Im aktuellen Diskurs über Israel und Palästina werden juristisch definierte und politisch aufgeladene Fachwörter wie Genozid, Apartheid, Kolonialismus, Zionismus und Antisemitismus zu Kampfbegriffen. Doch was bedeuten die Begriffe genau, und wie lässt sich ihre Verwendung im Diskurs einordnen? Kristin Helberg unternimmt eine Versachlichung.
Fast ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist der Diskurs über Israel, Gaza und die Hamas in Deutschland vergiftet – in den sozialen Medien, auf der Straße, an den Universitäten. Das liegt vor allem an den verschiedenen Perspektiven auf das, was geschieht und an der fehlenden Bereitschaft, sich in die Lage und Wahrnehmung des anderen hineinzuversetzen. Man spricht über die gleichen Ereignisse, empfindet diese aber aufgrund der eigenen Geschichte, Lebenserfahrung oder Überzeugung so unterschiedlich, dass man bestenfalls aneinander vorbeiredet, sich schlimmstenfalls gegenseitig anbrüllt oder gar angreift. Der eigene Blick reduziert die Position der jeweils „anderen Seite“ dann auf radikale Formeln, verfasst von ideologisch verblendeten Personen, die keiner Argumentation zugänglich sind. Dabei stehen diese extremen Positionen keineswegs stellvertretend für die Mehrheit der Andersdenkenden.
Ein paar Beispiele. Die einen empfinden angesichts der Zerstörung und des Leids in Gaza Wut und Mitleid mit den Menschen, die anderen denken: „Es gibt in Gaza keine Zivilisten, denn wer die Hamas gewählt oder geduldet hat, trägt eine Mitverantwortung für das, was sie tut.“ Auf das Argument, die Palästinenser bräuchten einen eigenen Staat, damit beide Völker in Frieden leben könnten, folgt die Antwort: „In Gaza haben wir gesehen, was für ein Terror-Staat dann entsteht und dass die Palästinenser Israel vernichten wollen.“ Die eine ruft: „From the river to the sea, Palestine will be free“ und meint damit, dass alle Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer frei und gleichberechtigt sein sollten, der andere hört darin einen Aufruf zur Vernichtung Israels oder zur Vertreibung von Juden. Und während viele Israelis allein die Hamas für das Sterben in Gaza verantwortlich machen – „die Hamas hat angefangen und versteckt sich hinter Zivilisten" –, bestehen Palästinenser:innen und andere darauf, dass der Krieg nicht erst am 7. Oktober 2023 begonnen hat, weil der Hamas-Anschlag in einem Kontext von jahrzehntelanger Besatzung und Unterdrückung stattgefunden habe.
Gespräche über den Nahostkonflikt geraten deshalb schnell zum polemischen Schlagabtausch inklusive persönlicher Diffamierung. Juristisch definierte und politisch aufgeladene Fachwörter wie Genozid, Apartheid, Kolonialismus, Zionismus und Antisemitismus werden zu Kampfbegriffen – jeder füllt sie mit dem für ihn passenden Inhalt und verweist auf entsprechende Quellen.
Manche Politikerinnen und Journalisten versuchen deshalb, die als problematisch wahrgenommenen Wörter zu vermeiden, doch angesichts ihrer Omnipräsenz funktioniert diese Strategie nicht länger. Besser wäre, die Begriffe zu erklären und ihre Verwendung einzuordnen, denn nur so lässt sich die Debatte insgesamt versachlichen und unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven differenziert führen. Wie also können wir über Genozid und Apartheid, Kolonialismus, Zionismus und Antisemitismus im Zusammenhang mit Israel und Palästina sprechen, ohne einseitig oder ideologisch zu argumentieren? Hier ein Versuch.
Genozid – völkerrechtlich untersuchen statt Holocaust-Bezüge herstellen
Was in Gaza passiert, bezeichnen nicht nur Demonstrierende, sondern auch Politiker, Historiker, Völkerrechtler und Holocaustforscher weltweit inzwischen als Genozid, auch wenn dies juristisch noch nicht geklärt ist. Die hohen Opferzahlen, die Vertreibung und Zerstörung, die katastrophale humanitäre Lage und die Äußerungen israelischer Regierungsmitglieder dienen als Hinweise darauf, dass die Präsenz und die Lebensgrundlagen der in Gaza lebenden palästinensischen Bevölkerung zumindest teilweise zerstört werden sollen. Amos Goldberg, Professor für Holocaust-Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, spricht von einer „bewussten Vernichtung der palästinensischen Existenz in Gaza“. Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu weist diesen Vorwurf zurück und betont, Zivilisten würden vor Luftangriffen gewarnt, Schutzzonen ausgewiesen und tonnenweise Hilfsgüter nach Gaza gelassen. Damit beweise die israelische Führung, dass sie die palästinensische Zivilbevölkerung nicht vernichten, sondern schützen wolle.
In Israel und auch in Deutschland empfinden viele den Genozid-Vorwurf als Täter-Opfer-Umkehr, da nicht Israel die Palästinenser, sondern umgekehrt die Hamas alle Juden auslöschen wolle. Die Hamas selbst betont seit Jahren, sie führe keinen Krieg gegen Juden als Religionsgruppe oder Volk, sondern leiste Widerstand gegen die Besatzung und das „zionistische Gebilde“, wie sie Israel bezeichnet. Der Angriff vom 7. Oktober mit seiner wahl- und maßlosen Gewalt gegen Zivilisten dient jedoch als Beleg für die Vernichtungspläne der Islamisten, auch wenn unter den Opfern nicht nur jüdische Personen, sondern auch thailändische Arbeiter und arabische Israelis waren.
Der deutsche Soziologe und Antisemitismusforscher Klaus Holz weist darauf hin, dass der Genozidvorwurf vor allem dann problematisch ist, wenn er statt eines völkerrechtlichen einen historischen Bezug herstellt. Der Spruch „nie wieder“ – zu verstehen als „nie wieder Auschwitz“ – im Zusammenhang mit der Aufforderung, den „Genozid in Gaza“ zu stoppen, bediene die klassische Täter-Opfer-Umkehr, bei der Israel mit Nazi-Deutschland gleichgesetzt werde – laut Holz das typische Denkmuster im islamistischen und linken Antisemitismus.
Vor Ort haben sich die Fronten seit dem 7. Oktober weiter verhärtet. Auf beiden Seiten sind inzwischen viele überzeugt, die jeweils andere Partei spreche ihnen ihr Existenzrecht ab, eine Ko-Existenz erscheint folglich selbstmörderisch. Wie sollen Israelis mit Palästinensern als Nachbarn leben, die mehrheitlich die Hamas unterstützen? Und wie sollen Palästinenser einen israelischen Staat anerkennen, dessen Regierung das gesamte Land für das jüdische Volk beansprucht? Sowohl Israelis als auch Palästinenser werfen sich gegenseitig genozidale Absichten vor, erklärt Omer Bartov, einer der weltweit führenden Holocaustforscher. Der Vorwurf des Völkermordes auf der einen Seite scheine den Völkermord auf der anderen Seite zu legitimieren, schreibt er, „und das alles im Namen von Befreiung, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Würde“.
Was aber sagen die Juristen? Die Genozid-Konvention, auf die Südafrika sich bei seiner Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) beruft, verbietet Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Israel erkennt die Genozid-Konvention im Gegensatz zu anderen Regelwerken und Institutionen des humanitären Völkerrechts an, denn sie wurde 1948 unter dem Eindruck der Shoah, der industrialisierten Vernichtung der Juden in Europa, verabschiedet.
Der Holocaust als historische Referenz der Konvention führe allerdings dazu, dass andere Fälle von Völkermord schwerer als solche zu erkennen sind, sagen Holocaustforscher wie Bartov und Goldberg. Dabei hatte der geistige Vater des Genozid-Begriffs wie der Genozid-Konvention, der polnisch-jüdisch-amerikanische Jurist Raphael Lemkin, zunächst den Massenmord an den Armeniern vor Augen, als er sich für die strafrechtliche Verfolgung von Völkermord einsetzte.
Bartov und Goldberg weisen darauf hin, dass ein Genozid nicht so aussehen muss wie der Holocaust, um gemäß Völkerrecht als Genozid anerkannt zu werden. Deutschland hat das Ende 2021 bewiesen, als im weltweit ersten Strafprozess wegen Völkermordes an den Jesiden ein IS-Kämpfer in Frankfurt nicht nur wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch wegen Völkermordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Vorwurf: Indem er jesidische Frauen versklavte und ihnen schwere körperliche und seelische Schäden zufügte, habe der IS-Anhänger die religiöse Gemeinschaft der Jesiden absichtlich zerstören wollen. Die Genozid-Konvention schützt also nicht nur die Juden, sondern alle Menschen als Gruppe – sie ist das „Nie wieder für alle!“ des Völkerrechts.
Bis der IGH über die Klage Südafrikas gegen Israel entscheidet, werden Jahre vergehen. Bislang hält die Mehrheit der Richter den Anfangsverdacht für plausibel, dass Israel in Gaza einen Völkermord begehen könnte. Sie tun deshalb alles, um genau das zu verhindern – etwa mit einstweiligen Anordnungen, die von Israel militärische Zurückhaltung, einen effektiveren Schutz und eine bessere humanitäre Versorgung der palästinensischen Bevölkerung sowie ein Ende der Aufstachelung zum Völkermord fordern. Alle Vertragsstaaten der Genozid-Konvention sind verpflichtet, einen Völkermord in Gaza abzuwenden.
Neben dem IGH beschäftigt sich auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) mit dem Krieg in Gaza und den Angriffen vom 7. Oktober 2023. Der dortige Chefankläger lastet sowohl der Hamas als auch der israelischen Regierung Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an. Er forderte deshalb im Mai 2024 Haftbefehle gegen Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant sowie gegen drei Hamas-Führer, von denen nur noch Gaza-Chef Yahya Sinwar am Leben ist. Bislang hat der IStGH nicht über die Haftbefehle entschieden.
Fazit: Die in zahlreichen Berichten von UN-Gremien, Nichtregierungsorganisationen, Völkerrechtlern und Journalisten dokumentierten Hinweise auf Völkerrechtsverbrechen in Gaza verdichten sich, sind aber noch nicht gerichtlich bestätigt. Wer Israel in Gaza Völkermord vorwirft, sollte sich im Interesse einer sachlichen Debatte auf den IGH und die Genozidkonvention berufen und nicht auf den Holocaust verweisen.
Der Apartheid-Begriff als juristisches Instrument der Realitätsbeschreibung
Das Apartheid-Verbrechen gilt im Gegensatz zum Genozid definitorisch als ungenau, betonen Völkerrechtler wie der Göttinger Juraprofessor Kai Ambos. Der IStGH listet Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf, die Apartheid-Konvention von 1973 (die 109 Staaten weltweit ratifiziert haben) spricht von „unmenschlichen Handlungen, die zu dem Zweck begangen werden, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten und aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu unterdrücken“. Dabei stellt sich für Ambos die Frage, ob der israelisch-palästinensische Konflikt unter rein ethnischen Gesichtspunkten oder eher als „nationaler Konflikt zwischen israelischen Staatsbürgern und palästinensischen Nicht-Staatsbürgern“ zu verstehen sei. Werden die Palästinenser:innen aufgrund rassistischer Zuschreibungen als „andersartiges Volk“ unterdrückt oder gibt es andere Gründe, etwa das Ziel der illegalen Landnahme? Von der Antwort auf diese Frage hinge dann ab, ob zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die israelische Behörden in den besetzten Gebieten begehen, auch Apartheid zählt.
International wird der Begriff der „Rasse“ oder des Rassismus allerdings weiter ausgelegt. Juristen verweisen auf die Anti-Rassismus-Konvention der Vereinten Nationen, die von Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Abstammung, nationaler oder ethnischer Identität bzw. Zuschreibung spricht. Mit einem solchen umfassenderen Verständnis von „rassischer Gruppe" lässt sich der Begriff der Apartheid auch auf die Situation der Palästinenser:innen anwenden.
Im Gegensatz zum Genozid-Vorwurf, der erst mit dem Krieg in Gaza aufkam, ist die jahrzehntelange Diskriminierung der Palästinenser vielfach untersucht und belegt worden. Im besetzten Westjordanland und im annektierten Ostjerusalem verstößt Israel mit dem Bau von Sperranlagen und Siedlungen sowie der damit verbundenen Vertreibung palästinensischer Bewohner und Bauern seit Jahrzehnten gegen das Völkerrecht. Israelische Behörden behindern den Zugang der Palästinenser zu Land, natürlichen Ressourcen, Bildung und Gesundheitsversorgung. Sie beschränken ihre Bewegungsfreiheit, verwehren Baugenehmigungen und Möglichkeiten des Landerwerbs. In Ostjerusalem werden palästinensische Bewohner ausgebürgert, wenn sie als Sicherheitsrisiko gelten. Im Gegensatz zu Muslimen und Christen können Juden, deren Familien bis 1948 in Ostjerusalem gewohnt haben, Ansprüche auf dortige Häuser geltend machen. Dadurch kommt es immer wieder zu Zwangsräumungen. Eine dahinterstehende politische Absicht ergibt sich spätestens aus dem Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung, in dem sie Anspruch auf das gesamte Gebiet westlich des Jordans erhebt, ohne der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung gleiche Rechte zugestehen zu wollen.
Dass die Realität in den von Israel besetzten Gebieten eine institutionalisierte und auf Dauer angelegte Ungleichbehandlung der Palästinenser darstellt, ist inzwischen auch gerichtlich bestätigt. In seinem von der UN-Generalversammlung in Auftrag gegebenen Gutachten bezeichnete der IGH im Juli 2024 das Westjordanland, Ostjerusalem und Gaza als besetzt. Da das Vorgehen Israels auf eine Annexion abziele – insbesondere im Westjordanland, Ostjerusalem ist bereits seit 1980 annektiert – sei die israelische Besatzung insgesamt illegal, befand das Gericht. Es forderte Israel auf, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen, die Siedler zu evakuieren und Schadensersatz für begangene Rechtsbrüche zu bezahlen.
Zum Begriff der Apartheid äußerte sich der IGH nur implizit. Die Richter werteten die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung zwar als Verstoß gegen Artikel 3 der Rassendiskriminierungskonvention, ließen dabei aber offen, ob sie sich auf das Verbot der Rassentrennung oder der Apartheid bezogen.
Fazit: Im gesamten Gebiet Israel/Palästina existiert eine Einstaatenrealität, in der Israel sämtliche Grenzen, den Luftraum und die Ressourcen kontrolliert. Je nach Staatsangehörigkeit (israelisch oder palästinensisch), religiös-ethnischer Zugehörigkeit (jüdisch oder muslimisch-arabisch bzw. christlich-arabisch) und Wohnort – lebt die Person in Israel, in West- oder Ostjerusalem, in einem A-, B- oder C-Gebiet des Westjordanlandes oder im Gazastreifen – haben die Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedliche Rechte. Über diesen Zustand auch mit dem Begriff der Apartheid zu diskutieren, ist unter Völkerrechtlern und Menschenrechtsexperten selbstverständlich. Dabei sollte der Apartheid-Begriff der Beschreibung von Verbrechen im Rahmen eines institutionalisierten Systems der Unterdrückung dienen und nicht einer grundsätzlichen Delegitimierung des Staates Israel.
Die Vielschichtigkeit des Zionismus
Jahrzehntelanges Unrecht förderte auf palästinensischer Seite die Bereitschaft zu Widerstand und Terror. Nach dem Völkerrecht hat eine Bevölkerung unter „kriegerischer Besatzung“ das Recht auf bewaffneten Widerstand, solange sich dieser an das humanitäre Völkerrecht hält. Deshalb darf sich legitimer gewaltbereiter Widerstand gegen die bewaffneten Kräfte einer Besatzungs- oder Invasionsmacht richten, nicht aber gegen Zivilisten.
In Israel radikalisierten sich in der gleichen Zeit Politik und Gesellschaft, was den Blick vieler Menschen weltweit auf Israel veränderte. In ihren Augen hat sich die „sichere Heimstätte für das jüdische Volk“, die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ und ein säkularer, liberaler und weltoffener High-Tech-Staat auch zu einem „jüdisch-suprematistischen“ oder „weißen“, „kolonialen“ Siedlerprojekt entwickelt.
Im Zentrum dieser Kritik steht die Verbindung von Zionismus und Kolonialismus. Dabei machen es sich manche jedoch zu einfach. Sie leiten aus dem Ist-Zustand eine historische Kontinuität ab, die die zionistische Entstehungsgeschichte weitgehend ausblendet. Israel wird auf einen rassistischen kolonialen Staat reduziert, die Juden werden mit weißen Siedlern oder europäischen Imperialisten gleichgesetzt. Diese Zuschreibung blendet sowohl die innerjüdische Vielfalt aus – in Israel leben inzwischen mehr „orientalische“ Juden (Mizrachim) als „europäische“ Juden (Ashkenasim) – als auch die vielfältige Diskriminierungserfahrung des jüdischen Volkes. In Europa wurden Juden immer verfolgt, egal wie „weiß“ und assimiliert sie waren, aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas wurden Juden ab 1948 ausgewiesen, ab 1990 kamen viele russischsprachige Juden aus dem Gebiet der Sowjetunion nach Israel und innerhalb Israels waren die Mizrachim über Jahrzehnte sozioökonomisch benachteiligt und marginalisiert. Das Bild des Juden als weißer Kolonialherr ist deshalb nicht haltbar. Ein so pauschaler Antizionismus stößt auch liberale und regierungskritische Israelis vor den Kopf, für die der Zionismus als links-säkulare Befreiungsbewegung identitätsstiftend ist. Der Antisemitismusforscher Klaus Holz spricht deshalb vom „Doppelcharakter“ des Zionismus – er sei zugleich „Befreiungsnationalismus“ einer diskriminierten jüdischen Minderheit und „Verdrängungsnationalismus“ gegen die Palästinenser. Beim Gespräch über Zionismus hilft deshalb nur ein Sowohl-als-auch.
Der Zionismus entstand im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens in Europa. Sein Begründer Theodor Herzl entwickelte die Idee, aus den Juden eine Nation zu machen, die einen eigenen Staat braucht, um sicher zu sein. Dabei schwebte ihm ein säkularer Staat vor – ein Staat für Juden, nicht ein jüdisch-religiöser Staat.
Die frühen Zionisten seien „Kinder ihrer Zeit“ gewesen, also der Ära des europäischen Kolonialismus und Nationalismus, sagt der Historiker und Zionismusforscher Michael Brenner. Herzl habe von einem idealisierten Europa geträumt, das die jüdische Gesellschaft in Palästina aufbauen sollte – „mit englischen Internaten, französischen Opernhäusern und Wiener Kaffeehäusern“. Die jüdischen Einwanderer würden den einheimischen Arabern die „Errungenschaften der modernen Zivilisation“ bringen und deshalb von der lokalen Bevölkerung willkommen geheißen, glaubte Herzl.
Trotz dieses Überlegenheitsgefühls seien die Zionisten nicht mit britischen, französischen oder deutschen Kolonialisten gleichzusetzen, erklärt Brenner. Im Gegensatz zu Europäern in Afrika oder Amerika kamen die Zionisten nicht als Eroberer, sondern als Verfolgte. Und sie hatten als Juden einen jahrtausendealten Bezug zu dem Land, das sie ab Ende des 19. Jahrhunderts besiedelten.
Der Zionismus hat deshalb auch eine religiöse Komponente, die sich aus der historischen Sehnsucht speist, in das verheißene „Heilige Land“ zurückzukehren, aus dem die Juden einst vertrieben wurden. Allerdings lehnt ein Teil der ultraorthodoxen Juden den Zionismus ab, da aus ihrer Sicht nur der Messias den Staat Israel ausrufen kann. Deshalb sieht man in den USA mitunter seltsam anmutende antizionistische Protestaktionen ultraorthodoxer Juden mit palästinasolidarischen Aktivisten.
Im Gegensatz zu Herzls Vision einer Europäisierung Palästinas wollten andere Vertreter innerhalb der zionistischen Bewegung die europäische Assimilation der Juden verhindern. Sie wünschten sich in Palästina ein „geistiges und kulturelles jüdisches Zentrum“ mit Hebräisch als Alltagssprache und einer neuen säkularen jüdischen Kultur, das es auch den Juden in der Diaspora erlauben würde, an der eigenen jüdischen Identität festzuhalten.
Was aus europäischer Sicht nachvollziehbar erscheint, wurde vor Ort als ein koloniales Siedlungsprojekt wahrgenommen. Denn die zionistische Vision eines eigenen Staates erforderte eine Veränderung des demografischen Gleichgewichts. Die Besiedlung Palästinas ging deshalb von Anfang an mit der Verdrängung und Vertreibung von Teilen der palästinensischen Bevölkerung einher. Der amerikanisch-palästinensische Historiker Rashid Khalidi spricht in diesem Zusammenhang von den „ausdrücklich siedlungskolonialen“ Mitteln des Zionismus, auch wenn die Bewegung insgesamt „nicht nur Siedlerkolonialismus“ sei.
Der Zionismus machte aus der Religionsgemeinschaft der Juden also nicht nur ein Volk mit dem Wunsch nach einem für sie sicheren Land, sondern auch eine Nation mit dem Anspruch auf einen eigenen Staat. Aus diesem Selbstverständnis erwachsen zwei Widersprüche, aus denen sich der Antizionismus speist. Erstens kann ein Staat, der zwischen seinen jüdischen und nicht-jüdischen Bürgern unterscheidet und folglich bestimmte Rechte an die Religionszugehörigkeit knüpft, keine liberale Demokratie sein. Umgekehrt kann ein Israel, das alle Menschen auf seinem Staatsgebiet – auch Muslime und Christen – gleich behandelt, kein explizit jüdischer Staat sein. Antizionisten werfen dem Zionismus deshalb vor, Israel per Definition zu einem ethnonationalen jüdischen und damit undemokratischen Staat zu machen.
Der zweite Kritikpunkt wird von jüdischen Antizionisten geäußert – einer kleinen, aber wachsenden Gruppe innerhalb der Mehrheit jüdischer Menschen weltweit. Antizionistische Jüdinnen und Juden betonen, man könne zugleich jüdisch und gegen Israel als einen jüdischen Staat sein, ohne dessen Zerstörung oder die Vertreibung seiner Bewohner zu fordern. Antizionismus sei deshalb nicht per se antisemitisch, auch wenn es innerhalb der antizionistischen Bewegung durchaus Antisemitismus gebe. Sie kritisieren, der Zionismus erschwere es Juden, überall auf der Welt beheimatet zu sein und in Sicherheit zu leben, da er ihr Schicksal unwiderruflich mit dem Staat Israel verknüpft habe – einem Staat, dessen Politik sie zunehmend kritisieren oder ablehnen.
Am Zionismus scheiden sich auch deshalb so vehement die Geister, weil er mehrere Strömungen beinhaltet – von sozialistisch und liberal bis hin zu religiös und revisionistisch-nationalistisch. Die einen hören Zionismus und denken an links-kollektive Kibbuze; für sie ist der aktuell grassierende Antizionismus der neue Antisemitismus. Wer heutzutage Zionisten hasse, meine in Wirklichkeit die Juden in Israel, so das Argument. Die anderen sprechen von Zionismus und haben nationalistische Paramilitärs und radikale Siedler im Kopf; für sie ist ein Zionist deshalb automatisch ein Rassist und Nationalist. Daraus die Forderung einer „Dekolonisierung Israels“ abzuleiten, also einer Rückkehr der Zionisten nach Europa, ist jedoch problematisch. Denn die meisten jüdischen Israelis sind in Israel geboren und haben keinen Ort, an den sie zurückkehren könnten, oder sie haben in Israel Zuflucht gesucht vor Unterdrückung und wiederkehrenden Pogromen.
Fazit: Der Zionismus enthält sowohl Elemente des Kolonialismus als auch Elemente einer Befreiungsbewegung. Seinen Vertretern ging es nach Jahrhunderten der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Juden in Europa darum, einen sicheren Ort zu finden, einen eigenen Staat für die Juden als Nation und als historische Heimstatt zu gründen, die jüdische Kultur weiterzuentwickeln und zu erhalten und zu den religiösen Ursprüngen des Judentums zurückzukehren. Zu den Zielen und Mitteln gehörte zugleich, die arabische Bevölkerung zu „zivilisieren“ und in Teilen zu verdrängen. Die ganze Bandbreite der zionistischen Bewegung zu verstehen und die daraus resultierenden unterschiedlichen Wahrnehmungen anzuerkennen, hilft, Missverständnisse zu vermeiden.
Was tun gegen Antisemitismus? Den Kontext erkennen, nicht gesetzlich regulieren
Für eine sachliche Diskussion über den Nahostkonflikt dringend notwendig ist eine Verständigung beim Thema Antisemitismus. Der Begriff wird seit Jahren inflationär benutzt, ohne ihn inhaltlich ausreichend erfasst und interpretiert zu haben. Dabei geht es nicht darum, eine bestimmte Definition rechtlich festzuschreiben, sondern antisemitische Äußerungen und Taten im jeweiligen Zusammenhang zu erkennen. So zumindest sehen es die Autoren der beiden wichtigsten Definitionen von Antisemitismus – die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) aus dem Jahr 2016 und die der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA), die 2021 als Reaktion darauf verfasst wurde.
Keiner der beiden Texte erhebt den Anspruch auf juristische Verbindlichkeit – im Gegenteil. Ihre Verfasser – international tätige Wissenschaftler im Bereich der Antisemitismus- und Holocaustforschung, der Jüdischen Studien sowie der Israel-, Palästina- und Nahoststudien – sprechen von „Arbeitsdefinitionen“, die nicht als Vorlage für Gesetze gedacht seien, sondern ein besseres Monitoring von Antisemitismus in sich verändernden Kontexten ermöglichen sollten.
Der definitorische Kern – Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden, weil sie Juden sind – ist dabei unstrittig. Beide Dokumente erkennen außerdem an, dass Antisemitismus sich auch in Feindseligkeit gegenüber Israel und dem Zionismus manifestieren kann. Doch während die IHRA-Definition in diesem Punkt vage bleibt, unterscheidet die JDA zwischen antisemitischer und nicht antisemitischer Kritik an Israel. Sie formuliert Leitlinien, die bei der Interpretation der IHRA-Definition helfen sollen.
Der IHRA-Definition sind Beispiele beigefügt, die je nach Auslegung auch legitime Kritik an israelischer Politik beinhalten können. Die Jerusalemer Erklärung betont dagegen, Feindseligkeit gegenüber Israel könne „Ausdruck eines antisemitischen Ressentiments sein, aber auch eine Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzung oder eine Emotion, die eine palästinensische Person aufgrund ihrer Erfahrungen“ mit staatlichen Institutionen Israels empfindet.
Bestimmte Äußerungen zum Nahostkonflikt, die derzeit vielfach zu hören und zu sehen sind, werden deshalb unter Verweis auf die beiden Dokumente unterschiedlich bewertet. Gemäß der Jerusalemer Erklärung, der sich 350 Wissenschaftler:innen angeschlossen haben, ist es nicht per se antisemitisch, den Zionismus als eine Form von Nationalismus abzulehnen, auf systematische rassistische Diskriminierung mit dem Begriff der Apartheid hinzuweisen, gängige und gewaltfreie Formen des politischen Protests wie Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) zu nutzen oder für unterschiedliche verfassungsrechtliche Lösungen in dem Gebiet „from the river to the sea“ einzutreten und Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen zwischen Jordan und dem Mittelmeer volle Gleichberechtigung zugestehen, „ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer“.
Der letzte Punkt wird von Fachleuten kritisiert, da die JDA die Kompromisslosigkeit mancher antizionistischer Aktivist:innen bei der Forderung nach einer „Befreiung ganz Palästinas“ nicht ausreichend beachte und den Schutz jüdischer Israelis dadurch vernachlässige. Laut JDA reicht es, jüdischen Menschen das Recht zu garantieren, in Israel oder Palästina „kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben“, damit Forderungen nach einer Auflösung Israels als nicht per se antisemitisch gelten. Dabei übersehe die JDA den „eliminatorischen Antizionismus“, der „die Eliminierung Israels über den Wunsch nach dem friedlichen Zusammenleben beider Völker“ stelle, schreibt der Heidelberger Nahostwissenschaftler Tom Khaled Würdemann. Die Vertreter des eliminatorischen Antizionismus würden Kompromisse wie die Zweistaatenlösung ablehnen und für die Errichtung eines multireligiösen Palästinas auf der – auch gewaltsamen – Auflösung Israels bestehen. Ebenso verfolgt die Hamas bis heute das Ziel einer vollständigen Befreiung Palästinas „vom Fluss bis zum Meer“, was als klare Absage an eine Zweistaatenlösung verstanden werden muss. Wer für ein freies Palästina im Sinne einer Einstaatenlösung wirbt, sollte deshalb dem Prinzip nach auch mit einem gleichberechtigten Nebeneinander zweier souveräner Staaten einverstanden sein.
Vor dem Hintergrund der IHRA- und JDA-Definitionen erscheint Deutschlands Umgang mit Antisemitismus wenig zielführend. Seit Jahren versuchen verschiedene Bundesregierungen, berechtigte Kritik an israelischer Politik und legitime Forderungen in dem politischen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern unter Verweis auf die IHRA-Definition als antisemitisch zu kennzeichnen und mit Hilfe von Verordnungen zu verbieten. Dabei erweisen sich Vorstöße wie der Bundestagsbeschluss zur BDS-Kampagne von 2019 oder das im November 2023 vom Bundesinnenministerium verhängte Verbot des Slogans „From the river to the sea“ als rechtlich nicht haltbar.
Mehrere deutsche Juristen haben im Dezember 2023 in einer Stellungnahme erklärt, warum die IHRA-Definition nicht als Regulierungsinstrument tauge. Wenn nicht mal die Wissenschaft einig sei, könne erst recht nicht der Staat vorschreiben, was Antisemitismus sei, argumentieren sie. Die elf Anwendungsbeispiele seien nicht Teil der Definition, würden aber trotzdem so behandelt, obwohl die IHRA selbst darauf hinweise, dass nicht jedes dort genannte Verhalten automatisch antisemitisch sei. Außerdem zeige die bisherige Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition, dass sie oft „sehr extensiv“ und auch gegen jüdische Gruppen eingesetzt werde, so die Rechtsexperten.
Tatsächlich ist der Vorwurf des Antisemitismus mit Hilfe der IHRA-Arbeitsdefinition zum politischen Instrument einer pro-israelischen Lobby geworden, die jede unliebsame Kritik zu delegitimieren versucht und damit dem Kampf gegen Antisemitismus erheblich schadet. Menschen, die gegen den Krieg in Gaza demonstrieren, sich mit Palästinensern solidarisieren, die israelische Politik kritisieren und das Völkerrecht hochhalten, werden persönlich angegriffen, gezielt verleumdet und pauschal diffamiert – auch, wenn sie jüdisch sind. Selbst jene, die das Recht auf Meinungsfreiheit dieser Menschen verteidigen, ohne sich inhaltlich mit ihren Positionen gemein zu machen, werden des Antisemitismus beschuldigt.
Gegen diese Instrumentalisierung wehrt sich auch Kenneth Stern, der Haupt-Autor der IHRA-Definition. Er beklagt seit Jahren, seine Arbeitsdefinition werde von Rechtsextremen als Waffe missbraucht, um Wissenschafts- und Meinungsfreiheit einzuschränken und pro-palästinensische Stimmen zu unterdrücken. Seine Definition sei nie dazu gedacht gewesen, die Meinungsäußerung auf einem College-Campus zu unterbinden, sagt Stern in einem im März 2024 veröffentlichten Artikel des New Yorker. Die weltweiten Versuche, aus den in der IHRA-Definition genannten Beispielen Verordnungen oder Gesetze abzuleiten, schaden seiner Ansicht nach nicht nur „pro-palästinensischen Aktivisten“, sondern auch jüdischen Studierenden und Lehrkräften.
In den mehr als 40 Ländern, die sich der IHRA-Definition angeschlossen haben, hat sich der Fokus von der „klassischen“ Judenfeindlichkeit auf den israelbezogenen Antisemitismus verschoben. Dieser Entwicklung liegt die These zugrunde, dass sich der Antisemitismus heute vor allem im Gewand der Israel-Kritik zeigt. Im Zentrum des Kampfes gegen Antisemitismus steht seitdem nicht mehr das anti-jüdische Verschwörungsnarrativ, sondern die Kritik an Israel und am Zionismus. Das erklärt, warum ein Hubert Aiwanger trotz Nazi-Flugblättern im Schulranzen wiedergewählt wird, während Studierende mit palästinensischen Flaggen oder Tüchern als antisemitisch beschimpft werden.
Rechtsnationalistische Politiker in Europa nutzen den israelbezogenen Antisemitismus, um gegen migrantische und muslimische Personen als „wahre Antisemiten“ zu hetzen und sich selbst mit offen zur Schau gestellter Loyalität gegenüber der Regierung Netanjahu vom Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen. Netanjahu verbündet sich mit rechtsextremen Politikern wie Ungarns Präsident Viktor Orban und Italiens stellvertretendem Ministerpräsidenten Matteo Salvini und ignoriert dabei deren offen antisemitische Haltungen. Hauptsache, sie unterstützen seine Politik und teilen ähnliche autoritäre und ethno-nationalistische Vorstellungen.
Die bedingungslose Solidarität mit einer teils rechtsextremen israelischen Regierung ist so zur Wunderwaffe gegen Antisemitismus geworden. Mit dem Argument der Staatsräson verfolgen in Deutschland fast alle Parteien diese Strategie – AfD und CDU/CSU machen dabei zugleich Stimmung gegen Muslime, SPD, Grüne und FDP tun sich schwer, ihre Solidarität genauer auszudifferenzieren. Stehen sie an der Seite des israelischen Volkes, der israelischen Demokratiebewegung oder wie bisher vor allem an der Seite der israelischen Regierung?
Menschenfeindliche extremistische Positionen hierzulande zu bekämpfen und in Israel zu unterstützen wirkt kontraproduktiv und trägt am Ende überall zum Aufstieg rechtsradikaler Kräfte bei. Von einem Klima der Angst und Ausgrenzung sowie einer Spaltung der Gesellschaft profitieren stets Extremisten – ob islamistische oder nationalistische.
Der Fokus auf den israelbezogenen Antisemitismus erweist sich folglich als kontraproduktiv – erst recht in einer Zeit, in der Israel wegen Kriegsverbrechen, Genozid und Apartheid angeklagt ist und von einer Regierung mit zum Teil faschistischen Positionen regiert wird. Wer Kritik an Israel allzu leichtfertig als antisemitisch bezeichnet, fördert genau jene Gleichsetzung von Juden mit Israel, die es im Kampf gegen Antisemitismus zu vermeiden gilt.
Gleichzeitig ist es wichtig, Menschen mit Migrationsgeschichte, Musliminnen und palästinasolidarische Aktivisten für israelbezogenen Antisemitismus zu sensibilisieren. Jüdische Menschen kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen, ist laut JDA genauso antisemitisch, wie den Holocaust zu verharmlosen oder die Vorstellung einer jüdischen oder zionistischen Verschwörung, in der Juden oder der israelische Staat eine geheime Macht ausübten. Auch Menschen, weil sie jüdisch sind, aufzufordern, Israel oder den Zionismus öffentlich zu verurteilen, ist eindeutig antisemitisch – ebenso wie Synagogen anzugreifen, Hakenkreuze auf jüdische Gräber zu schmieren oder Wohnungen von jüdischen Menschen mit Davidsternen zu kennzeichnen. Aufrufe zu Gewalt und Hetze sind in Deutschland generell verboten – egal gegen wen sie sich richten, darunter fällt auch das Markieren von Personen mit roten Dreiecken, wie es die Hamas aktuell mit israelischen Zielen macht.
Fazit: Angesichts der Tatsache, dass sich jüdische Menschen in Deutschland nicht sicher fühlen – an Universitäten, in bestimmten Stadtvierteln, in öffentlichen Verkehrsmitteln –, muss Antisemitismus effektiver bekämpft werden. Dafür sollte man besser erklären, wo israelbezogener Antisemitismus beginnt und gleichzeitig eine offene Debatte über die Zukunft Israels und Palästinas ermöglichen. Wenig hilfreich für einen differenzierten Austausch ist dagegen, Solidarität mit palästinensischen Menschen und Kritik an Israel pauschal als antisemitisch zu bezeichnen.
Ein tieferes Verständnis von Genozid, Apartheid, Kolonialismus, Zionismus und Antisemitismus ist für die aktuellen Diskussionen grundlegend. Außerdem hilft der Versuch, sich in die Lage sowohl israelischer als auch palästinensischer Menschen hineinzuversetzen in der ehrlichen Absicht, ihre jeweiligen Gefühle und Sichtweisen zu verstehen. Gerade nicht persönlich betroffene Menschen in Deutschland sollten mit allen zivilen Opfern dieses Konflikts mitfühlen können – holen wir ihn endlich wieder hervor, unseren Kompass der Menschlichkeit.