In ihrem Buch "La Fin de l’hospitalité" beobachten Fabienne Brugère und Guillaume Le Blanc das Ende der politischen Gastfreundschaft in Europa. Wir haben mit den beiden Philosoph/innen gesprochen.
Spätestens seit dem Sommer der Migration im Jahr 2015 sind Neuankömmlinge in Europa zunehmend unerwünscht. Die Philosophin Fabienne Brugère und der Philosoph Guillaume Le Blanc beschreiben in ihrem Buch „La Fin de l’hospitalité. Lampedusa, Lesbos, Calais… Jusqu’où irons-nous?" (Flammarion), das in Frankreich seit seinem Erscheinen im Januar 2017 diskutiert wird, wie wir dabei sind, den Gast in einen Fremden zu verwandeln. Dabei hätten sich doch alle antiken Gesellschaften genau gegenteilig verhalten - und den Fremden zum Gast gemacht. Die beiden Autor/innen berichten in ihrem Buch von ihrer Reise quer durch Europa, vom „Jungle“ in Calais bis zu den Geflüchtetenlagern in den Hangars auf dem Flughafen Tempelhof in Berlin. Anhand ihrer Recherche entwerfen sie Konturen einer politischen Gastfreundschaft, die auf dem Vertrauen in die Zivilgesellschaft aufbauen sollte. Denn würden wir die Gastfreundschaft wirklich beenden, wäre das auch das Ende jeder Gemeinschaft.
Carolin Wiedemann: Was meinen Sie mit dem Ende der Gastfreundschaft? Um welche Art von Gastfreundschaft geht es Ihnen?
Guillaume Le Blanc: Gastfreundschaft kann eine ethische Geste sein, nach dem Modell der Antike, das sich auf die persönliche Ebene konzentrierte. Unser Titel bezieht sich aber auf die politische Dimension: Wir beobachten das Ende der politischen Gastfreundschaft, nicht das Ende jeglicher Gastfreundschaft.
Also gab es Ihrer Meinung nach bis vor Kurzem politische Gastfreundschaft?
Fabienne Brugère: Seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich in Europa die politische Idee, dass Gastfreundschaft universell gewährleistet werden soll, dass es ein Recht auf Besuch, auf Migration geben soll. Auch in den universellen Menschenrechten von 1948 geht es an zentraler Stelle um die Verpflichtung, Menschen zu empfangen und ihnen dauerhaft ein neues Zuhause zu geben, vor allem jenen, die verfolgt werden.
GB: Aber der politische Wille, das als Recht zu verankern, ist immer mehr verloren gegangen - stattdessen kehrt, wie wir überall sehen, der Nationalismus zurück.
Vor 50 Jahren ging es doch in Europa aber nicht wirklich gastfreundlicher zu.
FB: Natürlich ist das 20. Jahrhundert keines, das man als positives Beispiel anführen will. Und dennoch hat sich bis in die späten 70er Jahre eine Idee von Gastfreundschaft entwickelt, die mit der zunehmenden Demokratisierung der europäischen Länder zusammenhing. Als Frankreich etwa 1979 die Boat-People aufgenommen hat, die aus Laos, Kambodscha und Vietnam gekommen sind, hat die Regierung ihnen den Einstieg in die Gesellschaft erleichtert, sie schnell arbeiten lassen und guten Wohnraum zur Verfügung gestellt. Unser Buch soll den extremen Rückschlag anprangern.
Sie haben sich nicht nur historisch mit Fragen der Gastfreundschaft auseinandergesetzt, sondern sich auch „ins Feld“ begeben, wie die Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler sagen.
GB: Wir waren in der großen Flüchtlingsunterkunft am ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin, an der Grenze von Griechenland und Mazedonien, in Italien und sehr oft in Calais, in Frankreich. Unsere Methode war, ohne Akkreditierung dort hinzufahren und einfach zu versuchen, mit Asylsuchenden und mit Ehrenamtlichen zu sprechen.
FB: Deutschland hat im Sommer 2015 ja noch Hoffnung gemacht, dann aber schwenkte auch Merkel auf den Kurs ein, der die Idee der Gastfreundschaft kaputt macht.
Sie meinen die Sicherheitssprache, die Logik, dass die Menschen, die kommen, eine Bedrohung seien?
GB: Diese Logik legitimiert unsere Staaten, die Neuankömmlinge an jene Nicht-Orte zu verbannen, die wir besichtigt haben: Orte, an denen man die Leute verkommen lässt, bis sie vielleicht sogar wirklich gefährlich werden. Dann umstellt man sie mit Polizei, als handle es sich um Kriminelle. Oder man lässt räumen, wie etwa den so genannten Dschungel von Calais, der zwar notdürftig war, den die Menschen aber für sich selbst geschaffen haben. Das war ein Signal an die Migranten: Selbst jene Orte, die Ihr auf Basis Eurer Solidarität errichtet, werden wir zerstören.
FB: Und wenn wir Euch reinlassen, dann nur, wenn Ihr einen Nutzen für unsere Bevölkerung darstellt.
Kann der Verweis auf den Nutzen von Neuankömmlimgen aber nicht vielleicht eine Strategie sein, um Gastfreundschaft zu stärken? Als Gegendiskurs zu der Logik, die die Angst vor den „Fremden“ schürt?
GB: Doch, ja. Es ist zwar problematisch, Gruppen gegeneinander auszuspielen, aber den Nutzen durch Migranten stärker zu betonen, ist moralisch und politisch überhaupt nicht verkehrt und kann uns aus der Sackgasse helfen. Gastfreundschaft galt lange Zeit als eine Gabe, die mit einer Gegen-Gabe verbunden ist. Doch wenn Neuankömmlinge nicht mehr als Gäste, sondern entweder als gefährliche Fremde oder als gesichtslose Opfer wahrgenommen werden, dann verkommt Gastfreundschaft zu einer altruistischen, aufopfernden Geste - und ist damit unattraktiv. Obwohl es viel klüger wäre, auf den Beitrag der Zuziehenden für das eigene Land zu bauen. Ohne Zuwanderung gehen Gesellschaften ein.
FB: Ich war gerade erst in einem Dorf in Kalabrien, das vom Aussterben bedroht ist, die Einwohner werden immer älter und immer weniger. Und nun kommen dort neue Menschen an. Mit ihnen zusammen renovieren die Einwohner ihre Häuser, eröffnen eine Bäckerei und eine Schule. Das ganze Dorf erneuert sich. Solche Beispiele von ethischer Gastfreundschaft gibt es allerorts in Europa.
GB: Die Menschen, die fliehen und migrieren, haben einen besonders starken Lebensmut und -willen und von dessen schöpferischer Kraft profitieren die Einheimischen.
An der Ethik der Gastfreundschaft soll sich Ihrer Meinung nach eine Politik der Gastfreundschaft orientieren. Wie soll eine solche Politik aussehen?
FB: Die Aufgabe der Politik wäre, die Menschen und Organisationen zu bestärken, die weiter gastfreundlich sind. Gastfreundschaft funktioniert über Ansteckung und Verbreitung, über Zeichen.
GB: Eine Politik der Gastfreundschaft muss vor allem Orte schaffen, an denen die Menschen dauerhaft ein neues Zuhause haben können, an denen sie sich Zuhause fühlen können, in gleichem Maße wie diejenigen, die schon eher an einem Ort waren. Das ist natürlich eine Herausforderung. Jacques Derrida hat das Wort „Hostipitalité“ erfunden - es verbindet die französischen Worte „Hospitalité“, also Gastfreundschaft, und „Hostilité“, Feindseligkeit. Damit verweist er darauf, dass es bei der Gastfreundschaft darum geht, eine eigene innere Gewalt zu überwinden. Spontan und vielleicht sogar aus manch rationalen Gründen hat man den Impuls, seine Türe wieder zu schießen oder sie gar nicht erst zu öffnen. Gastfreundschaft ist der Sieg über diese Feindseligkeit. Ich sage also: Treten Sie ein und fühlen Sie sich ganz zu Hause. Dadurch entsteht ein Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber, das beide gleich macht. Der Gastgeber wird zum Gast, indem er dem Gast sein Haus öffnet und sagt: Fühl Dich ganz zu Hause. Das drückt sich im Französischen schon dadurch aus, dass wir das gleiche Wort für Gast und Gastgeber haben: l`hôte.
Das bedeutet, dass beide die gleiche Verantwortung haben dafür, sich jeweils zu Hause fühlen zu können?
FB: Der Gast hat die Pflicht, sich ebenfalls um eine gute Atmosphäre zu bemühen. Aber dafür muss ihm zu allererst gastfreundlich begegnet werden, also vermittelt werden, dass er sich gleichermaßen zu Hause fühlen kann wie der Gastgeber.
Was heißt das denn konkret?
FB: Gastfreundschaft ist immer etwas Provisorisches: Bis der Migrant wieder geht, muss ein Land ihm ein Zuhause bieten, und wenn er nicht mehr geht, ist Gastfreundschaft das, was ihn allmählich zum Teil der neuen Bürgerschaft macht. Dafür muss man den Menschen von Anfang an eine Stimme und ein Gesicht, also Rechte geben, Recht auf Arbeit und Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung.
GB: In den US-amerikanischen Sanctuary Cities funktioniert das bereits: Sie vergeben lokale Ausweise, die den Neuankömmlingen erlauben, Teil zu haben, zu arbeiten, sich zu versichern, in den Sportverein einzutreten. Es gibt keine Politik der Gastfreundschaft, wenn man nicht das Recht der Menschen umsetzt, hier und jetzt Anspruch zu haben auf die Teilnahme am sozialen Leben. Um eine solche Form von Bürgerschaft zu begründen, müssen Nationalität und Bürgerschaft entkoppelt werden. Daran arbeiten verschiedene europäische Städte, die sich Städte der Zuflucht nennen, wie Barcelona, Madrid und neuerdings auch Paris.
FB: In Paris ging diese Entscheidung von der Bürgermeisterin Anne Hidalgo und ihrer Sozialsenatorin Dominique Versini aus. Sie ließen bereits zwei zentrale Ankunftszentren entwickeln, die von den Leuten aus der Nachbarschaft mit aufgebaut wurden. Hoffen wir, dass die Städte der Zuflucht ihre eigene Politik der Gastfreundschaft gestalten können - und damit auch die Städte der Zukunft werden.
Das Gespräch führte Carolin Wiedemann.
Das Buch "La Fin de l’hospitalité. Lampedusa, Lesbos, Calais… Jusqu’où irons-nous?" ist auf Französisch erschienen bei Flammerion, hier finden Sie eine Leseprobe: Leseprobe, "La Fin de l'hospitalité"