Der Mord an George Floyd mitten in einer globalen Pandemie, die enorme Ungleichheiten sichtbar macht, hat in der Schwarzen Diaspora und ihrer progressiven Anhängerschaft weltweit Diskussionen ausgelöst. Im Leitartikel zu unserem Themenschwerpunkt #BlackLivesMatter – Verflechtungen und Kontinuitäten des Rassismus analysiert der mehrfach ausgezeichnete Journalist Gary Younge die aktuellen Debatten in den USA und in Europa.
Während sich Muhammad Ali auf seinen Kampf gegen George Foreman vorbereitete, der 1971 in Kinshasa stattfand, äußerte sich der zairische Musiker Malick Bowens über die Bedeutung des amerikanischen Boxers für den globalen Süden. „Wir kannten den Boxer Muhammad Ali. Aber noch wichtiger war für uns sein politischer Standpunkt“, sagt er in dem Film When We Were Kings (Einst waren wir Könige). „Amerika führte in Vietnam, einem Dritte-Welt-Land, Krieg. Und ein Sohn der USA sagte: ‚Ich soll gegen die Vietkong kämpfen? Warum? Die haben mir nichts getan.‘ Dass jemand im damaligen Amerika solch eine Position vertreten konnte! Er mag seinen Titel und Millionen Dollar verloren haben. Aber er gewann die Hochachtung von Millionen Afrikanern.”
Es gab eine Zeit, von Mitte der Fünfziger- bis Ende der Sechzigerjahre, in der die Forderungen des Schwarzen Amerikas in der ganzen Schwarzen Diaspora widerhallten, und nicht nur dort: Rund um den Globus kämpften People of Color für die uneingeschränkte Staatsbürgerschaft und das aktive Wahlrecht. So bat Kwame Nkrumah bald nach seiner Wahl zum Präsidenten von Ghana – das erst kurz zuvor seine Unabhängigkeit errungen hatte – den afroamerikanischen Intellektuellen W. E. B. Du Bois eine Encyclopedia Africana herauszugeben, und trug Paul Robeson den Lehrstuhl für Musik und Theater an der Universität Accra an.
„Geschichte wiederholt sich nicht“, lautet ein Zitat, das meist Mark Twain zugeschrieben wird, „aber manchmal reimt sie sich.“ So etwa fühlt sich auch die Gegenwart an. Der Mord an George Floyd mitten in einer globalen Pandemie, die enorme Ungleichheiten sichtbar macht und die Welt an den Rand einer Wirtschaftskrise führt, hat in der Schwarzen Diaspora und ihrer progressiven Anhängerschaft weltweit Diskussionen ausgelöst.
Internationale Solidarität und Fehlschlüsse
Was in Minneapolis begonnen hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer über die ganzen Vereinigten Staaten. Der Funke zündete auch diesseits des Atlantiks und führte in praktisch jeder europäischen Großstadt und anderswo auf der Welt zu Demonstrationen. Überall, wo dieser Funke einschlug, klang es ein wenig anders. Der Slogan Black Lives Matter schwebt wie ein Signifikant über allem und schreibt sich in die politische Kultur und die historischen Imperative anderer Länder ein, um dort zu bleiben. Was im Mittleren Westen Amerikas als Aufstand gegen die Polizeigewalt begonnen hatte, wurde in den Niederlanden zum Sargnagel für den Zwarte Piet, führte in Großbritannien und Belgien zur Beseitigung von Statuen und in Frankreich zu Todesfällen im Polizeigewahrsam. Es ist die Stunde der Solidarität und der Selbstreflexion, des Radikalismus und der Reaktion.
Diese Stunde fällt in eine Zeit, in der der Faschismus in Europa erneut zum Mainstream zählt und ein Protagonist des weißen Nativismus höchstselbst im Weißen Haus residiert. Dieser Rassismus, dessen Zeug*innen wir sind, wird seit langer Zeit rhetorisch – wenn nicht sogar offiziell – von einer politischen Kultur bejaht, die sich aktiv bemüht, People of Color zu marginalisieren. In Großbritannien kam es in einem Anfall von historischem Analphabetismus, der sich als ebenso ansteckend erwies wie die Proteste, im Stadtzentrum Londons zu Auseinandersetzungen zwischen Polizeikräften und Neonazis, die sich mit dem Hitlergruß vor die Winston-Churchill-Statue stellten, um sie zu verteidigen.
Es gibt zwei verbreitete Fehlschlüsse, die in Zeiten wie diesen gezogen werden könnten – und in Europa meist auch gezogen werden. Der erste ist die Annahme, hier gehe es um ein spezifisch amerikanisches Phänomen, das auf Europa schlichtweg nicht übertragbar sei. „Ja, es gibt hier Rassismus“, räumen weiße Liberale in Europa ein, „aber nichts, was mit dem Ausmaß in den USA vergleichbar wäre.“ Das Beharren darauf, dass es „hier besser als dort“ sei, gründet in der Vorstellung, es gebe tatsächlich bessere und schlimmere Formen von Rassismus und Schwarze Europäer*innen sollten froh sein, dass sie es nur mit dem hiesigen Rassismus zu tun haben. Das ist nicht nur eine Beleidigung, sondern auch ahistorisch und grundverkehrt.
Die selektive Amnesie Europas in Bezug auf den eigenen Rassismus
Einer der zentralen Unterschiede zwischen der europäischen und der US-amerikanischen Geschichte des Rassismus besteht darin, dass sich die europäische Repression und der Widerstand dagegen weitgehend außerhalb Europas abspielten. Unsere Bürgerrechtsbewegung fand in Ghana, Guinea-Bissau, Indien und im Kongo statt, um nur einige wenige Länder zu nennen. So blieb in der Ära des Postkolonialismus viel Raum für Leugnung, Verzerrung, Ignoranz und Spitzfindigkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem Thema.
Diese selektive Amnesie, was den eigenen Rassismus angeht, führt bei vielen weißen Europäer*innen unausweichlich zu einem ganz und gar unbegründeten Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Rassismus in den USA, das aus einer beklagenswert lückenhaften und von toxischer Nostalgie geprägten Verkennung ihrer eigenen Geschichte erwächst. Einer Yougov-Umfrage vom März dieses Jahres zufolge hält jede zweite Person in den Niederlanden, jede dritte in Großbritannien, jede vierte in Frankreich und Belgien und jede fünfte in Italien das ehemalige Kolonialreich des eigenen Landes für etwas, worauf man stolz sein könne. Deutschland weigert sich noch immer, den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts anzuerkennen, den die einstige Kolonialmacht an den Herero, Nama und San in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begangen hat. Umgekehrt findet nur jede 20. Person in den Niederlanden, jede siebte in Frankreich, jede fünfte in Großbritannien und jede vierte in Belgien und Italien, dass man sich dafür schämen müsse. Kein Wunder, dass in Teilen Europas bislang hauptsächlich historische Denkmäler im Fokus stehen.
Die allgemeine Empörung geht allzu häufig mit mangelnder Selbsterkenntnis einher, der Unfähigkeit zu sehen, was fast die ganze übrige Welt gesehen hat. Sie fragen sich, in aller Aufrichtigkeit, wie es in Amerika zu solcher Brutalität kommen konnte, ohne zu merken oder ohne zu bedauern, dass diese Brutalität auch Bestandteil ihrer eigenen Geschichte ist. Sogar unter denjenigen weißen Europäer*innen, die sich selbst für aufgeschlossen, kultiviert und gebildet halten, ist das Problembewusstsein beim Thema Rassismus beklagenswert dürftig.
Tatsächlich wurde die erste deutsche Europaabgeordnete afrikanischer Herkunft, Pierrette Herzberger-Fofana, ausgerechnet an dem Tag, an dem das Europäische Parlament über die Antirassismus-Proteste debattierte, von der belgischen Polizei angegriffen, nachdem sie versucht hatte, neun Beamte zu filmen, die zwei Schwarze Jugendliche „schikanierten“. „Sie entrissen mir meine Handtasche, pressten mich gegen die Wand und drückten mir die Beine auseinander. Einer der Polizisten wollte mich abtasten. Und sie haben mich sehr demütigend behandelt“, sagte die 71-jährige ehemalige Lehrerin. Trotz ihres deutschen Passes und ihres Laissezpasser-Ausweises habe ein Polizeibeamter ihr nicht geglaubt, dass sie Europaabgeordnete ist.
Die Infrastruktur der Ungerechtigkeit: von COVID-19 bis George Floyd
Das bringt uns zum zweiten Fehlschluss, nämlich, dass das Video, auf dem zu sehen ist, wie Derek Chauvin George Floyd sein Knie ins Genick drückt, bis Floyd stirbt, nicht nur ein Beispiel für die brutalste Form des Rassismus ist, sondern dass es den Rassismus in seiner Gesamtheit exemplarisch vorführe: einen bösen Mann – in diesem Fall mit Plakette –, der einen unbewaffneten Schwarzen Mann am helllichten Tage kaltblütig umbringt.
Derartige Obszönitäten, festgehalten von einer Kamera, mit einem eindeutigen Bösewicht, der Nummer und Plakette zur Schau trägt, sind uns inzwischen erschreckend vertraut und können deshalb die enorme Reichweite und das Ausmaß des Rassismusproblems, mit dem wir alle konfrontiert sind, verzerren. Diese Tat hat Zehntausende auf die Straße getrieben. Aber sie ist nicht der einzige Grund, weshalb sie noch immer auf der Straße sind. COVID-19 hat sowohl in Großbritannien als auch in Amerika gezeigt, wie der Rassismus auf weit weniger spektakuläre Art und Weise weit mehr Menschen töten kann, auch ohne dass ein Lehrstück dargeboten wird, das in den sozialen Netzwerken verbreitet werden könnte. In Großbritannien sterben Menschen mit afrikanischen, karibischen, pakistanischen und bangladeschischen Wurzeln – unter Berücksichtigung ihres Alters – annähernd viermal häufiger an COVID als Weiße.
Anderswo, in Michigan, betreffen 33 % der gemeldeten Infektionen und 40 % der Todesfälle Afroamerikaner*innen, bei einem Bevölkerungsanteil von 14 %. In New York City und im Bundesstaat Illinois sind die Sterblichkeitsraten der Latinos höher als die der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner; in Arizona und New Mexiko werden Native Americans sehr viel häufiger infiziert als Latinos. Afroamerikaner*innen, Native Americans, Schwarze Brit*innen, Latinos, in Großbritannien lebende Menschen aus Pakistan und Bangladesch, Eingewanderte und andere Minderheiten in Deutschland – sie alle verbindet nur eines: die Erfahrung von Verarmung, Niedriglöhnen, schlechten Wohnverhältnissen, diskriminierenden Bildungssystemen und allem, was damit zusammenhängt, einschließlich eines schlechten Gesundheitszustands, der sie für eine COVID-19-Erkrankung anfällig macht.
Wenn also Polizist*innen und Politiker*innen den Demonstrierenden sagen, sie sollen nach Hause gehen, dann scheint ihnen nicht klar zu sein, dass dies eben der Ort ist, an dem so unverhältnismäßig viele von ihnen sterben: dass der Slogan „Ich kann nicht atmen“ – Floyds letzte Worte, während der Polizeibeamte auf seinem Nacken kniete – das Bindeglied zwischen den schamlosesten Erscheinungsformen staatlicher Gewalt und den eher banalen Beschwerden des erkrankten Patienten in der Pandemie verkörpert.
„Einer der Gründe, weshalb es sich hier um strukturelle Ungleichheiten handelt, ist, dass sie nicht nur parteiübergreifend existieren, sondern auch die Zeiten überdauert haben“, sagte Stacey Abrams, eine afroamerikanische Politikerin aus Georgia, die derzeit von Mr. Biden als potenzielle Kandidatin für die Vizepräsidentschaft gehandelt wird, gegenüber der New York Times. „Wir müssen dezidiert klarmachen, dass es hier nicht um einen bestimmten Zeitpunkt oder einen einzelnen Mord geht – sondern um die gesamte Infrastruktur der Gerechtigkeit.“
Verschiedene Dimensionen eines dauerhaften Wandels
Es ist gar nicht nötig, den amerikanischen Rassismus schablonenhaft auf europäische Verhältnisse zu übertragen, um zu erkennen, wie man die durch den Mord an Floyd aufgeworfenen Themen diesseits des Atlantiks aufgreifen und sich hier zu eigen machen könnte. Hier gibt es nicht so viele Leute, die Waffen besitzen, es gibt keine so große Schwarze Mittelschicht, keine jahrhundertealten Organisationen Schwarzer Menschen und auch keine so ausgeprägte Segregation wie in Amerika. Unsere Ungleichheiten funktionieren anders. Aber sie sind erkennbar. Und vor allem sind sie weiterhin wirksam, was das Virus betrifft. Daten über die COVID-Toten werden auf unterschiedliche Art und Weise erhoben, aber die Unterschiede zwischen Weißen und People of Color sind, mindestens, vergleichbar. Da wir nicht durch Zufall in diese Situation geraten sind, werden wir auch nicht durch Zufall aus ihr herauskommen.
Für den Antirassismus eröffnet diese Stunde natürlich viele Chancen. Die Demonstrationen werfen ein Schlaglicht auf Rassismus und Engstirnigkeit und erzwingen eine Debatte über Geschichte, Lehrpläne, Polizeiarbeit. In Großbritannien mussten die Demonstrierenden das Cecil-Rhodes-Denkmal in Oxford gar nicht erst niederreißen – die Universität selbst wird es vom Sockel holen. In Minneapolis wurde die Polizei aufgelöst. In den Niederlanden hat der Ministerpräsident Mark Rutte seine Meinung über den Zwarte Piet geändert. Es scheint, als wäre ein Damm gebrochen.
Mit Ausnahme der Polizei von Minneapolis sind dies in erster Linie symbolische Veränderungen. Das heißt nicht, dass sie unwichtig wären. Symbole sind wichtig. Sie stehen für allgemein akzeptierte Standpunkte und Werte. Sie zeigen, wer und was wichtig ist. Aber Symbole sind nicht mit Substanz zu verwechseln.
Wir sollten nicht selbstzufrieden sein. Auch für den Rassismus eröffnen sich Chancen. Die rechten Parteien, die in ganz Europa und anderswo im Aufstieg begriffen sind, kamen nicht aus dem Nichts und sie werden nicht über Nacht verschwinden. Wir stehen am Beginn einer gewaltigen Wirtschaftskrise, die eine ohnehin fragile Lage wahrscheinlich noch verschärfen wird. Europa lässt nicht erst seit COVID Schutz suchende Menschen zu Hunderten im Mittelmeer ertrinken. Rassist*innen in Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien schüren weiterhin den Hass auf Geflüchtete aus Afrika und der Nahost-Region.
Auch wenn nun weltweit das Problembewusstsein erwacht, so stellt sich doch weiterhin die Frage, ob wir genau die Art von Druck aufrechterhalten können, die einen nachhaltigeren Wandel bewirkt. Das kann an jedem Ort etwas anderes bedeuten – hier eine Reform der Studienpläne, um dafür zu sorgen, dass die Kolonialzeit präzise und umfassend abgedeckt wird, dort mehr demokratische Kontrolle und Transparenz bei der Polizei, anderswo eine durchgreifende Gesetzgebung zur Gleichstellung. Doch überall ist es notwendig, die Energie, die sich Ende Mai Bahn gebrochen hat, aufzunehmen und in eine weniger aufregende, aber gründlichere politische Arbeit umzuwandeln. Das sollte nicht dazu führen, dass sie an Radikalität verliert, auch wenn dieses Risiko immer besteht. Doch es würde dem dramatischen Bewusstseinswandel, den wir erleben, zu mehr Beständigkeit verhelfen.
Übersetzung aus dem Englischen von Marion Schweizer, Textpraxis Hamburg. Hier finden Sie die Originalversion auf Englisch, die am 20. Juni 2020 erschienen ist.