Zwei ausgewählte Gedichte aus dem Gedichtband "Ich habe den Zorn des Windes gesehen" von Mariam Meetra.

Leseprobe aus "Ich habe den Zorn des Windes gesehen" von Mariam Meetra, erschienen 2023 im Wallstein Verlag
Abschiedsbrief
Mariam Meetra
Übersetzung: Susanne Baghestani
Bevor ich meine Einsamkeit in Koffer packte
und in diese Stadt mitbrachte,
war das Leben nicht eine unbehauste namenlose Frau.
Ohne deine Hände zu schütteln,
ohne diesen Brief auf deinem Tisch
oder zwischen deinen Büchern,
verschloss ich mein Zimmer,
jenes ängstliche schlaflose Zimmer,
verschreckt von ständigen Explosionen.
Ich weiß,
zweifelnd bin ich hergekommen,
zweifelnd küsse ich dich,
zweifelnd liebe ich dich.
Einsamkeit kennt keine Grenzen,
um sie in einer anderen Stadt zu lassen;
hier schläft sie jede Nacht neben mir
und lässt mich nicht an dich denken.
Keiner Straße versprach ich zu bleiben,
damit sie nicht meine Rückkehr erwarte.
Diese Stadt ist eine kleine Herberge,
die so viel Einsamkeit nicht erträgt.
Erinnere Dich an mich
Mariam Meetra
Übersetzung: Susanne Baghestani
Ich bin gerannt
die ganze schlaflose Straße entlang,
sie führte nicht zu meinem Haus.
Ich schrecke auf aus dem Schlaf,
voll unfertiger Gedichte,
jeden Morgen
in einer anderen Stadt.
Als sei ich durch alle Straßen der Welt gerannt,
abwärts … auf dieser fremden Straße.
Noch immer fürchte ich
den Ansturm des Windes auf mein Haar,
den Schatten, meinen Begleiter im Sonnenlicht,
den rastlosen Regen auf meinen Schultern.
Der Ort, an dem ich stehe,
gleicht keiner Erinnerung,
keinem Traum,
ich habe ein trübes Gedächtnis,
das meine Träume
vergehen lässt.
Als käme ich vom fernsten Punkt der Erde,
als würden meine Erinnerungen
weitab, unerreichbar
anderswo vergessen.
Das Gedächtnis der Welt wird bedrohlicher,
es ängstigt mich …
Eine seltsame Vergesslichkeit
hat unsere Welt erfasst.
Erinnre dich an mich,
bevor ich mich in eine traurige unbekannte Frau verwandle,
eingehüllt in stumme Schichten des Vergessens.
Behalt mich im Gedächtnis!
Eine Traurigkeit
durchzieht all meine Tage,
die mir fremd ist.