Vor kurzem ist der neue Lyrikband „Ich zähme die Hoffnung“ (2017) von Suleman Taufiq im Sujet Verlag erschienen. Ein liebevoll gestaltetes Buch mit Aquarellmalerei und kraftvollen Gedichten, die sowohl von Liebe sprechen als auch politisch anklagen. Safiye Can und Hakan Akçit haben den syrischen Schriftsteller, Lyriker und Herausgeber zu seiner Arbeit und seinem Leben in Deutschland interviewt.
Safiye Can: Lieber Suleman, du bist Schriftsteller, Lyriker Herausgeber und literarischer Übersetzer aus dem Arabischen ins Deutsche und umgekehrt. Nach deinem Abitur in Syrien hast du dich 1971 in Deutschland niedergelassen. Was gab es für Komplikationen bzw. Gewöhnungsschwierigkeiten zu Beginn?
Suleman Taufiq: Mit 18 verließ ich meine Stadt Damaskus und zog nach West-Berlin. Zum ersten Mal erlebte ich das, was mir damals wie „die große Freiheit“ erschien. Die erste eigene Wohnung und ein ungebundenes Leben. Zum ersten Mal war ich nur noch für mich selbst verantwortlich. Ein neuer Lebensrhythmus. Alles erschien möglich: lange Nächte in Kneipen, studieren, was mich tatsächlich interessierte, ein eigenes selbst verantwortetes Leben. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, „die große Freiheit“ zu leben und zu gestalten.
Es war mein Wunsch in einer fremden Stadt zu leben. Ich wollte zuerst nach Beirut gehen, wo ich geboren bin, aber Beirut war mir nicht fremd genug. Obwohl die Stadt anders war als andere arabische Städte, so war doch die Sprache, die Mentalität, das Essen, die Geschichten der Leute nicht wirklich fremd für mich. Ich suchte die Fremdheit. In der Fremde wird nichts zur Gewohnheit. Du bist gezwungen, auf die Leute zuzugehen. Sie kommen nicht auf dich zu. Du musst dich ständig bemühen zu verstehen. Das ist viel Arbeit und oft auch mühsam. Manchmal ist es anstrengend, aber auch interessant und spannend, sehr kreativ. Du hast ein Gefühl der Freiheit, das die anderen nicht haben. Du darfst auch Fehler machen und dich anders benehmen. Man verzeiht dir, weil du ein Fremder bist.
Als ich damals die erste Kostprobe von Deutschland bekam, keimten bei mir Zweifel auf, ob ich mich in dieser mir so neuen Welt jemals daheim fühlen könnte. München war der erste Halt des Zuges, und dort genehmigte ich mir gemeinsam mit einem Freund die Leib- und Magenspeise der Bayern – eine Weißwurst mit einem Liter Bier. Ich wollte meine Ankunft auf Deutsch feiern. Nichts für gewürzverwöhnte orientalische Gaumen. Wenn das die Zukunft sein sollte, dann blieb nur die Rückfahrkarte. Die Skepsis war beim Weißwurst-Zuzeln also integriert.
Weiter ging die Reise nach Berlin, um dort am Goethe Institut Deutsch zu lernen. Ich kannte damals nur ein einziges deutsches Wort, nämlich "wunderbar".
Die erste Schwierigkeit war das Erlernen der deutschen Sprache. Ich dachte damals, diese Sprache lernst du nie. Ich konnte Englisch und etwas Französisch, aber es erschien mir damals unmöglich, die deutsche Sprache zu erlernen.
In Berlin blieb ich etwa 15 Monate, dann ging ich nach Aachen, wo ich heute lebe.
Ich habe heute Probleme mit dem Kulturrelativismus, bei dem man davon ausgeht, dass die jeweils andere Kultur ein Recht darauf hat, ihre eigene Kultur zu bewahren und man dies auch respektieren muss. Das kann durchaus gut gemeint sein, aber ist gleichzeitig auch eine Falle. Denn so bleibt man weiter nur unter sich und braucht sich nicht mit der anderen Kultur auseinanderzusetzen oder seine eigene Kultur in Frage zu stellen.
Vor kurzem ist dein neuer Lyrikband „Ich zähme die Hoffnung“ (2017) im Sujet Verlag erschienen. Ein liebevoll gestaltetes Buch mit Aquarellmalerei und kraftvollen Gedichten, die sowohl von Liebe sprechen, als auch politisch anklagen. Kannst du uns etwas über die Arbeit am neuen Gedichtband erzählen?
Die Gedichte dieses Lyrikbandes entstanden in den letzten fünf Jahren. Die Themen sind geprägt von den Ereignissen der letzten Jahre im Nahen Osten und vor allem in Syrien.
Ich fühlte mich damals angesichts der Brutalität des Konflikts in Syrien wie gelähmt. Dort herrschte die Philosophie des Tötens und der Zerstörung. Ich war nicht nur traurig, sondern auch zerrissen. Der Grat zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Zuversicht und Resignation war bei mir damals sehr schmal. Deswegen der Titel „Ich zähme die Hoffnung“. Ich habe die Auswahl einfach so spontan getroffen.
Meine Gedichte sind ein Spiegel meiner selbst und bringen den Schmerz meiner Erfahrungen während dieser schwierigen Zeit zum Ausdruck.
Ich wollte keine politische Analyse liefern, sondern Literatur schreiben. Denn an solchen Situationen wie in Syrien können wir nichts ändern, aber die Literatur hilft mir dabei, ein anderes Bild von diesem Land zu zeigen.
Es ist der künstlerische Versuch zu verstehen, was in Syrien geschieht. Es sind Reflexionen, die bestimmte Stimmungen wie Angst, Verzweiflung, Freude und Überlebenswillen aufgreifen.
Angesichts der schrecklichen Bilder und der deprimierenden Nachrichten, die uns aus Syrien erreichen, übersehen viele, dass Syrien ein altes Land ist. Das Land blickt auf eine mehr als 7000-jährige Geschichte als kulturelles und religiöses Zentrum des Orients zurück – und auf die Ursprünge unserer westlichen Kultur: die Erfindung des Rades, der Schrift, des Alphabets und der musikalischen Notation.
Die arabische Sprache ist herrlich poetisch, vieldeutig wie auch melodisch. Was sind die größten Schwierigkeiten bei der Übersetzung insbesondere von Gedichten aus der arabischen Sprache in die Deutsche? Fällt es dir leichter ins Deutsche oder ins Arabische zu übersetzen?
Mir fällt es leichter aus dem Arabischen ins Deutsche zu übersetzen als umgekehrt.
Arabisch ist eine Sprache der Poesie. Sie ist metaphorisch und bildhaft. Poesie heißt auf Arabisch "Schi'ir". Das Wort stammt von dem sumerischen Wort "Schir", was so viel heißt wie "Gesang, Rezitation oder Sprechgesang". Schi'ir bedeutet auch Gefühl, das heißt der Dichter musste etwas anderes fühlen, als das, was die normalen Menschen fühlten. Das Wort Schi'ir hat mit den Ritualen und den Zeremonien zu tun, die die Menschen aneinander binden.
Auf Deutsch heißt Poesie Dichtung, das heißt also die Sprache verdichten. Zwischen beiden Definitionen der Poesie ist meine Lyrik entstanden.
Im Türkischen sagt man auch „Şiir“ zum Gedicht. Nun bist du nicht nur Übersetzer, sondern auch Herausgeber von zweisprachigen Lyrik-Anthologien, was enorm viel Arbeitsaufwand sowie Geduld verlangt. Lyrik dient ja auch als Begegnungsstätte von Kulturen. Was machte dich zum Lyrikübersetzer?
Als Schriftsteller, der in beiden Sprachen, der deutschen und der arabischen, lebt und schreibt, habe ich ein großes Interesse an der Übersetzung literarischer Texte.
Die Poesie ist das Sammelbecken des Gedächtnisses der Menschen, ein Sammelbecken der Ästhetik des Gedächtnisses. Es gibt lyrische Texte, die ewig bleiben, weil sie ins Gedächtnis eingedrungen und zeitlos sind. Mein Gedächtnis ist orientalisch, mediterran und mitteleuropäisch.
Das Gedächtnis ist außerhalb der Zeit, zeitlos, es ist nicht an eine historische Epoche gebunden. Das Gedächtnis ist wie die Poesie und hat mit der Seele des Ortes zu tun.
Ich schreibe selbst Lyrik. Trotzdem ist Lyrik-Übersetzen nicht einfach. Es ist eine Herausforderung für mich, deutsche Lyrik ins Arabische und arabische Lyrik ins Deutsche zu übersetzen.
Welchen Problemen warst du als (junger) Schriftsteller mit einem nicht-deutschen Namen ausgesetzt? Und was hat sich heute daran geändert bzw. nicht geändert?
Damals, als ich meinen ersten Gedichtband (1979) auf Deutsch veröffentlichte, gab es kaum Schriftsteller mit Migrationshintergrund, die auf Deutsch schrieben. Das war etwas Neues in der deutschsprachigen Literatur-Szene. Dann haben wir, Franco Biondi, Yusuf Naoum, Rafik Schami und ich die Reihe Südwind in der Con Edition Bremen herausgegeben. Das war der Anfang für eine neue literarische Bewegung. Heute ist die deutschsprachige Literatur ohne die Autoren mit Migrationshintergrund nicht mehr denkbar.
Hast du eine Anekdote für uns? Etwas, das dir in Erinnerung blieb und vielleicht ewig bleiben wird?
1982 war ich einmal zu einer Lesung eingeladen. Als ich dort ankam, begrüßte mich die Dame freundlich, die die Veranstaltung organisiert hatte und fragte in gebrochenem Deutsch: „Wer soll die deutschen Texte lesen?“. Ich antwortete: „Welche Texte?“ „Ihre Texte.“ Ich sagte „Ich“. Sie schaute mich irritiert an. Ich sagte:" Entschuldigen Sie, ich bin ein deutschsprachiger Autor." Wir waren damals sehr exotisch und wurden nur von Institutionen und sozialen Verbänden eingeladen. Der Literaturbetrieb hat uns völlig ignoriert.
Was mich heute stört, ist die Frage:" Woher kommen Sie? Wie lange leben Sie hier? Sie sprechen aber gut Deutsch.
In deinem Roman „Café Dunya“ (Edition Orient, 2015) taucht der Leser in eine Welt orientalischer Gelassenheit und des Friedens ein, also in das Syrien vor dem Krieg. Wie hast du aus dem Ausland die zunehmende Eskalation der Gewaltspirale, die letztendlich in einem grausamen Krieg endete, erlebt?
Die Novelle Café Dunya - Ein Tag in Damaskus ist für mich eine Art Hommage an meine Stadt Damaskus. Ich konnte diese Bilder im Fernsehen nicht mehr ertragen. Ich konnte aber auch die Berichterstattung in der Presse nicht mehr lesen. Auf einmal traten so viele Experten auf, die überall die gleichen Geschichten erzählten und die letzten Endes zeigten, dass sie nicht viel Ahnung von diesem Land hatten. Ich wollte Geschichten von der Stadt Damaskus und ihren Bewohnern schreiben.
Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ hat die Europäische Union vor eine Bewährungsprobe gestellt. In einer Strophe aus deinem bewegenden Langgedicht „der Tod allein kennt die Stille“ (aus „Ich zähme die Hoffnung“) heißt es:
"Frage: wie heißt du, wie alt, Staatsangehörigkeit?
du sagst nur: Flüchtlinge, Flüchtlinge, Krieg.
du verstehst die Frage nicht.
du fragst nach Wasser
für deine Kinder: water, water!
dieses Wort hast du auswendig gelernt.
du hast keine Angst vor dem Hunger,
du hast Angst
vor der Kälte des Nordens."
Was empfindest du, wenn Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern von rechtsnationalen Parteien innenpolitisch dafür missbraucht werden, Fremdenfeindlichkeit zu schüren und der einheimischen Bevölkerung als „Problem“ dargestellt werden?
In der syrischen Geschichte waren die Flüchtlinge, die nach Syrien kamen, willkommen. Sie konnten sich schnell integrieren. Deshalb hat Syrien viele ethnische und religiöse Gruppen, es ist ein buntes Mosaik. Jetzt müssen sie aus ihrem Land flüchten. Das ist bitter und eine Schmach für sie. Über 8 Millionen Syrerinnen und Syrer haben das Land verlassen.
Hat die Weltgemeinschaft im Falle Syriens versagt?
Die Weltgemeinschaft trägt auch einen Teil der Schuld an dem, was in Syrien geschieht. In Syrien sind so viele Akteure am Werk. Die Syrer sind total ausgeliefert. Sie entscheiden nicht über ihr Schicksal. Syrien ist eine Tragödie.
Ein undurchschaubarer, schmutziger Krieg findet statt. Eine menschliche und zivilisatorische Katastrophe. Die Gewalt ist materiell, moralisch und kulturell gegen das Volk gerichtet.
Glaubst du, du wärst der Autor, der du jetzt bist, wenn du in Syrien geblieben wärst?
Nein. Ich glaube, dass die Fremde aus mir einen Schriftsteller gemacht hat. In der Fremde habe ich gefunden, wonach ich mich schon in Syrien gesehnt habe.
Die Fremde beginnt, wenn du mit deiner Umgebung nicht einverstanden bist, mit ihren Gewohnheiten, mit ihren Gesetzen, mit ihren Vorstellungen, mit ihren Werten, mit ihrer Moral. Der Ort ist unwichtig.
Im Grunde bin ich heute gleichzeitig ein Orientale und ein Okzidentale, in der Sprache, im Körper, im Essen, in der Liebe. Mein Blut ist okzidentalisch und orientalisch, meine Worte, meine Gefühle. Meine Identität liegt zwischen beiden Ufern im Norden und im Süden des Mittelmeers. Ich betrachte mich selbst als Produkt dieses Meeres.
Was wäre die eine Sache, die du auf keinen Fall mitnehmen würdest, wenn du auf eine einsame Insel müsstest?
Ein Auto. Ich kann überhaupt nicht Autofahren und ich besitze auch keinen Führerschein.
Vielen Dank für das Interview!
Dieses Interview führten Safiye Can und Hakan Akçit im März und November 2017.