Ein Gespräch mit Sophia Wirsching von "Brot für die Welt" über Migrationsaußenpolitik, den EU-Afrika-Gipfel und den Bericht „Einwanderungsland Deutschland“ der Heinrich-Böll-Stiftung.
Till Uebelacker: Frau Wirsching, in dem Bericht der Fachkommission der Heinrich-Böll-Stiftung, der Anfang Dezember vorgestellt wurde, werden die Begriffe Menschenrechts-Monitoring und Menschenrechts-Mainstreaming hervorgehoben, also eine starke Evaluierung und Kontrolle bei „Migrationspartnerschaften“. Wie sollte die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten aus Ihrer Sicht optimalerweise aussehen?
Sophia Wirsching: Eine gute Frage. Zuerst sollte man überlegen, unter welchen Bedingungen arbeite ich mit wem zusammen, um was zu erreichen. Mich stört an erster Stelle, dass die Migrationspolitik das entscheidende Politikum ist. Man könnte auch "Good Governance" priorisieren, also die Stärkung staatlicher Institutionen, die Bekämpfung der Korruption oder die Stärkung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten für die Bevölkerung.
So können wir langfristig positive Effekte auf die Kooperation erzielen. Das Politikziel, das die Kooperation beschreibt, ist sehr wichtig. Gerade in Bezug auf Afrika zeigen uns die Zahlen, dass der aktuelle Aktionismus empirisch nicht gerechtfertigt ist. Letztes Jahr sind weniger als 200.000 Menschen von Nordafrika Richtung Italien aufgebrochen und dieses Jahr sind es ungefähr 160.000.
Die Europäische Union hingegen hat etwa 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Da fallen die Zahlen neu ankommender Migrantinnen und Migranten und Schutzsuchender kaum ins Gewicht. Ein Großteil der Migration findet zudem innerhalb Afrikas statt und nicht Richtung Europa. Über 30 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner leben nicht in dem Land, in dem sie geboren worden sind, halten sich aber trotzdem zu 80 Prozent in Afrika auf.
Sie kritisieren die Ausgewogenheit der Instrumente bei Migrationspartnerschaften?
Ich würde die Frage stellen, ob die bestehenden Migrationspartnerschaften richtig ausbalanciert sind und ihrem eigenen Anspruch gerecht werden. Die legale Migration kommt in den Abkommen völlig zu kurz. Da spricht eigentlich überhaupt niemand drüber. Auch die Zusammenhänge von Migration und Entwicklung sind mittlerweile völlig entwertet worden.
Früher war das anders. Es gibt viele Ansätze zum Beispiel um „remittances“ (Rücküberweisungen von Arbeitsmigrant/innen in Herkunftsländer, Anm. d. Red.) besser entwicklungspolitisch zu nutzen oder um die Arbeitsmigration zu entsprechenden Standards zu ermöglichen, ohne dass die Migrantinnen und Migranten ausgebeutet werden. Es sollten auch deutlich mehr Pilotprojekte aus der Entwicklungspolitik gestärkt werden.
Auch der Flüchtlingsschutz wird gerade ziemlich pervertiert. Er wird in Länder auslagert, die eigentlich nicht bereit oder in der Lage sind, nach den völkerrechtlichen Standards Menschen auf der Flucht zu schützen. Deswegen sollten Migrationspartnerschaften wirklich nochmal auf den Prüfstand gestellt werden.
Es gibt eine Unausgewogenheit zwischen Abschreckung und Rückkehr auf der einen und der Möglichkeit legaler Migrationsmöglichkeiten auf der anderen Seite. Im Bereich Grenzsicherung, Grenzmanagement, Migrationskontrolle, Unterbringung, Inhaftierungen und auch hinsichtlich restriktiver Gesetzesmaßnahmen ist so viel passiert, da wird man nicht fertig, das aufzuzählen.
Der EU-Afrika-Gipfel in Abidjan stand unter dem Titel "Investitionen in die Jugend für eine nachhaltige Zukunft". Welches Fazit ziehen Sie nach dem Gipfel?
Wir haben tatsächlich gehofft, dass es jetzt einen Moment gibt, in dem die Beziehungen zu Afrika fundamental auf den Prüfstand gestellt werden, um der Jugend nachhaltige Perspektiven eröffnen zu können. Das ist leider nicht passiert.
Die "Investitionen in die Jugend“ sollen vor allem vor dem Hintergrund erfolgen, dass die Jugendlichen möglichst Perspektiven in Afrika finden, um dort zu bleiben und Europa sich nicht unmittelbar mit der afrikanischen Jugend auseinandersetzten muss. Der EU-AU-Dialog findet nur alle Jubeljahre und viel zu selten statt.
Das Thema Migration stand eigentlich offiziell gar nicht auf der Agenda. Leider war die Europäische Union, trotz Mobilisierung der Zivilgesellschaft und Forderungen der Afrikanischen Union, nicht bereit, von ihrer eigenen Agenda und ihren Interessen abzurücken und Kompromissbereitschaft zu signalisieren.
Die Elfenbeinküste mit ihrer Hauptstadt Abidjan ist ein von politischen Krisen geprägtes Land. Der Bevölkerung war es lange Zeit nicht möglich, ihren demokratischen Willen auf der Straße auszudrücken. Der Gipfel der Zivilgesellschaft, der im Vorfeld des Treffens der Regierungsvertreter/innen einen offenen Raum für Austausch ermöglichen sollte, wurde relativ spontan genehmigt, dann jedoch unter recht fadenscheinigen Begründungen durch die lokale Verwaltung für beendet erklärt.
Der Veranstaltungsort wurde abgeriegelt und geplante Veranstaltungen konnten nicht durchgeführt werden. Der EU-AU-Gipfel hat gezeigt, dass die Zivilgesellschaft offenbar kein Sagen darin hat. Die Jugendvertreterinnen und -vertreter, denen ursprünglich eine kurze Redezeit eingeräumt wurde, wurden kurzerhand aus dem Programm gestrichen.
Und leider war nur eine geringe Zahl sorgfältig ausgewählter Nichtregierungsorganisationen in den Dialog eingebunden. Das spiegelt die Vielfältigkeit der afrikanischen Zivilgesellschaft nicht wider. Es gibt also noch große Hausaufgaben, was die Beteiligung angeht.
Die Abschlussdokumente der EU-AU- Gipfel enthalten keine konkreten Zielvorgaben, es werden Arbeitsgruppen gebildet. Die EU verspricht Garantien für Risikokapital von 4 Milliarden Euro. Damit sollen Investitionen von 40 Milliarden privater Investoren ermöglicht werden. Wie sind diese Transfers aus Ihrer Sicht zu bewerten? Sind die Garantien mit Konditionalitäten verknüpft und inwieweit sind die afrikanischen Partner bereit sich den Vorstellungen der EU anzupassen, um diese Gelder zu erhalten?
Die Ergebnisse solch hochrangiger Gipfeltreffen muss man immer etwas nüchtern und nicht mit übersteigerten Erwartungen betrachten. Die wirtschaftliche Rationalität und die wirtschaftlichen Interessen europäischer Unternehmen stehen im Vordergrund. Die Europäische Union hat diesen Investmentplan schon letztes Jahr aus der Taufe gehoben.
Auch während des G20-Gipfels hat sich die Bundesregierung dafür starkgemacht. Mit den vier Milliarden Euro will die EU insgesamt Investitionen privater Unternehmen im Umfang von 40 Milliarden Euro hebeln, indem ihr Risiko durch Bürgschaften minimiert wird, sollen Investitionen befördert werden, die wiederum Armut reduzieren und dauerhaft Arbeitsplätze schaffen sollen.
Es versteht sich aber von selbst, dass das kein Selbstläufer ist. Die Europäische Union hat es geschickt gemacht. Sie verhandelt zunächst einmal mit der Afrikanischen Union, die sich insgesamt so heterogen wie die Europäische Union abbildet. Sie geht aber auch gezielt auf einzelne Länder zu, analog zu den Mitgliedsstaaten.
Die Bundesrepublik zum Beispiel hat fünf Länder identifiziert, die wie Ruanda wirtschaftlich boomen oder wie Niger auf Migrationsrouten liegen. Diese werden mit besonders viel Aufmerksamkeit bedacht. Es ist nicht so, dass alle 55 Staaten in Afrika gleichermaßen davon profitieren werden, sondern nur ausgewählte Staaten.
Beim EU-Trust-Fund zum Beispiel haben die europäischen Staaten Finanzzusagen ganz klar an die Durchsetzung ihrer migrationspolitischen Ziele geknüpft. Dafür steht auch der „more for more“ oder „less for less“ - Ansatz. Wer sich diesen Zielen unterordnet, bekommt mehr Geld in Aussicht gestellt.
Wer den migrationspolitischen Zielen hingegen nicht entspricht, für den wird es ungemütlich, beispielsweise durch Androhung der Kürzung von Geldern aus der Entwicklungszusammenarbeit oder was die Ausgestaltung von Handelsabkommen oder internationale Anerkennungsfragen angeht. Man kann also erkennen: Sobald Vereinbarungen und Verträge in den Dunstkreis von Migrationspolitik rücken, werden sie mit der Durchsetzung migrationspolitischer Interessen verknüpft.
Im Kommissionsbericht der Heinrich-Böll-Stiftung wird der Ansatz „Whole of Government“ vorgestellt. Außen- und entwicklungspolitische Ziele sollen mit Integrations- und Innenpolitik in Einklang gebracht werden. Wie bewerten Sie diesen Ansatz? Und kann damit auch eine Art Agenda-Setting gelingen?
Ja, ich glaube, dass das ganz gut gelungen ist. Steffen Angenendt und Petra Bendel stellen das sehr überzeugend dar. Kohärenz ist ein wichtiges Ziel, aber kein Wert an sich. Es ist schön und gut, wenn alle in die gleiche Richtung stoßen, das passiert ja gerade zum Beispiel im Bereich der Externalisierung Richtung Afrika. Das ist aber nicht positiv.
Mir fehlt insgesamt die normative Ausrichtung des Whole-of-Government-Ansatzes. Es wäre gut, wenn die normative Ausrichtung in Anlehnung an die Genfer Flüchtlingskonvention oder an Artikel 1 “Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und „Alle Menschen sind gleich und frei“ stattfinden würde.
Wichtig wäre auch, diesen Ansatz in Einklang mit den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen und der Umsetzung der nationalen Agenda 2030 in allen Staaten zu bringen. Die 17 Ziele und Unterziele können aufgrund ihres rechtsbasierten Ansatzes zu mehr Kohärenz beitragen.
In dem Bericht geht es auch stark um die Europäische Union, der Ansatz wird darauf ausgeweitet. Ich frage mich, ob es möglich ist, den Ansatz auch auf die internationale Staatengemeinschaft auszudehnen. Es wäre auch wichtig, wenn man international mehr Kohärenz erwirken könnte. Der Bericht unterstreicht auch die Notwendigkeit, alle unterschiedlichen Stakeholder einzubeziehen.
Was aber ein bisschen zu kurz kommt, ist die Rolle von Zivilgesellschaft und die Beteiligung der Migrantinnen und Migranten selbst. Gerade in Deutschland ist es eine besondere Herausforderung, diese „Agency“ zu ermöglichen, also die Interessenvertretung der Menschen, die gerade nach Deutschland gekommen sind. Ich bin mir nicht sicher, ob der Whole-of-Government-Ansatz diese Fragen auch am Ende klärt.
In Deutschland ist immer häufiger von Präsident Macrons ausgestreckter Hand die Rede, die ergriffen werden solle. Die französische Regierung macht sich insbesondere für die Idee exterritorialer europäischer Asylzentren stark. Wie bewerten Sie die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht?
Man sieht, dass das individuelle Asylrecht, vor allem das Recht in Europa Schutz zu suchen, zunehmend demontiert wird. Die französische Rolle würde ich an dieser Stelle überhaupt nicht positiv bewerten. Macron bestimmt nicht die europäische Migrationspolitik im Allgemeinen, er bestimmt sie aber in Richtung Afrika.
Das ist stark durch die koloniale Vergangenheit und die engen wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen geprägt, die weiterhin bestehen. Das hat eine andere Qualität als das deutsch-afrikanische Verhältnis. Die Externalisierungspolitik wird aber auch durch die Bundesregierung und Angela Merkel vorangetrieben.
Vor über zehn Jahren hat der damalige Innenminister Otto Schily bereits gesagt, man müsse eigentlich in Nordafrika entscheiden, wer schutzbedürftig sei und wer nicht. Die Möglichkeiten Europas, den Flüchtlingsschutz im Einklang mit dem Völkerrecht auszulagern, sind aber minimal, eigentlich nicht vorhanden.
Es gibt sehr viele ungeklärte Fragen, zum Beispiel, wer die Asylzentren im Ausland betreiben soll oder wie die Entscheidungen in den Lagern ablaufen sollen. Des Weiteren müssten die Fragen, wer nach Europa kommen darf und was mit den abgelehnten Menschen passiert, geklärt sein, denn diese halten sich ja weiterhin in einem Zufluchtsland auf.
Es gibt auch Ideen, das europäische Asylbüro EASO stark aufzuwerten und eine Behörde wie Frontex zu etablieren. Laut Angaben des UNHCR gibt es schon jetzt viel zu wenige Plätze für Resettlement weltweit, mindestens eine halbe Million. Die Idee, die jetzt von Macron verkauft wird, besteht darin, mit Hilfe des UNHCR Menschen, die aus Libyen evakuiert werden, aus Niger nach Frankreich zu bringen.
Aber das ist nichts Anderes als das klassische Resettlement-Verfahren, diese Menschen sind bereits als Schutzbedürftige identifiziert.
Aber ich hoffe, dass es bis zur effektiven Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in Asylzentren nach Nordafrika noch ein weiter Weg ist und vor allem das bestehende Völkerrecht diesen Vorhaben einen Riegel vorschieben wird. Wir müssen dafür sorgen, dass das Recht auch weiterhin respektiert und vor einer Aushöhlung geschützt wird.
Welche Auswirkungen hat die Externalisierung der Grenzen konkret für die Bevölkerung in afrikanischen Staaten?
Das kann man am Beispiel Niger gut darstellen: Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt und zum Großteil Wüstenstaat. Dort leben relativ wenig Menschen mit einer unzureichenden Infrastruktur. Aufgrund von Armut und Hunger sind die Menschen wenig mobil. Niger ist auch extrem von den Folgen des Klimawandels betroffen, es herrscht beispielsweise akuter Wassermangel.
Die Migration aus Niger ist bis zum Sturz von Gaddafi vor allem nach Libyen oder in andere Nachbarstaaten erfolgt, wo die Menschen dann als Arbeitsmigrantinnen und -migranten tätig waren. Die Europäische Union wiederum hat ein großes Interesse, die Migration nach Europa zu stoppen.
Die Sahelregion ist riesig, die Grenzen sind am Reißbrett entstanden und es gibt sehr wenige Möglichkeiten, diese abertausende von Kilometern zu sichern. Man konnte zwar nicht jede Grenze wie im Schengenraum überschreiten, aber es gab eine gewisse Freizügigkeit in Westafrika, im ECOWAS-Raum.
Auch Wege innerhalb von Nationalstaaten und insbesondere zwischen afrikanischen Staaten, die eigentlich eine absolute Freizügigkeit garantieren, werden nun immer stärker eingeschränkt. Das trifft nicht nur die Migrantinnen und Migranten und auch nicht nur die potenziellen Terroristen und Menschenhändler, es hat vor allem auch Auswirkungen auf Wirtschaft, Handel und die Einkommen der Bevölkerung.
Dennoch wird jetzt in Militarisierung von Grenzen und in Grenzgerät investiert. Teilweise stattet man auch Regime, alle keine besonders verlässlichen Demokratien, mit Gerät aus, das im Endeffekt auch gegen die eigene Bevölkerung und nicht nur gegen unliebsame Migrantinnen und Migranten eingesetzt werden kann.
Das Recht, sein Land zu verlassen, ist ein verbrieftes Menschenrecht, es wird aber häufig nicht respektiert. Das erinnert an den Tatbestand der Republikflucht in der DDR. Es gibt also oftmals keine Chance für die Menschen, ihre Lebenssituation zu verbessern – obwohl es ein legitimes Bedürfnis ist, Orte zu verlassen, die keine Lebensgrundlagen bieten.
Darüber hinaus gibt es eine Abschreckungsrhetorik in Transitzentren wie Agadez oder Niamey. Auf dem Rückweg kommen auch gescheiterte Migrantinnen und Migranten wieder dort vorbei. Migrationswillige werden mit Geschichten über die Zustände in Libyen oder auf dem Mittelmeer abgeschreckt.
Mittlerweile ist es so, dass die Migration über die westafrikanische Route in Agadez eigentlich endet, es gibt nun ein Gesetz zur Bekämpfung von Menschenhandel, was dazu führt, dass im Prinzip jede Person, die sich nördlich von Agadez aufhält oder als potenzieller Migrant Richtung Europa identifiziert wird, kriminalisiert wird.
Das Thema „legale Fluchtwege“ kommt immer wieder auf. Wie kann besser dafür Sorge getragen werden, dass lebensgefährliche Routen auf dem Weg nach Europa nicht in Kauf genommen und die Abhängigkeit von Schleppern verringert wird? Welche Instrumente sind aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Nur mit legalen Fluchtwegen ist es nicht getan. Wer verfolgt ist oder wessen Leben bedroht ist, muss Zugang zu Schutz und das Recht auf Asyl haben. Auf der anderen Seite haben wir mittlerweile relativ viele Menschen, die nicht durch die Genfer Konventionen geschützt sind, beispielsweise Menschen, die vom Klimawandel vertrieben werden oder die wirtschaftlich keine Perspektiven haben.
Sie müssen sich auf seltene Arbeitsmigrations-Programme bewerben. Hier brauchen wir eine sehr viel größere Öffnung. Es braucht mehr legale Migrationswege, auch, um die Fluchtkanäle zu entlasten. An erster Stelle wären konkrete Programme, die über Resettlement und humanitäre Visa hinausgehen, oder humanitäre Korridore sinnvoll.
Die sind in der Kontingentierung sehr klein, aber zum Teil erfolgsversprechend. Wir sollten mehr Studienplätze für Menschen bereitstellen, die sonst keine Chance zum Studium in Europa hätten. Und ich denke, bilaterale Programme zwischen Deutschland und afrikanischen Staaten müssten ausgebaut werden.
Wichtig ist außerdem, dass die Externalisierung der Migrationskontrolle und des Flüchtlingsschutzes unterbleibt. Es ist absurd, in ein Land, in dem sich kaum jemand genug Nahrung leisten kann, Kontroll- und Grenztechnik oder die Geräte zur Erfassung biometrischer Daten zu exportieren.
Es sollte vielmehr dazu beigetragen werden, dass die Freizügigkeit in diesen Regionen als Motor für Entwicklung anerkannt und besser genutzt werden kann. Staaten sollten dabei unterstützt werden, funktionierende Asylsysteme auf den Weg zu bringen und die Genfer Konventionen in der praktischen Anwendung zu erlernen. Das sind alles langfristige Projekte, die nicht von heute auf morgen gelingen werden, aber angegangen werden sollten.
Angesichts des Bundestagswahlkampfs und des Einzugs der AfD in den Bundestag ist von Rechtsruck und Diskursverschiebung die Rede. Wie ist die letzte Legislaturperiode einzuordnen und was sind Ihre Erwartungen an eine neue Bundesregierung?
Es ist schon extrem enttäuschend, dass die Enttabuisierung von rassistischem Gedankengut heute salonfähig im Bundestag geworden ist. Das hätte ich so nicht gedacht. Zumal 2015, was die Willkommenskultur angeht, zunächst noch ganz gut angefangen hat.
Gerade für Deutschland ist es traurig, dass wir aus den Diskussionen, die wir Anfang der 90er Jahre geführt haben, offensichtlich nichts gelernt haben. Damals haben wir ja auch gesagt: „Nie wieder sollen Asylbewerberheime brennen“ – und heute gibt es im Durchschnitt jeden Tag Anschläge auf Asyl-Einrichtungen.
Das Thema Externalisierung ist aber absolut nicht neu, das wird bereits seit ungefähr 2002 in der Forschung diskutiert. Es gab ein Fünf-Jahres-Programm, das Stockholm-Programm der Europäischen Union, das Grenzsicherung nach Außen herausstellte, um die Freizügigkeit im Innern zu sichern.
Und seit 2005 gibt es den globalen „Approach on Migration and Mobility“. Die Bekämpfung irregulärer Migration, Rückkehrförderung usw. finden sich auch dort schon. Wir beobachten also die Intensivierung einer Agenda, die schon lange verfolgt wird. 2015, als mehr Flüchtlinge kamen, wurde der Schluss gezogen, wir müssten jetzt einfach mehr von dieser Logik abbilden.
Mich hat es also nicht überrascht. Ich glaube, es ist eher eine Tendenz, die absehbar war. Das Problem ist vielmehr die Wucht, mit der die unterschiedlichen Maßnahmen jetzt aufgelegt werden. Eine kritische Zivilgesellschaft und auch die Forschung sind fast überfordert, weil es jetzt so schnell geht.
Aber konzeptionell ist die Abschottung leider Tagesordnung. Externalisierung ist also nichts Neues, aber der Impetus, diese Bereitschaft durch nichts anderes außer Abschottung zu realisieren, ist schon erstaunlich.
Sie haben gerade gesagt, 2015 habe gut angefangen. Die Hilfsbereitschaft in der Zivilgesellschaft sei da gewesen. Wie hat sich die Arbeit von Brot für die Welt als Hilfswerk seitdem verändert? Ein Teil ihres Budgets wird auch durch Spenden generiert.
Seit 2015 gibt es teilweise große Erwartungen, dass Brot für die Welt gezielt Fluchtursachen bekämpft bzw. hierin eine zentrale Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit besteht. Richtig ist, dass sich Brot für die Welt in unterschiedlichen Projekten auch für Frieden und Prävention von Gewalteskalation einsetzt.
Es ist jedoch nicht unsere vornehmliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen zu Hause bleiben. Positiv formuliert setzen wir uns dafür ein, dass allen Menschen an allen Orten ein Leben in Würde möglich ist. Wir wollen Armut bekämpfen und strukturelle Ungleichheiten überwinden.
Aber es geht nicht vorrangig darum, dass jeder dort bleibt, wo er ist. An manchen Stellen wird Migration sogar nötig sein oder ist es bereits, zum Beispiel ausgelöst durch Klimawandel. Man muss beispielsweise Umsiedelungsprogramme unterstützen, wenn Inseln im Pazifik zu versinken drohen.
Als Entwicklungswerk stehen wir in Kontakt mit vielen Menschen, die angesichts der Zunahme von Flüchtlingen und Migrant/innen fragen: „Was hat Entwicklungszusammenarbeit denn gebracht? Jetzt haben wir hier die ganzen Flüchtlinge und eure ganzen Maßnahmen waren sinnlos.“
In dieser Frage kommt eine Überschätzung der Möglichkeiten, aber auch der Zielsetzungen der Entwicklungszusammenarbeit zum Ausdruck. Sie verkennt, dass allein Entwicklungszusammenarbeit Kriege nicht verhindern kann. Das kann sie mit 0,7 Prozent Haushaltmitteln auch nicht leisten. Wir sind zwar eine sehr große NGO, aber unser Beitrag kann da nur ein kleiner sein.
Wir wollen starkmachen, Migration als Recht anzuerkennen und auch den Beitrag herausstellen, den die Migration für globale Entwicklung leistet. Migration ist und war einfach menschheitsprägend. Entwicklungen ohne Migration sind nicht vorstellbar. Die Welt, in der wir heute leben, wäre ohne Migrationsbewegungen in vielfacher Hinsicht ärmer.
Welche Bücher empfehlen Sie für die kritische Lektüre im neuen Jahr?
Das erste ist von Achille Mbembe, dem Autor von "Kritik der schwarzen Vernunft", ein Philosoph, der in seinem neuen Essay „Politik der Feindschaft“ sehr schön darstellt, wie das europäische Verhältnis zu Afrika historisch auch durch die Kolonialisierung und Versklavung von schwarzen Menschen unser Identitätsverständnis prägt.
Ich finde es lesenswert, weil man daraus ableiten kann, dass Vieles in der europäischen und deutschen Außenpolitik durchaus mit rassistischen Motiven gespickt ist. Er stellt dar, wie die afrikanische Wut auf die europäische Angst trifft. Und es ist auch eine Verärgerung zu spüren, dass es kaum Bereitschaft gibt, über die Vergangenheit und deren Folgen für die Verhältnisse heute zu sprechen.
Ein anderes Buch von Christian Jakob und Simone Schlindwein trägt den Titel „Diktatoren als Türsteher Europas: Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert.“ Die Autor/innen sind Journalist/innen und arbeiten für die taz. Beide sind viel gereist und haben umfangreich recherchiert, in welchen Ländern europäische Maßnahmen zur Migrationssteuerung umgesetzt werden.
Im Sudan zum Beispiel wird mit Kriegstreibern verhandelt und Rüstungsgerät an Dschandschawid-Milizen weitergegeben. In Libyen wird mit nichtstaatlichen Akteuren auf Kosten von Migrantinnen und Migranten und Flüchtlingen, aber auch auf Kosten der Gesellschaft insgesamt verhandelt. Es ist sehr lesenswert, sehr faktenreich und aufgrund von vielen skurrilen Anekdoten kann man sich die Sachverhalte sehr gut merken.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Till Uebelacker.