Heute jährt sich der rechte Terroranschlag am OEZ in München zum sechsten Mal, bei dem neun Menschen aus rassistischen, antimuslimischen und antiziganistischen Motiven ermordet wurden. Sibel Leyla, Mutter des verstorbenen Can Leyla, spricht in ihrer Rede auf der Gedenkveranstaltung in München über ihre Trauer, den Vertrauensverlust in die Sicherheitsbehörden und den gemeinsamen Kampf der Angehörigen für Aufklärung und ein würdiges Gedenken.
Die folgende Rede wurde von Sibel Leyla, der Mutter von Can Leyla, am 22. Juli 2022 vorgetragen. Sibel schrieb diese Worte an ihren Sohn gerichtet anlässlich des 6. Jahrestags des Anschlags am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München. Can Leyla wurde am 22.07.2016 zusammen mit Armela Segashi, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Hüseyin Dayıcık, Roberto Rafael, Sabina S., Selçuk Kılıç und Sevda Dağ aus rechten und rassistischen Motiven ermordet. Seit Jahren kämpfen Sibel und Hasan Leyla als Eltern für Aufklärung, mehr Solidarität und ein würdiges Gedenken. Doch erst vor kurzem hat sich eine Initiative gegründet, die sie und die weiteren Angehörigen und Überlebenden dabei unterstützt. Im Rahmen der lokalen Arbeit des Tribunal NSU-Komplex Auflösen in Nürnberg suchten Aktivist*innen Kontakt zu den Betroffenen. Die Lehren aus dem NSU-Komplex müssen weiter umgesetzt werden. Eine zentrale Lehre war: Hört zu, schaut hin und lasst die Betroffenen nicht allein! Jedoch sind heute nach wie vor lediglich Kassel, Halle und Hanau die Städte, die mit der jüngsten Geschichte rechten Terrors in Deutschland assoziiert werden. München fehlt. Deswegen heißt die gemeinsame Initiative: München erinnern! Angehörige, Überlebende und Unterstützende wollen dafür sorgen, dass auch der Anschlag am OEZ in München sich ins kollektive Gedächtnis einprägt. München Erinnern! soll eine Mahnung sein, an die Stadt selbst, sie gilt aber auch bundesweit. Denn zum ersten Mal finden dieses Jahr Gedenkveranstaltungen in ganz Deutschland statt. Hasan und Sibel Leyla sind dafür in den letzten Monaten durch die gesamte Republik gereist, um Unterstützung zu mobilisieren. Aufklärung, Aufarbeitung, Erinnerung und Konsequenzen wünscht sich Sibel Leyla, dies formuliert sie in der persönlichen Rede an ihren Sohn eindrücklich.
Mein Lieber Sohn Can,
mein Leben ist seit sechs Jahren ohne Dich. Ich vermisse Dich, ich suche Dich – aber überall sehe ich nur diese dunkle Leere. Ich spüre diese schwere Last, meinen Schmerz und meine Sehnsucht – ich finde keine Erlösung!
Wie sehr vermisse ich unsere gemeinsame Zeit. Ich suche Trost in meinen Erinnerungen und ich könnte Dir stundenlang erzählen, wie Du mein Leben mit Schönheit erfüllt hast. Jetzt bin ich ohne Dich und ich spüre einen tiefen Schmerz, dass ich meine Liebe nicht mehr mit Dir leben kann.
Und Du, ich nehme an, Du bist jetzt an einem schönen Ort, den man das Himmelreich nennt. Dort, wo es keine Verfolgung gibt, wo das Leben von Kindern nicht missachtet wird und es gerecht und gewissenhaft zugeht. Wenigstens hoffe ich es. Daran möchte ich glauben. Dafür strenge ich mich an, denn mit Deinem grausamen Tod habe ich mit Dir auch alle meine Gewissheiten verloren.
Würden wir doch nur dem Menschen auf dieser Welt nicht das Klassifizieren, Bewerten und Unterteilen beibringen, sondern stattdessen Empathie. Vielleicht müssten wir dann nicht all das durchleben, was jetzt Realität ist.
Und diese Realität ist für uns die Hölle. Wir haben in diesen sechs Jahren um Gerechtigkeit gekämpft, uns abgemüht und gequält, aufgeschrien, gegen alle Widerstände, während die Beteiligten an diesem Attentat weiterhin ungestört und ungehindert da draußen ihr Unwesen treiben, weiter aktiv in ihrem Nazi-Netzwerk sind. Der Mitschuldige Philipp Körber, der dem Attentäter die Tat erst möglich gemacht hat, weil er ihm illegal Waffe und Munition verkauft hat, ist seit einem Jahr vorzeitig aus der Haft und man hat es nicht für geboten gehalten, uns darüber zu informieren.
Es wird gesagt, dass es in diesem Fall zu keinen Ermittlungsfortschritten kam. Dabei war es offensichtlich, dass man die Akte so schnell wie möglich schließen wollte. Obwohl es viele Hinweise durch Zeugenaussagen aus dem Nazimilieu gab, denen man hätte nachgehen können. Für sie ist der Fall abgeschlossen, aber für mich nicht, denn wir werden hier als Einwanderer weiter bedroht, wir sind weiter einem tödlichen Rassismus ausgesetzt. Ja, das macht mich nervös, das beunruhigt mich zutiefst!
Man sagt uns, dass man unsere Gefühle teilt, dass wir die Möglichkeiten der Demokratie nutzen können, aber auch zu gehorchen und uns unterzuordnen haben. Angesichts der Lage heißt das im Grunde: Du musst damit leben, dass man Menschen wie dich töten möchte, und wenn es passiert, nimm dein Schicksal hin!
Gehorchen und mich unterordnen soll ich mich auch, wenn es um die Vorbereitung der jährlichen Gedenkveranstaltungen geht. Als Angehörige habe ich keinerlei Mitspracherecht darüber, wer sprechen darf und wer nicht. Jedes Jahr stehen wir mit unseren Anliegen vor einer Mauer, mit der sich die Stadt München von uns abschirmt. Auch mein rechtlicher Beistand wurde mir von der Stadt verwehrt.
Ich habe in diesen 6 Jahren gelernt, dass es keine Gerechtigkeit und keine Werteordnung gibt. Das schmerzt mich. Menschen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, werden geschützt.
Eine so große Ungerechtigkeit verletzt mich zutiefst. Dieses System trägt Menschen auf Händen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Es ist eine gefährliche Welt, in der unter dem Namen ‚Mensch‘ eine innerlich hohle Gemeinschaft besteht, die nichts davon hält, gute Menschen zu sein, Gutes für Andere zu tun und sie wertzuschätzen. Diese Gemeinschaft schreckt nicht davor zurück, Böses zu tun und Andere Böses tun zu lassen. Und in dieser Welt gibt es Menschen, die angesichts alledem schweigen, und sie glauben desto mehr daran, Recht zu haben, je mehr sie schweigen.
Die Ungerechtigkeit in diesem Land zeigt sich darin, dass wir selbst um Gerechtigkeit kämpfen müssen. Und wenn wir nicht darum kämpfen und es in die Hände der Polizei und Politik geben, befürchte ich, dass es immer wieder zu unermesslichem Leid kommen wird. Ich habe keinerlei Vertrauen mehr in die Justiz und Staatsgewalt.
Die deutsche Justiz ist angesichts der rechten Terroranschläge gescheitert.
Die Gesetze mit Füßen getreten und danach gänzlich ad acta gelegt.
Lieber vertraue ich jenen Menschen, die ihre Augen nicht verschließen und sich durch ihr Gewissen und Gefühl für Fairness solidarisch zeigen. Die sich für ein gerechtes und menschenwürdiges Zusammenleben in der Gesellschaft einsetzen und die Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen und nicht schweigen werden. Ich habe von Mitmenschen so viel echte Anteilnahme erfahren und die Kraft tiefer Begegnungen gespürt, dass mich das wieder hoffen und glauben lässt.
Und ich möchte besonders den jungen Menschen raten: Diese Welt gehört euch, gebt eure Zukunft, eure Träume, eure Hoffnungen nicht in diese schmutzigen Hände.
Solange ich Sie alle hier sehe, gebe ich meine Hoffnung nicht auf.
Mein lieber Sohn Can!
Du wurdest durch Kugeln getötet, und wir werden nicht aufhören, bis alle, die daran mitgewirkt haben, zur Verantwortung gezogen werden. Wir werden nicht schweigen und nicht vergessen lassen. Solange Menschen ermordet werden, werden wir nicht aufhören darauf hinzuweisen, dass es dort Grausamkeiten gibt.
Aber Du ruhe in Frieden!