70 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention steckt die europäische Asyl- und Migrationspolitik in einer Sackgasse. Dabei ist die Aufnahmebereitschaft der Städte und Kommunen in Europa groß. Ende Juni trafen sich Bürgermeister*innen unterschiedlicher europäischer Städte und Kommunen in Palermo, um bei der Konferenz "From the Sea to the City" nach solidarischen Lösungen für die humanitäre Krise an den Rändern Europas zu suchen.
Während sich Ende Juni die EU-Staatsoberhäupter innerhalb des EU-Rats in Brüssel trafen und unter anderem ergebnislos über Migrationspolitik diskutierten, fand zur gleichen Zeit in Palermo ein Treffen statt, das ein ganz anderes Europa verkörpert. Bürgermeister*innen aus verschiedenen europäischen Städten und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft kamen bei der Konferenz “From the Sea to the City: a conference of cities for a Welcoming Europe” zusammen, um sich für ein offenes Europa auf lokaler Ebene einzusetzen und ein starkes Zeichen nach Brüssel zu senden. Solidarische Städte und Zivilgesellschaft zeigten sich bereit zur Lösung der Krise an den Grenzen Europas beizutragen und formulierten dafür konkrete und pragmatische Forderungen und Lösungsvorschläge.
Eingeladen vom zivilgesellschaftlichen Bündnis “From the Sea to the City” und den Städten Palermo und Potsdam fanden neben Athen, Bergamo, Flensburg, Lampedusa, Marseille, München und Tirana viele weitere Städte den Weg in die sizilianische Hauptstadt, um über Lösungen zu diskutieren, die grundlegende Menschenrechte jeder einzelnen Person, die in Europa Zuflucht sucht, in den Mittelpunkt stellen. Dabei vereinten alle angereisten Gäste die Überzeugung, dass die aktuelle Katastrophe an den europäischen Grenzen schon lange nicht mehr hinnehmbar ist.
Die tödlichste Grenze Europas
Die Situation an den europäischen Außengrenzen ist nach wie vor katastrophal: Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben im ersten Halbjahr 2021 bereits 1146 Menschen auf ihrer Flucht im Mittelmeer. Somit bleibt das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt. Wer es trotzdem übers Mittelmeer schafft, wird in überfüllten Lagern an den europäischen Außengrenzen wie in Gefängnissen festgehalten. Trotz dieser andauernden humanitären Katastrophe setzt die EU weiterhin auf Grenzschutz und Abschreckung. Auch der im Herbst letzten Jahres von der EU-Kommission vorgestellte “Neue Pakt zu Migration und Asyl” konzentriert sich weiterhin auf die Militarisierung der Außengrenzen und auf die Abschottung Europas. Eine Aktualisierung des Dublin-Verfahrens und das sogenannte "Rückführungssponsoring“1 stellen neben der erweiterten Anwendung von Grenzverfahren (einschließlich verschärfter Inhaftierung) den Kern des Pakts dar. Die Aussichten auf eine menschenwürdige europäische Lösung sind gering. Vielmehr scheint es, dass sich die europäische Migrationspolitik in einer Sackgasse befindet.
Solidarische Lösungen “bottom-up” entwickeln
Für diejenigen, die den Status Quo ablehnen und auf eine Veränderung drängen wollen, will das Konsortium From the Sea to the City eine Alternative bieten und setzt darauf Bürgermeister*innen, Stadtvertreter*innen, zivilgesellschaftliche Initiativen, soziale Bewegungen und Organisationen aus ganz Europa zusammenzubringen, um gemeinsam für einen radikalen Wandel in der Gestaltung der europäischen Migrationspolitik einzustehen.
Hervorgegangen ist die Initiative aus zwei parallelen Prozessen: einerseits aus dem Palermo-Charta-Prozess2, einer Plattform europäischer zivilgesellschaftlicher Organisationen, die seit 2018 für die Erfüllung von Bleibe- und Freizügigkeitsrechten einsteht. Andererseits aus der Konferenz “Relaunching Europe Bottom Up”, die im Jahr 2017 in Danzig ca. 200 Stakeholder aus europäischen Kommunen und Zivilgesellschaft zusammenbrachte, um über kommunale Lösungen für die humanitäre Krise im Mittelmeerraum zu diskutieren.
From the Sea to the City knüpfte an diese zwei Prozesse an und startete letztes Jahr am Weltflüchtlingstag eine Kampagne, die Regierungen, Städte und Bürgerinitiativen aufforderte, sich mit der menschlichen und politischen Tragödie auseinanderzusetzen, die sich jede einzelne Minute an den Grenzen Europas abspielt. Neben dem Schutz der Grundrechte für Migrant*innen und Geflüchtete, insbesondere während der Pandemie, forderte die Kampagne eine engere Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen und institutionellen Strukturen und eine aktive Rolle von Städten und zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Verwaltung von EU-Fonds für Migrationspolitik. Zudem sollten freiwillige Aufnahmeprogramme der Kommunen den europäischen Verteilungsmechanismus ergänzen. Mit diesen Maßnahmen könnte einerseits die Verantwortung auf mehrere Schultern aufgeteilt, andererseits eine solidarische Verteilung und Entwicklung innerhalb Europas erreicht werden. “Mit der Kampagne wollen wir uns nicht nur ein anderes Europa vorstellen, sondern auch möglich machen. Ein Europa, das ein besserer Ort für alle sein kann”, so erklärt Davide Carnemolla vom Welcome to Europe Network die politische Vision des Netzwerkes.
Neben der Kampagne wurde gezielt der Austausch und der Kontakt mit Städten und Kommunen gesucht, mit dem Ziel ein europäisches Städtenetzwerk aufzubauen und gemeinsam alternative politische Lösungsansätze zu entwickeln. Anabel Montes, von der Seenotrettungsorganisation Open Arms, sieht die Schaffung eines solchen Netzwerks “als den Weg, um die Europäische Union dazu zu bringen, eine sicherere und menschlichere Migrationspolitik umzusetzen”. Diese Vorstellung einer europäischen Solidarität und gemeinsamer Lösung teilen zivile Seenotrettungsorganisationen, Bewegungen wie die Seebrücke, aber auch andere Organisationen wie die Humboldt-Viadrina Governance Platform, Emergency oder der International Network for Urban Research and Action, die alle Teil des Konsortiums sind.
“Wo Nationen versagen, schaffen Städte Lösungen”
Grundlegende Entscheidungen der Asyl- und Migrationspolitik gehörten bislang nicht zu den klassischen kommunalen Aufgaben. Sowohl die Vergabe von Visa und Aufenthaltstiteln als auch die Kontrolle darüber, wer welche Grenzen übertreten kann, sind eng an die Vorstellung von staatlicher Macht gekoppelt und obliegen der nationalstaatlichen Hoheit. Aber während die Europäische Union und die nationalen Regierungen nicht bereit oder in der Lage sind, das Sterben im Mittelmeer zu verhindern oder die Situation in den menschenunwürdigen Lagern an den europäischen Außengrenzen zu beenden, werden Kommunen und Zivilgesellschaft aktiv und bringen ihre Solidarität mit Menschen auf der Flucht zum Ausdruck. “Wo Nationen versagen, schaffen Städte Lösungen”, bringt es Mike Schubert, Bürgermeister von Potsdam, auf den Punkt.
Tatsächlich zeigt sich auf kommunaler und regionaler Ebene immer deutlicher eine Gegenbewegung, die sichere Fluchtwege fordert, die Aufnahme von Geflüchteten anbietet und mehr gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen will. Bemerkenswert ist dabei, wie die Kommunen in ihren Forderungen über die eigentlichen Aufgaben von Lokalpolitik hinausgehen – indem sie dort Verantwortung übernehmen möchten, wo sie von der EU oder ihrem jeweiligen Nationalstaat keine Lösungen mehr erwarten und angesichts humanitärer Katastrophen, wie dem Sterben auf dem Mittelmeer, nicht tatenlos bleiben wollen. An dieser Stelle wird sichtbar, dass Asyl- und Migrationspolitik eben doch auch eine zentrale kommunale Aufgabe ist und auf kommunaler Ebene auch besser eingeschätzt werden kann: Die tatsächliche Aufnahme von Geflüchteten, ihre Versorgung, Zugang zu eigenem Wohnraum, Einbindung durch Bildung, Arbeit, soziale und kulturelle Teilhabe erfolgt schließlich in den Kommunen. Wer könnte also besser beurteilen, dass Aufnahmekapazitäten und Bereitschaft vorhanden sind?
Von Palermo bis Amsterdam: Die kommunale Bereitschaft in Europa ist groß
Das haben auch immer mehr Kommunen erkannt: Seit Sommer 2018 sind über 200 Kommunen in Deutschland zu “Sicheren Häfen” geworden und haben ihre Bereitschaft erklärt weitere Schutzsuchende aufzunehmen – und zwar zusätzlich zu jenen, die ihnen laut Verteilungsschlüssel zugewiesen werden. Gemeinsam mit der Seebrücke und vielen weiteren zivilgesellschaftlichen Initiativen üben sie nun als “Sichere Häfen” Druck auf die Bundesregierung aus, um einen Wandel der europäischen Asyl- und Migrationspolitik zu erwirken.
In Deutschland führte das im Sommer 2019 zur Gründung des kommunalen Bündnisses “Städte Sicherer Häfen” das, initiiert durch die Seebrücke und die Städte Berlin und Potsdam, 13 Städte in einem Kongress zusammenbrachte. Mittlerweile setzen sich 100 Kommunen in diesem Bündnis für das Recht ein, selbst über die zusätzliche Aufnahme von Menschen entscheiden zu können – was sie nach der bisherigen Rechtslage nicht dürfen. Kiel und sein Bürgermeister Ulf Kämpfer sind Teil dieses Bündnisses und beteiligten sich von Anfang an der Kampagne From the Sea to the City: “Wir haben angeboten, geflüchtete Menschen aus dem Mittelmeer und aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Das ist ein kleines Zeichen der Solidarität. Viel wichtiger wäre es aber, wenn europäische Staaten sich auf eine faire Verteilung von Geflüchteten einigen könnten. Wir brauchen eine humanitäre und solidarische Flüchtlingspolitik, nicht eine Festung Europa.”
Diese kommunale Bereitschaft beschränkt sich keineswegs allein auf Deutschland: In ganz Europa – von Palermo über Barcelona bis nach Amsterdam – erklären Bürgermeister*innen ihre Kommunen zu solidarischen Städten für Geflüchtete und organisieren sich in Bündnissen. In Frankreich entstand 2018 das Netzwerk ANVITA, das unter dem Schlagwort ”bedingungslose Aufnahme” 48 Kommunen und Regionen mobilisieren konnte. Ähnliche Netzwerke haben sich unter anderem in Belgien, den Niederlanden, Spanien und in Großbritannien entwickelt.
Die Vision von einem europäischen Netzwerk solidarischer Kommunen
From the Sea to the City wollte einen Schritt weitergehen und ein europäisches Netzwerk solidarischer Kommunen schaffen. Dafür fand das Konsortium zwei wichtige Verbündete: Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo und seit langem Verfechter für die Rechte von Migrant*innen, und Mike Schubert, Bürgermeister der Stadt Potsdam, die das Bündnis Sichere Häfen in Deutschland koordiniert. Das gemeinsame Ziel: eine europäische Konferenz der Städte für ein solidarisches Europa. Hier sollte der Grundstein für ein europäisches Netzwerk solidarischer Kommunen gesetzt werden.
Über 33 Städte aus verschiedenen europäischen Ländern sowie verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen folgten der Einladung zur Konferenz und trafen sich in Palermo und online, um über Alternativen und Möglichkeiten für pragmatische und menschenrechtsbasierte Lösungen zu diskutieren und somit einen Beitrag für den Schutz der Rechte von Menschen auf der Flucht zu leisten. "Die derzeitige Strategie funktioniert heute nicht und wird auch in Zukunft nicht funktionieren, deshalb müssen wir eine neue Strategie entwickeln. Europa muss es tun, wir sind bereit, unsere Hilfe zu geben", so die Bürgermeisterin von Flensburg, die auch in Palermo anwesend war. Die Konferenz bot Städten die Möglichkeit, ihre aktive Rolle in der europäischen Migrationspolitik zu bekräftigen, die Sichtbarkeit ihrer Aufnahmebereitschaft sowie ihrer Interessen auf EU-Ebene zu erhöhen, andere Städte zum Handeln zu ermutigen und stärkere Allianzen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zu bilden.
Während der Konferenz stellten die Bürgermeister*innen eine gemeinsame Erklärung mit dem Titel „Menschlichkeit, Solidarität und Freiwilligkeit“ vor (hier in verschiedenen Sprachen). Diese kann als eine direkte Antwort auf die europäische Migrationspolitik gelesen werden. Darin heißt es: “Als Städte verfolgen wir die Pläne der EU-Kommission und der EU-Staaten für einen neuen ‚Migrationspakt‘ mit großer Sorge. Die vorgeschlagenen Maßnahmen werden ein ‚weiteres Moria‘ nicht verhindern”. Klare Forderungen gingen an die europäischen Institutionen und Nationalstaaten. Ein individuelles Recht auf Asyl und das Ende der Lagerpolitik an den EU-Außengrenzen sind hierbei zentraler Bestandteil. Abermals erklärten Städte außerdem ihre Bereitschaft zu einer zusätzlichen und direkten Aufnahme von Menschen auf der Flucht und sprachen sich für gesonderte und individuelle Aufnahmekontingente auf lokaler Ebene aus. Darüber hinaus bestehen die Unterzeichner*innen auf direkte EU-Finanzierungen, die es aufnahmebereiten Kommunen gestattet eine pragmatische Einwanderungspolitik umzusetzen, ohne dabei die Rechte der fliehenden Menschen außer Acht zu lassen. Wichtig bleibt dabei die Bereitschaft für eine enge Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und Organisationen.
Um auch in Zukunft eine Teilhabe an politischen Prozessen einzufordern, wurde während der Konferenz die “Internationale Allianz der Sicheren Häfen” gegründet, in der sich Städte gemeinsam für eine stärker an den Menschenrechten orientierte Migrationspolitik auf europäischer Ebene einsetzen wollen. Die Stadt Potsdam ist wieder begeistert dabei und bot an, die Koordination des neuen Netzwerks zu übernehmen.
Eine einladende und menschenrechtsbasierte Migrations- und Flüchtlingspolitik ist längst überfällig. Die Gründung einer europäischen Allianz von Bürgermeister*innen, Kommunen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die bereit sind zusammenzuarbeiten und zu kooperieren, stellt einen ersten Schritt dar, um ein starkes Signal an die kommende EU-Ratspräsidentschaft zu senden und die menschenrechtlichen und humanitären Verpflichtungen Europas zu erfüllen. Anhand dieser neuen Allianzen von Städten und Kommunen lassen sich progressive politische Konstellationen erkennen, in denen Proteststrukturen, etablierte zivilgesellschaftliche Organisationen und Kommunen Seite an Seite nicht nur in politische Aushandlungsprozesse treten, sondern tatsächlich versuchen, neue Wege der Asyl- und Migrationspolitik zu beschreiten – auch in klarem Gegensatz zu den Vorhaben der europäischen Nationalstaaten.
Für einen Paradigmenwechsel in der europäischen Migrationspolitik
Jetzt liegt es an den Städten und Kommunen ihre Forderungen Stück für Stück Realität werden zu lassen und gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen lokal als auch transnational an einer neuen Vision für Europa zu arbeiten. Der erste Schritt wurde mit der Gründung des Städte-Netzwerks realisiert. Als zentrale Akteure müssen Städte die Möglichkeit haben, bewährte Praxisbeispiele zu teilen und ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Menschen auf der Flucht direkt bei der EU-Kommission anmelden zu können. Ihnen muss die Möglichkeit zukommen sich individuell um die Teilnahme an einem Relocation-Programm zu bewerben und entsprechende finanzielle Mittel bei der EU zu beantragen. Eine aktive Kooperation kann diese Prozesse auf institutioneller Ebene voranbringen und unterstützen und den Diskurs um ein offenes Europa in Zentrum der politischen Debatte rücken.
Der breite zivilgesellschaftliche Protest und das vielfältige kommunale Engagement, insbesondere auch auf europäischer Ebene, haben eine politische Dynamik in ganz Europa ausgelöst, die es politischen Entscheidungsträger*innen immer schwerer macht, kommunale Beteiligung, z.B. bei der Aufnahme von Menschen auf der Flucht, zu verweigern. Auch wenn die Aufnahmezusagen bis dato viel zu gering bleiben und die Lage an den europäischen Außengrenzen nach wie vor dramatisch ist, Seenotrettung blockiert wird und Menschen in Lagern festgehalten werden, dienen die deutschen „Sicheren Häfen“, die europäischen “Safe Harbours“ und die “solidarischen Kommunen” in Europa mehr denn je als Referenz, wenn es darum geht, Alternativen zur europäischen Abschottungspolitik aufzuzeigen und durchzusetzen. Im 70. Jubiläumsjahr der Genfer Flüchtlingskonvention ist es an der Zeit, dass auch die Europäische Union stärker auf die Städte und Kommunen setzt, die für die Grund- und Menschenrechte einstehen und aufnahmebereit sind.
Fußnoten
1 Anstatt selbst Menschen aufzunehmen, soll ein EU-Land Rückführungen abgelehnter Asylbewerber*innen für ein anderes Land übernehmen.
2 Die Charta von Palermo wurde im Jahr 2015 vom Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, vorgestellt. In dieser wirbt er für uneingeschränkte Freizügigkeit. Kein Mensch hat den Ort, an dem er geboren wird, ausgesucht“, heißt es darin. „Jeder Mensch hat den Anspruch darauf, den Ort, an dem er leben, besser leben und nicht sterben möchte, frei zu wählen.“ https://www.comune.palermo.it/js/server/uploads/iosonopersona/charta_vo…