich daher bestens zur medialen Vermarktung eignete.
Rechtsextremistischer Charakter der Tat bleibt in den Medien nebensächlich
Vor allem die Opfer gerieten darüber in Vergessenheit. Die Ungeheuerlichkeit, dass es sich bei ihnen gezielt um Menschen mit Migrationshintergrund handelte, blieb eine Randnotiz — auch bei der Polizei, die weiter lediglich von „Zufallsopfern“ spricht. Der Präsident des bayrischen LKA bemerkte rund zwei Wochen nach der Tat noch lapidar, die unterschiedlichen Nationalitäten der Opfer seien wohl einfach auf das „multikulturelle Umfeld“ am Tatort Olympia-Einkaufszentrum zurückzuführen. Es ist ein altbekanntes und sich ständig wiederholendes Muster bei Taten mit fremdenfeindlichem Hintergrund. Das Motiv Rechtsextremismus wird beiseitegeschoben an die Grenze der Verleugnung. Im Fokus der Ermittlungen stehen psychische Störungen und private Problemen des Täters.
Interessanterweise spielt die Ethnie oder Herkunft des Täters/der Täterin oft eine fundamentale Rolle bei der Bewertung der Tat. Dies zeigte sich in den letzten Jahren immer deutlicher in den USA, aber auch in Europa. Es gibt zahlreiche Artikel und sogar Memes zu dem Thema. Kurz heißt es dort oft: „Black = Thug — Brown = Terrorist — White = Psycho“. Schwarze Täter gelten als Verbrecher, braune Täter als Terroristen, weiße Täter als Psychopathen.
Dieses Mal aber, hat der rassistische Täter selbst einen Migrationshintergrund, ist selbst „brown“. Wie also damit umgehen? Sollte man sich etwa zum Sarkasmus hinreißen lassen, es sei aus linker Sicht als Fortschritt zu werten, dass Ermittler/innen und Öffentlichkeit einem Täter mit iranischen Eltern wenigstens zugestehen, nicht Islamist sondern psychisch krank zu sein — wenn auch zu dem Preis, dass seine rechtsextremistische Ideologie übergangen wird? Freilich nicht. Deutlich wird hier aber, wie hochgradig aufgeladen das Terrain ist.
Ebenso wie die Versuche, den Neunfach-Mord von München als Tat eines Psychopathen zu deuten, gibt es Versuche ihn als Tat eines rassistischen Diaspora-Iraners auszulegen. Der iranisch-amerikanische Journalist und Anthropologe Alex Shams etwa weist darauf hin, dass in einigen iranischen Diaspora-Communities durchaus „arische“ Überlegenheitsgefühle und Islamophobie grassieren. Eine These, die übrigens auch der Berliner Landesvorsitzende der AfD in einem Interview mit dem RBB Inforadio aufgriff, als er über die „persischen Wurzeln“ von Sonboly referierte — seine Rede allerdings postwendend selbst diskreditierte, indem er einen Atemzug später behauptete, er habe der „ausländischen Presse“ entnommen, Sonboly habe ebenfalls „Allahu Akbar“ gerufen.
"Ich bin Deutscher!" - Spielt die Herkunft der Eltern eine Rolle?
Dem kann man, wie Alice Bota auf ZEIT ONLINE getan hat, entgegenhalten, dass David Sonboly in aller erster Linie Deutscher war. Bota kritisiert in ihrem Artikel den öffentlichen Umgang mit dem, was sie eine „Bindestrich-Identität“ nennt: „Deutsch-Iraner“. Bota schreibt: „Als die Nachricht die Runde machte, dass der Täter Ali S., der sich David nannte, iranische Eltern hatte, da war aus dem Deutsch-Iraner längst ein Deutsch-IRANER geworden, ein Ausländer. Ein Ali eben und kein David.“
Bota ist der Meinung, die Betonung auf Sonbolys „Bindestrich-Identität“ habe die Debatte unnötig verschoben. Sie schreibt: „ …es hatte keine Bedeutung für seine Tat, dass Ali David S. iranische Eltern hatte. Er fand offenbar die AfD gut und schien sich vom Rassenwahn des Norwegers Anders Behring Breivik angezogen zu fühlen, der vor fünf Jahren 77 Menschen tötete. Er hasste Menschen. Der Verweis auf die ausländischen Eltern war eher irreführend als hilfreich.“
Die Annahme, der Verweis auf David Sonbolys ausländische Eltern sei „eher irreführend als hilfreich“, ist von dem Standpunkt aus nachvollziehbar, die Fokussierung auf Sonbolys „Bindestrich-Identität“ behindere die notwendige Debatte über rassistischen Terror in Deutschland. Natürlich war David Sonboly Deutscher — und zwar nicht weniger als Deutsche mit deutschen Eltern. Nun verhält es sich mit der „Bindestrich-Identität“ in der deutschen Sprache aber tatsächlich so, dass das Subjekt immer Ausländer bleibt, in diesem Fall „Iraner“. Das „Deutsch“ in „Deutsch-Iraner“ ist lediglich ein Prädikat, etwas dem eigentlichen Wesenskern des Subjekts Fremdes, äußerlich Zugeschriebenes — im Gegensatz zum Englischen, wo es zum Beispiel heißt: Iranian American.
Aber ist es damit getan? Tut sich hinter der Tatsache, dass ein Deutscher nicht-deutscher Eltern gezielt Jagd auf Deutsche mit nicht-deutschen Eltern macht, nicht doch ein eigener Abgrund auf, der in seiner ihm eigenen Ungeheuerlichkeit beleuchtet werden muss? Es bei der Feststellung zu belassen, dass der Täter selbstverständlich Deutscher war, verhindert dies ebenso wie die Verengung der Debatte auf seinen Migrationshintergrund. Stattdessen gilt es, die Tat in ihrer Hybridität zu sehen.
Ein Einzelfall, der unbequeme Fragen offen lässt
Wenn man von einer Tat ausgeht, die sich weder aus einem metaphysischen Bösen speist, noch aus blindem, psychopathologischen Wahn, dann hat es Gewicht, dass David Sonboly iranische Eltern hatte, genau wie es Gewicht hat, dass dieser Junge mit iranischen Eltern in Deutschland aufwuchs und Deutscher war. Dann gehört es ergründet und diskutiert, was für Verhältnisse in Deutschland herrschen, wenn ein Junge hier nicht mehr Ali heißen will, sondern David, wenn er sich von rechtsextremen Schriften und Amokläufern faszinieren lässt und schließlich eine so starke Störung entwickelt, dass er neun Menschen das Leben nimmt. Menschen, die nur deshalb Ziel seines Hasses wurden, weil sie eine Kleinigkeit mit ihm verbindet: dass ihre Eltern, genau wie seine, nicht in Deutschland geboren wurden.
Vielleicht ist der Hinweis auf Sonbolys iranische Eltern also nicht eher irreführend als hilfreich — sondern sowohl irreführend als auch hilfreich. Irreführend, weil er hinausführt aus der Scheinsicherheit der Kategorien, die die gesellschaftliche Wahrnehmung der jüngsten Gewaltausbrüche in unseren Städten bestimmen — und hineinführt, genau in jene Irre, die sich in dem Parkhaus-Video offenbart. Die Irre, in der ein sogenannter Bio-Deutscher einen sogenannten Deutsch-Iraner als „Kanacke“ beschimpft, der sogenannte Deutsch-Iraner mit „Scheiß Türken!“ und „Ich bin Deutscher!“ antwortet, nachdem er neun Menschen getötet hat, weil sie keine deutschen Eltern haben.
Diese Irre ist gesellschaftliche Realität. In ihr müssen wir uns zurechtfinden. Die Antworten, wenn es welche gibt, liegen nicht in der trügerischen Klarheit metahistorischer Erzählungen. Sie liegen in der Vielschichtigkeit eines jeden Einzelfalls, den jede Tat trotz aller systemischen Zusammenhänge immer bildet.