Leseprobe von Nadire Biskin

Leseprobe aus dem Roman "Ein Spiegel für mein Gegenüber" von Nadire Biskin, erschienen 2022 im dtv Verlag.

Lesedauer: 8 Minuten
Cover von "Ein Spiegel für mein Gegenüber" von Nadire Biskin

Es gibt da ein Erlebnis in ihrer Kindheit, einen Einkauf

bei Penny, der Huzurs Leben in ein Davor und Danach

teilte. Er fand am gleichen Tag wie ein Elternabend statt,

ein Wendepunkt mit Ankündigung. Ihr Vater Sadık war

am Morgen jenes Tages beim Jobcenter gewesen, wo

man mit ihm über seine berufliche Zukunft sprechen

wollte. Er knöpfte die obersten Knöpfe seines Hemdes

zu, obwohl ihm das die Kehle zuschnürte, und erkundigte

sich bei einem Sicherheitsmann, wo er hinmusste.

Der Mann ließ ihn nicht zu Ende reden und deutete auf

die beiden Reihen von Wartenden. Er hätte die Wahl

zwischen der rechten und der linken Schlange. Huzurs

Vater holte den Einladungsbrief hervor, um ihm Datum,

Uhrzeit und Raumnummer des Termins sowie die Sachbearbeiterin

vorzulesen. Der Sicherheitsmann nahm ihm

das Schreiben aus der Hand, las es, gab es ihm zurück

und ließ ihn durch. Das alles hatte Zeit gekostet, und

Huzurs Vater kam leicht verspätet in der dritten Etage

bei seiner Sachbearbeiterin an. Die Tür stand bereits

offen. Er komme drei Minuten zu spät, sagte sie anstelle

einer Begrüßung. Drei Minuten, wiederholte sie. Sie empfehle

ihm, in Zukunft eine Bahn vorher zu nehmen, um

in Zukunft pünktlich zu kommen. Der Vater nickte. Die

Sachbearbeiterin schloss das offene Fenster und wandte

sich seinem Fall zu. Während sie redete, versuchte er

einen Blick in die Akten zu erhaschen. Sie bemerkte das

und rügte ihn dafür, das sei unhöflich, zumindest in

Deutschland, fügte sie hinzu. Der Vater entschuldigte

sich. Wie so oft hatte er das Gefühl, nichts richtig machen

zu können.

Die Vorstellung, nach diesem Morgen noch einen Elternabend

überstehen zu müssen, überstieg seine Kräfte.

Und so ging er in die Moschee und nicht zum Elternabend.

Schulter an Schulter mit anderen Männern, die

das Leben hier unsichtbar gemacht hatte, vollzog er das

Freitagsgebet. War Beten nicht auch eine väterliche

Pflicht? Wenn er es im Leben schon nicht richten konnte,

dann konnte es vielleicht Gott, hoffte er.

Danach verkroch er sich in die Teestube der Moschee,

spielte ein wenig Billard, unterhielt sich auf der Holzbank

mit anderen, schaute sich ein Fußballspiel auf dem

neuen Flachbildschirm an. Irgendwann an jenem Abend

trank er seinen letzten Tee, der so dunkel war wie der

kalte Himmel draußen, nahm die Zuckerdose vom Kaugummiautomaten

runter und trug sie mit dem Teeglas in

die Küche. Zu Hause behauptete er, er habe den Elternabend

völlig vergessen. Dafür hatte er überteuerte Litschis

im libanesischen Laden al-Rima für die Familie

gekauft, ein Liebesbeweis.

Huzurs Mutter, die Finanzministerin in der Familie,

wurde wie immer wütend. Dafür hätte man das Dreifache

an Äpfeln kaufen können, die man den Kindern

mit in die Schule hätte geben können. Dort hätten die

Kinder in der kleinen Pause die gelb-roten Apfelstücke

rausholen und vor der Lehrerin essen können. Dann

hätte die Lehrerin denken können, sie seien gute Eltern,

weil sie ihren Kindern täglich Gesundes zum Essen mitgaben.

Sollten wenigstens die Kinder einen guten Eindruck

machen, den sie mit ihrem Gewicht und dem starken

Akzent nicht hinbekam. Sie selbst war nach der

Arbeit noch einkaufen gewesen und hatte sich auf ihren

Mann verlassen. Und so war am Ende wieder einmal niemand

beim Elternabend gewesen, was, wie Huzur heute

vermutet, in der Schule niemanden verwundert und alle

Vorurteile bestätigt hatte.

Huzur erinnert sich an jenen Elternabend nur noch,

weil sie sich an den Einkauf im Penny erinnert. Sie

machte sich mit ihrer Mutter mit dicken Handschuhen,

einem Beutel von der Herz-Apotheke und einem Einkaufstrolley

auf den Weg. Sie passierten die Soldiner

Straße, vorbei an dem Massagesalon mit Happy Ending

und an Rebeccas Haus, das Huzur und ihre Freundin

Sibel nie von innen sehen durften. Sie gingen vorbei an

dem Schaukelspielplatz und dem Türkenspielplatz, auf

dem sie und Sibel viel Zeit verbrachten.

Sibel, Spitzname Zwiebel, weil Leute, die Namen wie

Tschaikowski und Wörter wie Evaluation aussprechen

können, es bei ihrem Namen nicht schafften, zog Jahre

später nach ihrem Realschulabschluss nach Istanbul.

Dort konnte man ihren Namen aussprechen. Und sie

versuchte beim Anblick von Zwiebeln im Supermarkt

nicht an Deutschland zu denken. Das hatte sie Huzur

später bei einer zufälligen Begegnung erzählt, bevor sie

den Kontakt verloren. Immer wenn Huzur heute an Rebeccas

Haus vorbeiläuft, fällt ihr ihre alte Freundin Sibel

ein und wie viel Zeit sie dort, zwischen Beton, Blut und

Graffiti, verbrachten.

Huzur ging gerne mit ihrer Mutter bei Penny einkaufen.

Anders als beim Samstagseinkauf bei Bolu Market

und Elfi, wo ihre Mutter Auberginen, Okraschoten, Paprika

oder Sesampaste erstand, alles Dinge, die Huzur

peinlich und langweilig fand, gab es bei Penny Waren,

bei denen Huzur das Herz höherschlug. Beim Freitagseinkauf

durfte sie sich immer eine Süßigkeit aussuchen,

und wie immer fiel ihr die Wahl zwischen Gummizeug

und Schokolade schwer.

Später an der Kasse legten Huzur und ihre Mutter den

Einkauf so schnell es ging auf das Band, damit die anderen

in der Schlange nicht so lange warten mussten.

Huzur drückte sich an ihrer Mutter vorbei zum Ende des

Einkaufsbands und legte die eingescannten Einkäufe zurück

in den Einkaufswagen, während die Mutter zahlte.

Alles war wie sonst, die Kassiererin grüßte sie nicht,

sagte kein ›das macht so und so viel, bitte, in bar oder

mit Karte?‹. Es wäre nett gewesen, dachte Huzur später

manchmal, wenn man der Mutter ein Girokonto und

eine dazugehörige Karte zugetraut hätte.

Nach dem Zahlen sah Huzurs Mutter, Geldbeutel und

Kassenbeleg noch in der einen Hand, eine Bekannte aus

der Koloniestraße, winkte ihr mit der anderen Hand

zu, und die beiden plauderten wie üblich über die Kälte,

den nächsten Türkeiurlaub und die Ticketpreise. Huzur

war vor der Warenausgabe stehen geblieben und sah verträumt

der Kassiererin zu, die die Waren der nachfolgenden

Kundin einscannte. Unglaublich, wie sie mit flinken

Fingern Rote Beete, Butter und Brot über den Scanner

schob, immer einen Blick auf den Bildschirm vor ihren

Augen gerichtet, und zwischendurch etwas eintippte. Huzur

staunte. Und sie staunte auch, als sie hörte, wie die

Kassiererin gleich zu Anfang laut sagte, Guten Tag, kurz

war sie versucht, ebenfalls zu sagen, Guten Tag. Aber sie

und die Mutter waren ja schon fertig mit dem Einkauf.

Nachdem Rote Beete, Butter und Brot direkt vor Huzur

gelandet waren, nannte die Kassiererin einen Betrag,

gefolgt von einem Bitte. Huzur blickte auf die Kundin,

die ihre Geldbörse hervorkramte und Huzur, die wie

angewurzelt vor der Warenausgabe mit den Einkäufen

stand, kurz irritiert ansah. Huzur erwiderte ihren Blick.

Die Frau war schlanker als die Mutter und hatte kurzes

blondes Haar. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde

Huzur bewusst, dass zwischen den Frauen ihrer Familie

und der blonden, großen Kundin Niemandsland lag,

etwas Trennendes, über das man niemals laut sprach, obwohl

es immer da war. Es ging um sichtbare Unterschiede

zwischen zwei Welten, um Kleidung, Sprache und Aussehen,

und um Unsichtbares, wie das, was man in einer

bestimmten Anzahl von Schuljahren lernen kann. Bei

ihrer Mutter, das wusste Huzur, waren es sechs gewesen.

Es ging dabei nicht um die Schuljahre an sich, die Verbindung

mit einer Türkin machte es zu einer Kategorie.

Sie beschloss in diesem Augenblick, sie wollte, wenn sie

groß war, nicht auffallen wie die Mutter und von den

Kassiererinnen dieser Welt ein Guten Tag, einen Betrag

und ein Bitte hören. Die Kassiererin und ihren ungleichen

Umgang konnte sie niemals ändern. Blond würde

sie niemals werden, ihre Körpergröße konnte sie nicht

beeinflussen, aber sie konnte lernen, so zu reden und

gestikulieren wie die blonde Kundin. Die soziale Leiter

aufsteigen war später das Bild, das ihre Umgebung dafür

gebrauchte. Jedes Mal, wenn sie das hörte, fragte sie sich,

wie oft sie unter dieser Leiter durchgelaufen ist. Huzur

wollte aufsteigen.

Als Teenager bügelte sie ihre Haare auf dem Bügelbrett.

Die Glätteisen taugten für ihre Haarstruktur nichts,

und sie hätte sich ohnehin nie eines leisten können. Wenn

das Brett gerade von der Mutter genutzt wurde, bügelte

sie ihre Haare auf dem Boden oder auf einem Küchentuch.

Ihre Freundinnen halfen. Die eine legte das Bügeleisen

auf ihren Haaransatz und sagte ›zieh‹. Sie zog ihren

Kopf weg vom heißen Bügeleisen, und gegen Ende verlangsamte

sie das Tempo, denn die vom Spliss befallenen

Spitzen waren besonders hartnäckig und ringelten sich

immer wieder ein. Huzur schminkte sich kaum, betupfte

ihr Gesicht mit Babypuder, um heller zu wirken, ging

nicht mehr ins Solarium, erledigte ihre Hausaufgaben,

notfalls noch auf der Busfahrt zur Schule, gab im Unterricht

Handzeichen, statt reinzurufen, und saß freiwillig

in der ersten Reihe. Die Drei in Sport und Deutsch wurde

sie trotzdem nicht los. Sie glaubte an sich, aber das half

nicht gegen die Macht der Zahlen, änderte ebenso wenig

wie engagierte Diskussionen im Unterricht oder Nachverhandeln

in den Pausen. Die Macht der Zahlen besiegte

die Macht des Willens. Heute weiß sie, dass man

in Deutsch und Sport keine Chance hat, wenn die Großeltern

aus der Türkei und man selbst aus der Unterschicht

kommt, von der behauptet wird, dass es sie nicht

gibt. Aber damals gab sie sich nicht geschlagen und arbeitete

so hart, bis sie auch in Deutsch und Sport ihre

Zwei hatte. Sie kam vorwärts, auch wenn es ein Vorwärtskommen

mit aufgeschürften Knien war. Doch die

Kassiererin im Penny grüßte sie immer noch nicht.

 

Auf der Website des dtv Verlags kann ›Ein Spiegel für mein Gegenüber‹ bestellt werden.