Leseprobe aus dem Roman "Ein Spiegel für mein Gegenüber" von Nadire Biskin, erschienen 2022 im dtv Verlag.
Es gibt da ein Erlebnis in ihrer Kindheit, einen Einkauf
bei Penny, der Huzurs Leben in ein Davor und Danach
teilte. Er fand am gleichen Tag wie ein Elternabend statt,
ein Wendepunkt mit Ankündigung. Ihr Vater Sadık war
am Morgen jenes Tages beim Jobcenter gewesen, wo
man mit ihm über seine berufliche Zukunft sprechen
wollte. Er knöpfte die obersten Knöpfe seines Hemdes
zu, obwohl ihm das die Kehle zuschnürte, und erkundigte
sich bei einem Sicherheitsmann, wo er hinmusste.
Der Mann ließ ihn nicht zu Ende reden und deutete auf
die beiden Reihen von Wartenden. Er hätte die Wahl
zwischen der rechten und der linken Schlange. Huzurs
Vater holte den Einladungsbrief hervor, um ihm Datum,
Uhrzeit und Raumnummer des Termins sowie die Sachbearbeiterin
vorzulesen. Der Sicherheitsmann nahm ihm
das Schreiben aus der Hand, las es, gab es ihm zurück
und ließ ihn durch. Das alles hatte Zeit gekostet, und
Huzurs Vater kam leicht verspätet in der dritten Etage
bei seiner Sachbearbeiterin an. Die Tür stand bereits
offen. Er komme drei Minuten zu spät, sagte sie anstelle
einer Begrüßung. Drei Minuten, wiederholte sie. Sie empfehle
ihm, in Zukunft eine Bahn vorher zu nehmen, um
in Zukunft pünktlich zu kommen. Der Vater nickte. Die
Sachbearbeiterin schloss das offene Fenster und wandte
sich seinem Fall zu. Während sie redete, versuchte er
einen Blick in die Akten zu erhaschen. Sie bemerkte das
und rügte ihn dafür, das sei unhöflich, zumindest in
Deutschland, fügte sie hinzu. Der Vater entschuldigte
sich. Wie so oft hatte er das Gefühl, nichts richtig machen
zu können.
Die Vorstellung, nach diesem Morgen noch einen Elternabend
überstehen zu müssen, überstieg seine Kräfte.
Und so ging er in die Moschee und nicht zum Elternabend.
Schulter an Schulter mit anderen Männern, die
das Leben hier unsichtbar gemacht hatte, vollzog er das
Freitagsgebet. War Beten nicht auch eine väterliche
Pflicht? Wenn er es im Leben schon nicht richten konnte,
dann konnte es vielleicht Gott, hoffte er.
Danach verkroch er sich in die Teestube der Moschee,
spielte ein wenig Billard, unterhielt sich auf der Holzbank
mit anderen, schaute sich ein Fußballspiel auf dem
neuen Flachbildschirm an. Irgendwann an jenem Abend
trank er seinen letzten Tee, der so dunkel war wie der
kalte Himmel draußen, nahm die Zuckerdose vom Kaugummiautomaten
runter und trug sie mit dem Teeglas in
die Küche. Zu Hause behauptete er, er habe den Elternabend
völlig vergessen. Dafür hatte er überteuerte Litschis
im libanesischen Laden al-Rima für die Familie
gekauft, ein Liebesbeweis.
Huzurs Mutter, die Finanzministerin in der Familie,
wurde wie immer wütend. Dafür hätte man das Dreifache
an Äpfeln kaufen können, die man den Kindern
mit in die Schule hätte geben können. Dort hätten die
Kinder in der kleinen Pause die gelb-roten Apfelstücke
rausholen und vor der Lehrerin essen können. Dann
hätte die Lehrerin denken können, sie seien gute Eltern,
weil sie ihren Kindern täglich Gesundes zum Essen mitgaben.
Sollten wenigstens die Kinder einen guten Eindruck
machen, den sie mit ihrem Gewicht und dem starken
Akzent nicht hinbekam. Sie selbst war nach der
Arbeit noch einkaufen gewesen und hatte sich auf ihren
Mann verlassen. Und so war am Ende wieder einmal niemand
beim Elternabend gewesen, was, wie Huzur heute
vermutet, in der Schule niemanden verwundert und alle
Vorurteile bestätigt hatte.
Huzur erinnert sich an jenen Elternabend nur noch,
weil sie sich an den Einkauf im Penny erinnert. Sie
machte sich mit ihrer Mutter mit dicken Handschuhen,
einem Beutel von der Herz-Apotheke und einem Einkaufstrolley
auf den Weg. Sie passierten die Soldiner
Straße, vorbei an dem Massagesalon mit Happy Ending
und an Rebeccas Haus, das Huzur und ihre Freundin
Sibel nie von innen sehen durften. Sie gingen vorbei an
dem Schaukelspielplatz und dem Türkenspielplatz, auf
dem sie und Sibel viel Zeit verbrachten.
Sibel, Spitzname Zwiebel, weil Leute, die Namen wie
Tschaikowski und Wörter wie Evaluation aussprechen
können, es bei ihrem Namen nicht schafften, zog Jahre
später nach ihrem Realschulabschluss nach Istanbul.
Dort konnte man ihren Namen aussprechen. Und sie
versuchte beim Anblick von Zwiebeln im Supermarkt
nicht an Deutschland zu denken. Das hatte sie Huzur
später bei einer zufälligen Begegnung erzählt, bevor sie
den Kontakt verloren. Immer wenn Huzur heute an Rebeccas
Haus vorbeiläuft, fällt ihr ihre alte Freundin Sibel
ein und wie viel Zeit sie dort, zwischen Beton, Blut und
Graffiti, verbrachten.
Huzur ging gerne mit ihrer Mutter bei Penny einkaufen.
Anders als beim Samstagseinkauf bei Bolu Market
und Elfi, wo ihre Mutter Auberginen, Okraschoten, Paprika
oder Sesampaste erstand, alles Dinge, die Huzur
peinlich und langweilig fand, gab es bei Penny Waren,
bei denen Huzur das Herz höherschlug. Beim Freitagseinkauf
durfte sie sich immer eine Süßigkeit aussuchen,
und wie immer fiel ihr die Wahl zwischen Gummizeug
und Schokolade schwer.
Später an der Kasse legten Huzur und ihre Mutter den
Einkauf so schnell es ging auf das Band, damit die anderen
in der Schlange nicht so lange warten mussten.
Huzur drückte sich an ihrer Mutter vorbei zum Ende des
Einkaufsbands und legte die eingescannten Einkäufe zurück
in den Einkaufswagen, während die Mutter zahlte.
Alles war wie sonst, die Kassiererin grüßte sie nicht,
sagte kein ›das macht so und so viel, bitte, in bar oder
mit Karte?‹. Es wäre nett gewesen, dachte Huzur später
manchmal, wenn man der Mutter ein Girokonto und
eine dazugehörige Karte zugetraut hätte.
Nach dem Zahlen sah Huzurs Mutter, Geldbeutel und
Kassenbeleg noch in der einen Hand, eine Bekannte aus
der Koloniestraße, winkte ihr mit der anderen Hand
zu, und die beiden plauderten wie üblich über die Kälte,
den nächsten Türkeiurlaub und die Ticketpreise. Huzur
war vor der Warenausgabe stehen geblieben und sah verträumt
der Kassiererin zu, die die Waren der nachfolgenden
Kundin einscannte. Unglaublich, wie sie mit flinken
Fingern Rote Beete, Butter und Brot über den Scanner
schob, immer einen Blick auf den Bildschirm vor ihren
Augen gerichtet, und zwischendurch etwas eintippte. Huzur
staunte. Und sie staunte auch, als sie hörte, wie die
Kassiererin gleich zu Anfang laut sagte, Guten Tag, kurz
war sie versucht, ebenfalls zu sagen, Guten Tag. Aber sie
und die Mutter waren ja schon fertig mit dem Einkauf.
Nachdem Rote Beete, Butter und Brot direkt vor Huzur
gelandet waren, nannte die Kassiererin einen Betrag,
gefolgt von einem Bitte. Huzur blickte auf die Kundin,
die ihre Geldbörse hervorkramte und Huzur, die wie
angewurzelt vor der Warenausgabe mit den Einkäufen
stand, kurz irritiert ansah. Huzur erwiderte ihren Blick.
Die Frau war schlanker als die Mutter und hatte kurzes
blondes Haar. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde
Huzur bewusst, dass zwischen den Frauen ihrer Familie
und der blonden, großen Kundin Niemandsland lag,
etwas Trennendes, über das man niemals laut sprach, obwohl
es immer da war. Es ging um sichtbare Unterschiede
zwischen zwei Welten, um Kleidung, Sprache und Aussehen,
und um Unsichtbares, wie das, was man in einer
bestimmten Anzahl von Schuljahren lernen kann. Bei
ihrer Mutter, das wusste Huzur, waren es sechs gewesen.
Es ging dabei nicht um die Schuljahre an sich, die Verbindung
mit einer Türkin machte es zu einer Kategorie.
Sie beschloss in diesem Augenblick, sie wollte, wenn sie
groß war, nicht auffallen wie die Mutter und von den
Kassiererinnen dieser Welt ein Guten Tag, einen Betrag
und ein Bitte hören. Die Kassiererin und ihren ungleichen
Umgang konnte sie niemals ändern. Blond würde
sie niemals werden, ihre Körpergröße konnte sie nicht
beeinflussen, aber sie konnte lernen, so zu reden und
gestikulieren wie die blonde Kundin. Die soziale Leiter
aufsteigen war später das Bild, das ihre Umgebung dafür
gebrauchte. Jedes Mal, wenn sie das hörte, fragte sie sich,
wie oft sie unter dieser Leiter durchgelaufen ist. Huzur
wollte aufsteigen.
Als Teenager bügelte sie ihre Haare auf dem Bügelbrett.
Die Glätteisen taugten für ihre Haarstruktur nichts,
und sie hätte sich ohnehin nie eines leisten können. Wenn
das Brett gerade von der Mutter genutzt wurde, bügelte
sie ihre Haare auf dem Boden oder auf einem Küchentuch.
Ihre Freundinnen halfen. Die eine legte das Bügeleisen
auf ihren Haaransatz und sagte ›zieh‹. Sie zog ihren
Kopf weg vom heißen Bügeleisen, und gegen Ende verlangsamte
sie das Tempo, denn die vom Spliss befallenen
Spitzen waren besonders hartnäckig und ringelten sich
immer wieder ein. Huzur schminkte sich kaum, betupfte
ihr Gesicht mit Babypuder, um heller zu wirken, ging
nicht mehr ins Solarium, erledigte ihre Hausaufgaben,
notfalls noch auf der Busfahrt zur Schule, gab im Unterricht
Handzeichen, statt reinzurufen, und saß freiwillig
in der ersten Reihe. Die Drei in Sport und Deutsch wurde
sie trotzdem nicht los. Sie glaubte an sich, aber das half
nicht gegen die Macht der Zahlen, änderte ebenso wenig
wie engagierte Diskussionen im Unterricht oder Nachverhandeln
in den Pausen. Die Macht der Zahlen besiegte
die Macht des Willens. Heute weiß sie, dass man
in Deutsch und Sport keine Chance hat, wenn die Großeltern
aus der Türkei und man selbst aus der Unterschicht
kommt, von der behauptet wird, dass es sie nicht
gibt. Aber damals gab sie sich nicht geschlagen und arbeitete
so hart, bis sie auch in Deutsch und Sport ihre
Zwei hatte. Sie kam vorwärts, auch wenn es ein Vorwärtskommen
mit aufgeschürften Knien war. Doch die
Kassiererin im Penny grüßte sie immer noch nicht.
Auf der Website des dtv Verlags kann ›Ein Spiegel für mein Gegenüber‹ bestellt werden.