Wir brauchen ein klares Bekenntnis zum Einwanderungsland

Karl-Heinz Meier-Braun, der vor kurzem sein „Schwarzbuch Migration“ in der Heinrich-Böll-Stiftung vorgestellt hat, kommentiert die aktuelle Integrations- und Migrationspolitik der Bundesregierung und vermisst dabei ein klares Bekenntnis zu Deutschland als Einwanderungsland.

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Karl-Heinz Meier-Braun im Gespräch mit Cem Özdemir

Beim gestrigen Integrationsgipfel im Kanzleramt hat die Bundesregierung eine neue Version des Integrationsplans angekündigt, der alle Integrationsmaßnahmen und Aufgaben der Bundesministerien bündeln soll. Wie wir aus der Migrationsvergangenheit wissen, ist Papier geduldig und an guten Vorschlägen, was man tun sollte, mangelt es nun wahrlich nicht, sie füllen ganze Regale und reichen weit zurück.

Viel zu oft wurden die Probleme beschrieben, Lösungsvorschläge vorgelegt, aber eben nicht umgesetzt. Wissenschaftler*innen, auf die gerade in diesem Bereich wenig gehört wird, weil sie unbequeme Wahrheiten verbreiten, haben immer wieder Expertisen veröffentlicht. So hat bereits 1979 ein Forschungsverbund beim Bundesminister für Forschung und Technologie ein „radikales Umdenken in der bisherigen Politik der Ausländerbeschäftigung“ verlangt.

Die Wissenschaftler stellten fest: „Die Alternative heißt, entweder das Risiko einer unkontrollierten sozialen Entwicklung mit erheblichem Konfliktpotential einzugehen oder den faktischen Status der Bundesrepublik als Einwanderungsland auch rechts- und sozialpolitisch mit allen Konsequenzen nachzuvollziehen“.

Aus Fehlern lernen

Die verschiedenen Bundes- und Landesregierungen wurden jahrzehntelang überhäuft mit Berichten und Untersuchungen, wie man die helle Seite der Migrationspolitik stärken sollte. Die Berichte sind heute noch aktuell. Dazu gehört der „Kühn-Bericht“ des ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung von 1979, an den sich die SPD erinnern und insgesamt Lehren aus den Fehlern ihrer Migrationspolitik ziehen sollte, was im Übrigen für alle Parteien gilt.

Der frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn (SPD), kritisierte die bisherige Ausländerpolitik, die zu sehr von arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten geprägt worden sei. Er forderte die Anerkennung der „faktischen Einwanderung“ und beispielsweise ein Kommunalwahlrecht für Ausländer. Kühn wies damals schon auf die Geburtenentwicklung und die Auswirkung auf den Arbeitsmarkt hin. Es gebe keine „Gastarbeiter“ mehr, sondern Einwanderer.

Wie später die Vorsitzende der Zuwanderungskommission der Bundesregierung, Rita Süssmuth (CDU) in ihrem Bericht im Jahre 2001, forderte Kühn schon seinerzeit einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel. Kühn machte deutlich, dass die Öffentlichkeit sachlich informiert und die „gesellschaftspolitische Notwendigkeit einer neuen Weichenstellung“ verdeutlich werden müsste.  Auch die Heinrich- Böll-Stiftung hat mit ihrer neusten Studie nicht nur die Problemlage beschrieben, sondern konkrete Maßnahmen zur deren Lösungen vorgelegt. Dazu gehört vor allem eine kohärente Integrations- und Einwanderungspolitik.

Die Expertinnen und Experten der Kommission „Perspektiven für eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik“ plädierten auch für die Einrichtung eines eigenständigen Integrationsministeriums auf Bundesebene. Der Bericht mit dem Titel „Einwanderungsland Deutschland“ soll künftig zahlreichen Politikakteuren als Arbeitsgrundlage dienen. So müssten die Ziele einer künftigen Migrationsaußenpolitik Deutschlands klar benannt werden und sich an der Menschenwürde und den Menschenrechten ausrichten.

 „Fluchtursachen, nicht die Flüchtlinge bekämpfen“, so steht es sogar wörtlich im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. Aber wie wird das in die politische Praxis umgesetzt, bleibt es wieder einmal bei Lippenbekenntnissen? Wird die Zivilgesellschaft, die großartige Leistungen bei der Integration der Flüchtlinge und Migrant*innen vollbracht hat, besser unterstützt und gestärkt? Wann kommt endlich ein offener Dialog zwischen Politik und Gesellschaft zu Flucht und Migration, eine Art „Informationsoffensive“, bei der die Daten und Fakten und nicht die Meinungen über die Tatsachen im Vordergrund stehen?

Dialog zwischen Politik und Zivilgesellschaft nötig

Wann wird endlich die Gesellschaft in die Diskussion um die Asylpolitik einbezogen, bisher wurden über viele Jahrzehnte hinweg gravierende Beschlüsse und Einschnitte sogar in das Grundgesetz, in Menschenrechte vorgenommen, ohne dass es einen Dialog darüber zwischen Politik und Zivilgesellschaft gegeben hätte. Wer vermittelt den Bürgerinnen und Bürgern, dass Integration eine Generation und länger braucht? Wann werden Migrant*innen und Flüchtlinge und ihre berechtigten Interessen in einen solchen Dialog und die entsprechenden Konzepte einbezogen? 

Die Bundesregierung schafft kein Integrationsministerium, sattdessen überlässt man den Kernbereich der Migrationspolitik wieder dem Bundesinnenminister, der wie all seine Vorgänger seit jeher eine restriktive, vom ordnungspolitischen Denken und von Abwehr bestimmten Kurs verfolgt. Erst um die Jahrtausendwende, vor allem mit dem Zuwanderungsgesetz von 2004, konnten sich die Parteien zu einem Bekenntnis „Wir sind Einwanderungsland!“ durchringen und eine Integrationspolitik auf die Fahnen schreiben. Dieser All-Parteien-Konsens geriet aber spätestens in der „Flüchtlingskrise“ ab 2015 ins Wanken, eine restriktive Flüchtlingspolitik stand im Vordergrund. 

Der Koalitionsvertrag verstärkt eher die dunkle Seite der Migrationspolitik, auch wenn das angekündigte Fachkräfteeinwanderungsgesetz einen gewissen Fortschritt darstellt, durch das der Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte geordnet und gesteuert werden soll. Dabei handelt es sich aber nur um einen Teilbereich der Einwanderung, durch den aus Eigennutz dem dramatischen Fachkräftemangel begegnet werden soll, auf den beispielsweise eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (iwd) hinweist.

Zukunftsfähige Asylpolitik braucht politischen Mut

Besonders problematisch ist die weitere Verschärfung der Asylpolitik, die jetzt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) angekündigt hat. Die Asylverfahren sollen in zentralen Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen (ANkER) bearbeitet werden, in denen unter anderem das BAMF und Ausländerbehörden zusammenarbeiten. Dort soll Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung bzw. Rückführung stattfinden. Wie das organisiert und wie dort eine Beratung und rechtsstaatliche Verfahren überhaupt stattfinden können, bleibt offen. Offensichtlich handelt es sich bei diesem Plan um eine weitere Abschreckungsmaßnahme in der Asylpolitik, gegen die es zurecht schwerwiegende Bedenken gibt: Widerstände einzelner Kommunen sowie der Bevölkerung führen zu großen Schwierigkeiten bei der Standortbestimmung.

„Ausländer unterschiedlicher Nationalität, Kultur und Religion werden zwangsläufig auf engem Raum untergebracht. Dies kann sowohl zu erheblichen Schwierigkeiten innerhalb des Wohnheims als auch zu Störungen im Zusammenleben mit der deutschen Bevölkerung führen.“ Diese kritischen Anmerkungen stammen nicht etwa aus diesen Tagen, sondern von der baden-württembergischen CDU-Landesregierung aus dem Jahre 1978! An ihrer Gültigkeit haben sie nichts verloren, wie die aktuelle Kritik der Gewerkschaft der Polizei (GdP) zeigt. Die Ankerzentren seien mit dem deutschen Recht unvereinbar. Die GdP wolle „keine Lagerpolizei“ sein. In den geplanten Zentren würde „ein erhebliches Aggressions- und Gefährdungspotenzial heranwachsen“, so die Warnungen der Polizei.

Eine klare Aussage, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, vermisst man bei der neuen Bundesregierung. An der Zeit wäre es auch, endlich so etwas wie eine „Blut-, Schweiß und Tränen-Rede“ zu halten und die Wählerschaft darauf einzustimmen, dass wir auf Dauer mit einem weiteren globalen Anstieg von Flucht und Vertreibung umgehen müssen, dass dazu Hilfsbereitschaft und Opfer notwendig sind. Dazu fehlt aber offensichtlich der politische Mut.