War die deutsche Popkultur in den 1990ern diverser als heute? Nadia Shehadeh, Soziologin, Bloggerin und popkulturelles Kind der 1990er, beschreibt den Hauch von Möglichkeiten, der durch die damalige Zeit wehte, als ein Musikgenre kurzzeitig für die wohl größte Vielfalt in der deutschen Pop-Welt sorgte: Eurodance.
Als Kind der 1990er Jahre ernähre ich mich bis heute in popkultureller Hinsicht von nostalgischen Momenten, und gerade in den letzten Jahren habe ich angefangen, bestimmte Genres auf eine völlig neue Art und Weise für mich wieder zu entdecken. Eines davon ist Eurodance – ein Metier, das ich bereits als Teenager unendlich liebte, aber schon damals verstand, dass bürgerliche Distinktion eigentlich vorsieht, diese spezielle Richtung allerhöchstens aus ironischen oder eben in einem späteren Leben nostalgischen Gründen zu konsumieren. Irgendwann in den letzten Jahren aber habe ich angefangen, Eurodance für das zu schätzen, was es ist: Einfach gute Musik.
Die Wiederkehr von Eurodance-Elementen auf die Dancefloors, die endlose Fülle von 90er-Parties, die regelmäßigen Touren eigentlich fast schon in der Rente befindlichen Eurodance-Veteran_innen seit Mitte der Nuller Jahre zeigen ebenfalls: Massen an Menschen haben nie aufgehört Eurodance zu lieben, und auch die jüngere Generation, die nicht live miterlebt hat, mit welcher Verachtung Eurodance in den 1990ern fast schon durchgängig als „Kirmes-Pop“ und „Dorfdisko-Mucke“ verhöhnt wurde, ist empfänglich für den bittersüßen Retro-Charme der Dance-Musik.
Seit Jahren werden leidenschaftliche Debatten um die fehlende Diversität in der deutschsprachigen Medien- und Kulturbranche geführt und Öffnungsprozesse herbeigesehnt. Ausschlussprozesse werden aber dabei nicht nur dadurch befeuert, dass es Bereiche gibt, in denen die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft nicht mal ansatzweise widergespiegelt wird – sondern auch dadurch, dass Felder, die besonders divers sind, systematisch verachtet und regelmäßig diskreditiert werden. Seit etwa zwei Jahrzehnten hat man es im deutschsprachigen Raum dabei im Bereich der Popkultur vor allem auf bestimmte Teile der (vor allem: migrantisierten) Rap-Szene und die Teilnehmenden von Casting-Shows abgesehen, wo man mithilfe der Intersektionen Race und Class immer wieder Künstler_innen und Kandidat_innen Fähigkeiten und Talent abspricht, Bildungsferne als Motivation für die Musiklaufbahn vermutet und verächtlich über die Mainstream-Ausrichtung der verschiedenen Produkte, die diese Sendungen auswerfen, urteilt.
Und auch schon in den 1990ern wurden Genres mit derselben (weiß-)bürgerlichen Verachtung gestraft – teilweise so harsch, dass eine angemessene Würdigung bis heute ausbleibt. Eurodance, eins der erfolgreichsten Formate der 1990er Jahre, war eins dieser Opfer. Die Sänger_innen und Rapper_innen der allermeisten kommerziell erfolgreichen Eurodance-Gruppen waren dabei mehrheitlich BIPoC und sorgten für ungefähr ein halbes Jahrzehnt für die größte Vielfalt, die europäische Länder bis dato jeweils im eigenen Pop-Markt erlebt hatten. Die Geschichte von Eurodance war also nicht nur eine kommerzielle Erfolgsgeschichte, sondern tatsächlich auch ein kultureller Durchbruch. Mit dem Absturz des Genres – durch Massenkommerzialisierung und die Veränderung der Musik- und Clubkultur und der Einführung von Quoten zu deutschsprachiger Musik in TV und Radio – veränderte sich auch das Gesicht der Pop-Welt im deutschsprachigen Raum nochmals eklatant.
Wie alles begann: Die Diversifizierung der deutschen TV-Landschaft in den 1990ern
Dabei begann alles vielversprechend, fast schon utopisch: 1992 eröffnete das in Deutschland gegründete Trance-Duo Snap! mit einem Paukenschlag und „Rhythm is a Dancer“ das Zeitalter von Eurodance, und lieferte damit auch einen der Tracks, auf den sich sowohl Musikkritiker_innen als auch Fans bis heute immer wieder positiv beziehen. Der Kombination von Gesang (Thea Austin), Rap-Sequenzen (Turbo B.) und 124 BPM legten den Grundstein für den im Eurodance so beliebten Genre-Mix, der sich für Jahre etablieren sollte. Das Video, das – so wie viele weitere Snap!-Produktionen – mit vielen afrofuturistischen Elementen spielte und damit seiner Zeit weit voraus war, traf (mit MTV) auf den Höhepunkt der Zeit des Musikfernsehens und prägte auch visuell viele spätere Produktionen von Eurodance. Wenn heute so getan wird, als wären die allermeisten Bereiche der Pop- und Unterhaltungskultur in der Vergangenheit per se schon immer weiß-deutsch geprägt gewesen, lehrt ein Blick zurück in die Phase der frühen 1990er Jahre, dass dies einfach nicht stimmt.
Eurodance und etwas später der Start des deutschen Musik-Senders VIVA Ende 1993 – inklusive des diversesten Moderator_innen-Casts, den man bis dato im deutschen Fernsehen erlebt hatte – sorgten für Jahre, in denen die Pop-Welt im deutschsprachigen Raum zum Großteil von BIPoC-Künstler_innen und -Entertainer_innen bespielt wurde. Die Sänger_innen, Rapper_innen und Tänzer_innen kamen aus verschiedensten Ländern, zum Großteil auch aus den in europäischen Ländern ansässigen Diasporas und den USA – und bildeten selbst eine komplett heterogene Gruppe. Dieser Sachverhalt, in Kombination mit den für deutsche Verhältnisse personaltechnisch komplett innovativen Zuständen beim ersten deutschsprachigen Musiksender, sorgte fast schon für kosmopolitische Atmosphäre im deutschen Pop-TV, die über Jahre anhielt.
Dass die international angehauchte Ausrichtung VIVAs dabei eigentlich nur Zufall war, weil man den in englischsprachigen Ländern ansässigen Marktführer MTV irgendwie nachahmen wollte, ist dabei fast schon zweitrangig: Die Musik- und TV-Landschaft war in diesen Jahren divers, und zwar ohne Ende. Die Theater- und Literaturwissenschaftlerin Bahareh Sharifi spricht diesen Jahren auch einen Longterm-Effekt was Vielfaltsentwicklungen betrifft zu, da einige der VIVA-VJs und -VJanes später von privaten deutschen Fernsehsendern übernommen wurden – und damit, so Sharifi, auch „die Fernsehlandschaft insgesamt diversifiziert“ wurde.
Wie politisch ist Eurodance?
Es wäre einfach, aber ungerecht, Eurodance als komplett kitschige, bedeutungslose Oldschool-Sammlung von One-Hit-Wondern abzutun: Das Genre steht genauso wie von der professionellen Rezeption weitaus mehr geschätzte Richtungen wie Grunge für ein komplettes Musikzeitalter. Wer Eurodance-Künstler_innen zudem Inhaltsleere und plumpe Gute-Laune-Oberflächlichkeit attestiert, der übersieht die vereinigende und motivierende Kraft, den queer gaze und den utopischen Charakter des ganzen Genres. Nicht zuletzt die Unterstützung antifaschistischer Interventionen in Wien 2019 durch die niederländische Eurodance-Band Venga Boys zeigte außerdem, dass auch Eurodance zu politischer Mobilisierung taugt: Die Band tauchte in jenem Jahr bei einer FPÖ-kritischen Demonstration auf und spielte vor jubelndem Publikum – auch den Song „We‘re going to Ibiza“, der zu dieser Zeit die inoffizielle Hymne der Regierungskrise in Österreich lieferte. Die Venga Boys, eine bis in die späten 1990er sehr erfolgreichen Formation, waren dabei eigentlich schon längst in der Versenkung von Party-Auftritten in Großdiskotheken versunken gewesen, als in einer Meme-artigen Entwicklung plötzlich ihre alten Hits als aufmunternde Begleitmusik der politischen Enttäuschung hervorgeholt wurden. Es ist kaum verwunderlich, dass nach über einem Jahrzehnt Rechtsruckentwicklungen in Europa und Tendenzen der politisch gewollten Verrohung und Menschenfeindlichkeit ausgerechnet das Genre herbeigesehnt wird, das im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrtausends wie ein Blick in eine gutgelaunte, weltoffene und positive Zukunft aussah – die das komplette Gegenteil von heutigen europäischen White Supremacy- und Abschottungsfantasien war.
Doch natürlich war nicht alles an Eurodance rosig. Gerade die Verheizung und die scheinbar gewollte Austauschbarkeit der Künstler_innen dieser Ära ist eine der großen Kehrseiten. Formationen traten oft in immer wieder anderen Konstellationen auf, und viele der Sänger_innen und Rapper_innen erfuhren nie die Wertschätzung, die sie eigentlich verdienten. Als oft namenlose Stars (wenn sie nicht gerade als Einzelkünstler_innen auftraten, wie etwa Dr. Alban oder Leila K.) glänzten viele von ihnen in einer schier unermüdlichen Armee von Pop-Arbeiter_innen, und Namen wie Niki Harris (Snap!) und Tania Evans (Culture Beat) sind heute nur noch wenigen bekannt.
Repräsentation und Austauschbarkeit
Die Austauschbarkeit hatte damals dabei schon so große Ausmaße, dass zum Beispiel die Sängerin Giovanna Bersola, die für die Band Corona die Vocals von „Rhythm of the Night“ sang, weder bei den Credits erwähnt wurde noch im Musikvideo auftrat. Stattdessen wurde das Model Olga de Souza als Gesicht der Band engagiert. Die Ausbeutungstendenzen, die mit dieser Ära einhergegangen sein müssen, kann man dabei nur erahnen. Auch der Sachverhalt, dass viele der Eurodance-Künstler_innen in den letzten Jahren für kleines Honorar durch kleine Clubs tingelten, obschon einige von ihnen wirklich ikonische Songs eingesungen haben, lässt vermuten, dass viele der Sänger_innen und Rapper_innen trotz phänomenalen Talents nur als Mittel zum Zweck in der Branche durchgereicht wurden. Ein Blick in die sozialen Medien verrät etwa, dass die akuten Fan-Zahlen von Tania Evans, die mit „Mr. Vain“ für Culture Beat wohl einen der bekanntesten Dance-Tracks aller Zeiten eingesungen hat, schmerzhaft klein sind – etwas über 1000 Follower_innen hat sie bei Instagram.
Doch teilweise war wohl auch der unfassbare Erfolg einzelner Tracks auf paradoxe Weise mitbeteiligt an der Unsichtbarwerdung der Interpret_innen als Individuen. Ray Slijngaard, der Rapper des Duos 2 Unlimited, erzählte 2020 in einem Interview, dass bei der allerersten Tour der Band, die durch Schottland führte, der Track „No Limit“ so bekannt war, dass es die Band selbst komplett überrumpelte: „Die Leute kannten unseren Song, aber nicht uns.“ Repräsentation gab es also zu Genüge in diesen Jahren, aber zum fragwürdigen Preis der Austauschbarkeit in einer bunten™ Unterhaltungsmasse. Dabei waren es auf jeden Fall ein unfassbar großer Mitverdienst der vielen talentierten Sänger_innen und Rapper_innen, den erfolgreichsten Tracks dieser Zeit einen unverwechselbaren Stempel aufzudrücken.
Einfluss auf die heutige Popkultur
Das Erbe von Eurodance strahlt bis in die heutige Zeit. Oft wurde vermutet, dass etwa Lady Gaga sich großzügig von den extravaganten Looks und dem exzentrischen Auftreten des schwedischen Eurodance-Starlets Leila K. hat inspirieren lassen – und Gaga hat selbst in Interviews schon auf die besondere Vorbildrolle der Schwedin in ihrer musikalischen Sozialisation hingewiesen. „What is Love“ von Haddaway ist nicht nur einer der größten Hits dieser Zeit und mittlerweile ein Evergreen, sondern auch eine beliebte Vorlage für Meme-Variationen in sämtlichen Social Media-Angeboten.
Ein Hauch von Möglichkeiten wehte durch diese Zeit, mit den Verheißungen für eine Zukunft, die mindestens genauso positiv, divers und hoffnungsvoll sein sollte. Dass diese Ära aber am Ende so trostlos eingestampft wurde, ist bis heute ein großer Verlust. Heute, umgeben von Schwurbel-Künstler_innen wie Nena und Xavier Naidoo und gefühlt tausenden Sänger_innen, die oft Stefanie und Johannes heißen und genauso weiß-deutsch sind wie ihre Namen, wünsche ich mir diese Zeit sehr oft zurück.
Die Utopie von damals trifft den Nerv der heutigen Zeit
Aber auch die Gegenwart macht Hoffnung, was sich nicht nur in der neuerlichen Wertschätzung für nostalgisch-diverse Inhalte wie Eurodance zeigt. Das Hervorholen von alten Held_innen, die seinerzeit fast schon als kitschig verschrien waren, und die bewusste, jedoch wertschätzende Meme-isierung von Eurodance in den Social Media-Netzwerken wie TikTok und Instagram und auf 90er Parties, zeugt eben nicht nur von einer Sehnsucht nach vergangenen Zeiten – die im Übrigen, wenn man sich die Reihe der rassistischen Anschläge Anfang der 1990er Jahre in Deutschland vor Augen führt, auch überhaupt nicht rosig waren. Vielmehr passen diese Idole heute mehr denn je in ihre jeweiligen Rollen, mit denen sie schon damals tatsächlich als eine Art Utopie, die aber kaum jemand verstanden hat, angestoßen hatten.
Und vor allem treffen die Popstars von damals heute auf eine Medienwelt, die tatsächlich auch durch das Internet nochmal viele Nischen geschaffen hat, in denen Pop, Queerness, Vielfalt und der Wunsch nach einer gerechteren, also am Ende auch schönen Welt Hand in Hand gehen – und damit einen Nerv. Nichts passt dazu so gut wie Eurodance, und es ist vielen alten Veteran_innen dieses Genres zu wünschen, dass sie nochmal einen zweiten Frühling erleben können. Vielleicht ist es nämlich genau diese Zeit, die politisch teilweise bedenklich und geopolitisch sehr komplex und beunruhigend ist, die eine Force braucht, die positive und einfache Messages hat, aber auch treibende und motivierende Kräfte mobilisieren kann und darüber hinaus zeigt, dass die Welt auch ganz anders aussehen kann. Und dafür steht Eurodance immer noch par excellence.
Nadia Shehadeh ist Soziologin, Bloggerin und Kolumnistin. Sie arbeitet zu den Themenschwerpunkten Pop und Intersektionalität. Sie lebt in Bielefeld und hat die Eurodance-Phase live miterlebt.